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- 22.10.2004
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Nordpol und Antarktis
„Wollen wir ans Meer fahren?“, fragt er mich und ich stehe nur da, schaue ihn an und überlege, was für eine Antwort ich geben soll, was er erwartet. Er hat mich angesprochen auf dem Weg über den Schulhof, den wir in entgegengesetzten Richtungen zurücklegen, jeder mit einem anderen Ziel. Schweigend aneinander vorbei, so viele Male schon. Ich senke den Blick, wenn ich ihn von weitem kommen sehe, denn sonst könnte ich seinen eisblauen Augen begegnen, die mich so verwirren. Ich sehe zu Boden und schaue auf seine rotbraunen Stiefelspitzen, die bei jedem Wetter sauber glänzen, und ich gehe an ihm vorüber wie er an mir. Solange unsere Blicke sich nicht kreuzen, kann ich für ihn unsichtbar sein. Das weiß ich. Das will ich auch. Ich bin mir eigentlich sicher gewesen, dass er meinen Namen lange vergessen hat. Aber da habe ich mich geirrt. Denn heute hat er mich angehalten und meinen Namen gesagt mit seiner rauen Stimme. Hat mich festgenagelt mit seinem Blick, ganz beiläufig. Und dann diese Frage: ebenfalls beiläufig, so als würde er sich nach der Uhrzeit erkundigen.
„Wollen wir ans Meer fahren?“
Und ich stehe da und schaue ihn an.
„Warum denn ans Meer?“, sage ich. Ich sollte wohl fragen: Warum mit dir?
Aber das wäre zu einfach. Ohnehin gibt es auf beide Fragen nur eine Antwort, und er spricht sie aus: „Warum nicht?“ Ich starre ihn weiter an.
Er lässt mich nicht aus den Augen, verlagert nur leicht das Gewicht, umfasst den Riemen seines Rucksacks. „Es ist Frühling“, setzt er erklärend hinzu.
Frühling, das stimmt, und ich habe es bereits bemerkt. Über Nacht hat der Winter sich davongestohlen. Stattdessen ein Geruch nach Milde und Morgen. Der Tag hat mit einem blauen Himmel begonnen, der sein Leuchten in die Stadt hinabzuatmen scheint. Zum ersten Mal seit vielen Wochen ist der Wind sanft und trägt die Wärme der Sonne mit sich. Es ist ein Morgen, an dem ich mich leicht fühle, und meine Füße sind auf dem Schulweg gehüpft. Mein ganzer Körper jubelt auf seine Art dem Frühling entgegen. Aber Matteo – meine Güte, woher kann er denn das wissen?
„Wann denn?“, frage ich schließlich.
Matteo zuckt die Achseln. „Jetzt gleich.“
Ich könnte jetzt auch sagen, dass das völliger Unsinn ist. Dass wir Schule haben. Dass ich ihn doch kaum kenne. Dass er das ohnehin nicht ernst meint.
Ich könnte ihn abwehren.
„Nicht ans Meer“, antworte ich.
„Sondern?“
Ich hebe die Schultern. „Irgendwohin“, sage ich und weiß, dass ich jetzt doch gelächelt habe, zumindest mit den Augen, dabei wollte ich doch stark sein. Matteo lächelt zurück, ganz leicht. „Gut. Dann komm.“
Er fragt nicht mal, ob mir die Musik gefällt, er dreht sie einfach auf. Irgendetwas mit E-Gitarren und Bässen. Als er den Motor startet, kommt mein Geschichtslehrer über die Straße, dreht sich beiläufig um, sieht mich. Seine Augen werden groß. Er wird mich heute wohl vermissen.
Vielleicht sollte ich etwas zu Matteo sagen. Dass ich die Musik nicht mag, etwa, oder dass ich wissen will, was das Ganze soll. Stattdessen lehne ich mich zurück und schaue aus dem Fenster. In meiner Magengrube kribbelt es. Nach Aufbruch und Abenteuer. Ich werfe einen Seitenblick auf Matteo.
Matteo Katorz. Energische Brauen, kurzes blondes Haar, alles an ihm kommt mir kantig und spitz vor. Er hüllt sich in eine Wolke aus Selbstgerechtigkeit, seine Arroganz weht wie ein loser Schleier hinter ihm her. Er läuft meist nach vorne gebeugt, eine Hand am Riemen seines Rucksacks, der betont lässig auf seinem Rücken hängt. Er scheint permanent im Begriff, sich irgendetwas, irgendjemandem entgegenzusetzen. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, er ist einer von denen, die sich sehr in der Rebellenrolle gefallen. Einfach, weil sie jemand sein wollen.
Er ist ein Abziehbild, das ist mir schnell aufgefallen. Die Straßen sind voll von Typen wie ihm. Wie oft habe ich schon geglaubt, ihn irgendwo zu sehen: an der Bushaltestelle, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in der Bahn. Dabei war es ein anderer aus der gleichen Gussform. Dieser ausgebeulte grüngraue Rucksack, die schwarze Jacke, die glänzenden Stiefel, die dunkle Mütze, das haben sie alle. Ich würde sie normalerweise miteinander verwechseln, aber diesen Blick hat nur er, dieser Blick ist ja überhaupt der Grund, weshalb er mir aufgefallen ist. Dieser verdammte stechende Blick, diese stahlblauen Augen, die in der Seele brennen, unter denen man sich wie aus Glas fühlt. Ich hasse ihn für diesen Blick, denn der hat mich damals eingeschüchtert. Mit diesem Blick hat er meine Gedanken kaputtgeguckt. Als ich begriffen habe, dass auch er nur mit Wasser kocht, war es schon zu spät. Unsere Wege haben sich einmal kurz gekreuzt, das war es dann, und das war auch gut so. Seitdem gehen wir aneinander vorbei und kennen uns nicht. Besser so. Wenn er am Nordpol wohnte, müsste ich in die Antarktis, so weit sind wir voneinander entfernt. So ist es bis eben gewesen. Aber jetzt sitze ich in seinem Auto, es ist Frühling, wir fahren irgendwohin und ich stelle keine Fragen. Einer von uns beiden, das ahne ich, muss irgendwie verrückt sein.
Matteo zieht kurz die Augenbrauen hoch, als ich schließlich die Musik leise drehe.
„Ist nicht mein Fall“, erkläre ich knapp.
„Tja, Pech“, gibt er zurück und schaut konzentriert auf die Straße.
Ich hole Luft.
„Machst du das öfter?“
Aus den Augenwinkeln sehe ich ihn grinsen.
„Was?“
„Spontane Spritztouren ans Meer, mit Mädchen, die du gar nicht kennst!“
„Wieso, ich kenne dich doch.“
„Aber du hast gar nichts mit mir zu tun.“
Sein Grinsen wird breiter.
„Und du, fährst du öfter mit Typen wie mir mit?“
„Klar. Jedes Jahr zu Frühlingsanfang.“
Matteo schaut mich von der Seite an.
„Wenn du nicht ans Meer willst, weiß ich, wo wir sonst hinkönnen“, sagt er.
Die Stadt ist verschwunden, weggeatmet von der Landschaft. Noch ist der Boden braun und hart, aber ich kann erstes Grün leuchten sehen, helle Flecken im Vorbeifahren, überall erwachende Farbkleckse, und das macht mich glücklich. Wir sind von der Autobahn runtergefahren, ich weiß gar nicht, wie spät es ist, aber als ich das Fenster aufkurbele, riecht es nach Frühling, nach Mittagssonne und nach der Landschaft.
„Ich könnte heut gar nicht Schule machen“, sage ich und sehe, wie er nickt. Wir holpern dahin auf grobem Kopfsteinpflaster. Das Dorf liegt da wie an einem schläfrigen Sommertag. Das bringt mich auf die Idee, dass heute gar nicht heute ist, sondern dass wir durch die Zeit gefahren und an einem Punkt in der Vergangenheit angekommen sind, auf einer festen Insel mitten im Strom, und hier können wir bleiben, solange wir wollen. Die Zeit wird an uns vorbeilaufen, während wir uns hinter ihr versteckt haben. Der Gedanke gefällt mir. Matteo parkt auf einem Sandplatz zwischen Dorf und Landschaft, und ich springe nach draußen und atme ganz tief ein.
„Schön!“, rufe ich in den leuchtenden Himmel. Matteo steigt aus und lächelt. Es wirkt fast nachsichtig.
„Willst du was trinken gehen?“, fragt er und nickt in Richtung Dorf. Ich ahne, dass es dort irgendwo ein kleines Café geben wird, mit hausgemachtem Kuchen und einer winzigen Terrasse an der Hauptstraße, auf der das erste Mal in diesem Jahr Plastikstühle stehen.
„Nein, ich will spazieren gehen“, antworte ich. Ein Sommerwald würde mir jetzt gefallen, tiefgrün und mit den goldenen Lichtsprenkeln verirrter Sonnenstrahlen auf dem Moos, aber noch ist nicht Sommer, noch schläft der Wald, und die Sonne bringt die Reste des Herbstlaubs zum Knistern. Dafür gibt es einen Weg durch die Landschaft. Kühler Lehm zwischen den müden Gräsern, die der Winter ausgebleicht hat bis aufs Letzte. Wir gehen nebeneinander, die Jacken geöffnet. Irgendwo zwitschert es in den kahlen Ästen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, sagt man, aber eine Amsel macht schon ein bisschen Frühling, denke ich.
„Na ja!“, sagt Matteo skeptisch und da weiß ich erst, dass ich es ausgesprochen habe.
„Freust du dich gar nicht über den Frühling?“, frage ich ihn.
Wieder dieses Grinsen.
„Dann säße ich jetzt in der Schule.“
„Wärst du wirklich mit mir ans Meer gefahren?“
„Du wolltest ja nicht.“
„Wer weiß, wann wir da gewesen wären.“
Der Weg macht eine Biegung, und ich weiß, dass hinter diesem Hügel, hinter dem Waldsaum, einen See geben muss.
Ich könnte Matteo Fragen stellen, ganz logische, normale Fragen, an die ich vorhin schon gedacht habe. Mir ist nur, als ob das gegen die Regeln wäre. Ich muss andere Fragen suchen.
„Warst du schon öfter hier?“
„Meine Großeltern wohnen hier in der Nähe. Und du?“
„Ich weiß gar nicht, wo wir sind. Aber es ist schön.“
Wieder dieses Schweigen, während wir langsam bergab gehen und ich fühle, wie wir dem Wasser näher kommen. Er ist dran, etwas zu sagen, beschließe ich und vergesse ihn für einen Moment. Nur die Umgebung ist noch da. Ich sauge sie ein, mit allen Sinnen. Der See liegt plötzlich vor uns, genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe, eine dunkel glitzernde Wasserfläche. Am andern Ufer das Dorf, schlafende Boote dümpeln am Holzsteg, das unvermeidliche Eiscafé hält noch Winterschlaf. Ich hätte noch Schwäne erhofft, aber es gibt keine.
„Find ich ja interessant, dass du mitgekommen bist“, sagt Matteo plötzlich. „Ich dachte, du machst so was nicht.“
„Warum hast du mich überhaupt gefragt?“
Zum ersten Mal seit dem Losfahren sehen wir uns an, durchdringen sich unsere Blicke.
„Ich wollt’s einfach mal probieren.“
Ich schaue ihn weiter an und möchte immer tiefer hinein in seine furchtbaren blauen Augen, einfach weil Frühling ist. Ich frage mich, ob er weiß, wie sehr mein ganzer Körper den Frühling leben möchte. Vielleicht weiß er es besser als ich. Ich höre das leise Glucksen des Wassers, das am Ufer leckt. Als ob es uns belauscht und noch näher heranmöchte.
„Und jetzt?“, frage ich.
Er mustert mich, scheint abzuwägen, zu prüfen. Ich sollte nicht wünschen, dass er mich anrührt. Aber ich will ihm in die Falle gehen. Wenn er sie aufstellt.
„Weißt du schon, was du machst, wenn du fertig bist?“ Er bückt sich und sucht nach flachen Steinen. Es gibt ein paar, feucht vom Winter. Natürlich kann einer wie Matteo sie springen lassen. Fünfmal zähle ich das helle Geräusch auf der Wasseroberfläche, betrachte die Ringe, die sich ausbreiten, und weiß ohne hinzusehen, dass Zufriedenheit aus seinen Augen leuchtet. Seine Frage erinnert mich daran, wie nah die Zukunft ist.
„Studieren, vermutlich“, antworte ich und vergrabe die Hände in den Jackentaschen. Zwischen zwei Steinen wirft sein Blick mir eine stumme Aufforderung zu, aber warum sollte ich deutlicher werden? Ich schaue wieder aufs Wasser, auf die Ringe, und fahre fort: „Und reisen werde ich. So viel wie möglich.“
Er hat keine Steine mehr, bleibt aber hocken. Ich stelle mich neben ihn. „Und du?“
„Ich hab ja noch Zeit“, entgegnet er ausweichend. „Was soll man planen in diesem blöden Staat?“
Ich weiß, woran er denkt. Trotzdem frage ich: „Wie meinst du das?“
„Schau dich doch um. Fünfzehn Jahre Einheit und wir im Osten sind noch immer der letzte Dreck.“ Er schaut zu mir hoch. Nein, ich möchte nicht, dass er davon anfängt. Ich weiß, dass er in Ost und West denkt, dass ihn vieles ärgert, ich weiß mehr davon als er ahnt, und ich möchte es nicht hören, denn jetzt ist Frühling und wir sind hier und all das gehört nicht zusammen.
„Interessiert dich das gar nicht?“ Sein Blick ist streng, vorwurfsvoll.
„Anders als dich“, sage ich leise. „Wir sind eine neue Generation, Matteo. Für uns sollte es immer vier Himmelsrichtungen geben.“
Er steht auf, schüttelt leicht den Kopf.
„Du kannst ruhig Matti sagen“, meint er unbeeindruckt.
Matti, ja. So nennen sie ihn alle, so hat er sich damals selbst vorgestellt. Ich begreife es nicht ganz. Matteo ist ein schöner Name, finde ich. Und Matti – das hat etwas Kosendes, Verniedlichendes, das nicht ganz zu ihm passt. Und vertraut klingt es. Wie kann ich das zu ihm sagen, ich kenne ihn doch kaum.
„Und wie meinst du das mit den Himmelsrichtungen?“
„Es kann doch nicht sein, dass es für dich heute noch wichtig ist, ob deine Lehrer, deine Freunde oder wer auch immer aus dem Osten oder aus dem Westen kommen. Ost und West, das haben wir doch gar nicht richtig erlebt.“
„Aber es gibt Unterschiede.“
Ist das Absicht, dass er sich immer näher an mich heranschiebt?
„Klar. Aber wie sollen die weggehen, wenn du sie extra betonst.“
„Man muss doch was dagegen tun!“
Ich tippe an seine Stirn. Weit muss der Finger nicht, denn Matteo steht jetzt ganz dicht vor mir.
„Hier fängt es an“, sage ich. Es ist egal, ob er mich versteht. Ich schaue ihn an, und zum ersten Mal kann ich ihn auch riechen. „Und heute will ich davon nichts hören“, setze ich hinzu. „Es ist Frühling.“
Ich habe einen Schritt rückwärts gemacht, vorsichtshalber. Matteo hat verstanden. Wir gehen weiter, weg vom See, weg vom Dorf, der Wind bringt den Geruch des Waldes mit, ganz jung noch. Ich hätte so gerne, dass dieser Tag ohne Rahmen ist, dass wir wirklich an einem Ort ohne Zeit und Namen sind, dass das Wo keine Rolle spielt. Ich hätte so gerne alles fließend und losgelöst, und gleichzeitig will ich wissen, wer Matteo ist, was hinter der Oberfläche steckt, die ich kenne, und ich möchte es auch nicht wissen, weil es doch nichts sein kann, was mir gefallen würde, was ich nicht schon erahnen könnte. Und ich möchte über das Leben nachdenken und die Träume und nicht über diese bösen konkreten Sachen, die für Matteo so wichtig sind.
„Hast du einen Freund?“, fragt er plötzlich.
„Was geht dich das an?“
Jetzt bleibt er stehen, seine Hand streift meine, und ich muss auch anhalten.
„Nur so“, sagt er, und ich spüre seine Hände um meine Taille und lasse mich an ihn ziehen und ärgere mich, denn ich möchte keine sein, mit der es so einfach geht, die man so einfach bekommt, nur weil gerade Frühling ist. Aber ich will ja. Ich will ja so sehr. Und ich lasse zu, dass er mich umfasst und küsst, ich tue noch mehr, mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen, halte mich an ihm fest und gebe zurück und möchte ihn zu Boden ziehen, auch wenn es dort kalt und hart ist.
„Das geht doch nicht“, flüstere ich ihm ins Ohr. Bestimmt glaubt er mir noch weniger als ich. Tatsächlich muss er grinsen.
„Und warum nicht“, antwortet er und ich bin ganz sicher, da ist kein Fragezeichen. Wir schauen uns in die Augen, Stirn an Stirn, und mein Leuchten spiegelt sich in seinen.
„Ich will weitergehen“, sage ich und umklammere seine Hand. Ja, es ist Frühling, in meinem Körper sind die ersten Knospen aufgegangen. Und wir gehen fort vom See, Hand in Hand.
Da ist ein alter Gutshof, ein Backsteinbau, heute natürlich für Touristen, mit einem kleinen Buchladen und Blumenkübeln im Hof und einem kleinen Lokal. Im Schatten des Hofes ist es fast kalt. Ich möchte in den Buchladen. Ich möchte immer in Buchläden. Allerdings kann ich nichts kaufen, mein Portemonnaie ist noch in der Mappe, und die liegt bei Matti im Auto.
Matti, verdammt. Jetzt bin ich auch schon so weit.
„Schau mal“, sagt er und hält mir ein Buch hin, sandfarbenes Leder und weiche, linierte Seiten, ich rieche daran und mag es.
„Soll ich dir das kaufen? Du schreibst doch.“
Er amüsiert sich, als meine Augen groß werden, nimmt mir das Buch aus der Hand und geht zur Kasse.
„Woher weißt du das?“, rufe ich ihm noch nach, komme mir jämmerlich durchschaut vor.
Matti grinst nur, als er mir das Geschenk in die Hand drückt, das schöne weiche Lederbuch in einer Plastiktüte, die mit dem Namen des Gutshofs und einer alten Radierung bedruckt ist. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange, spüre dabei die Blicke der anderen Kunden, der Kassiererin, meine eigene Röte im Gesicht. Es ist alles so neu und unsicher.
„Das wissen doch alle, dass du schreibst“, sagt Matti, als wir wieder draußen sind. Ich verstaue die Buchtüte in meiner Jackentasche, sie ist gerade groß genug. Wenn ich wieder zu Hause bin, wird es der Beweis sein, dass es diesen Tag gegeben hat. Dass es uns gegeben hat. Ich weiß nicht, wieso, aber ich bin irgendwie sicher, dass wir beide nicht für die Ewigkeit sind, sondern nur für ein paar Momente, während die Zeit stehen bleibt.
„Was weißt du noch über mich, Matti?“
Er spielt mit meinen Händen und erzählt mir, wer ich bin. Ich staune schweigend. Da ist vieles, was er nicht wissen sollte, anderes, was ich selbst nicht gewusst habe.
„Du schreibst, du liest, du lachst. Das machst du mehr als alles andere. Wenn ich an der Pause an der Stelle vorbeikomme, wo du mit deinen Freunden stehst, dann höre ich dich meistens gerade lachen. Du magst Sprachen. Du blätterst gerne in Atlanten. Du sagst lustige Sachen, damit niemand merkt, wie schüchtern du eigentlich bist. Du stehst oft ganz verloren in offenen Türen. Du träumst. Du weichst aus. Das solltest du ändern. Du musst auch mal auf deine Probleme zugehen.“
Woher er das weiß. Ich höre mich flüstern, aber Matti lächelt nur; verraten wird er mir das nicht.
„Und du bist eigentlich überhaupt nicht mein Fall“, sagt er noch.
„Du meiner auch nicht“, antworte ich. „Du liegst mir gar nicht.“
Wir strahlen uns an.
Es sind Schleierwölkchen am Himmel. Aber sogar sie sind weißer als ihre Wintergeschwister. Matti und ich tanzen auf dem Weg ins Dorf: wir können es beide nicht, doch man muss es einfach tun, schließlich ist Frühling. Wir lassen uns auf den Boden fallen, ich spüre eine Kälte, die von ganz tief aus der Erde kommt, die ganz langsam weggeschmolzen werden muss. Vielleicht könnten wir beide sie wegschmelzen. Ich lege meinen Kopf auf Mattis Brust und spüre ein Pochen. Das ist er, denke ich. Seine Hand fährt mir durchs Haar. Nie hätte ich mir vorgestellt, dass er so etwas tut. Dass er sanft genug dazu ist.
„Wir müssten nicht nach Hause fahren“, murmelt er. „Wir könnten einfach verschwinden.“
„Wohin?“, frage ich und taste nach seiner Hand. Ich will nur, dass er weiterdenkt.
„Ich weiß nicht. Wir könnten nach Rom. Warst du schon dort?“
Ich nicke, schließe die Augen, sehe die Stadt in blassgoldenem Licht zu Füßen des Palatin, eine vergilbte Fotografie, aber eine, die lebt.
„Rom ist schön“, sage ich. „Aber wir könnten auch woandershin. Weiter weg.“
Matti grinst schief.
„Ans Meer!“
„Du und dein Meer!“
„Warum denn nicht!“
Und ich sehe uns durch irgendein kleines Fischerdorf spazieren, im Süden, die Netze trocknen im Staub des Hafenbodens, die kleinen Boote schaukeln sanft, und das Meer ist so weit und blau. Fast spüre ich die Stille des Mittags, nur ein alter Netzflicker vielleicht, der in der Sonne sitzt und uns zulächelt. Ja, dort könnten wir sein. Und hinunter gehen an den Strand, der ganz honigfarben leuchtet, bis uns das Wasser sacht um die bloßen Füße spielt. Ich seufze.
„Oder die Berge“, flüstere ich und rieche den Sommer einer Bergwiese, der Himmel ist so tiefblau, dass er uns fast erschlägt, die Hänge sattgrün, der Schnee nur eine Farbe auf fernen Gipfeln, der Tag zum Weinen schön.
Ich mache die Augen wieder auf und bin zurück, auf einem kalten Frühlingsboden, und der Himmel ist ganz blass vor Schleierwolken. Mir ist kühl, als ich mich aufsetze. Matti legt die Arme um mich, sagt nichts mehr. Es riecht noch immer nach Frühling, aber die Leichtigkeit hat sich zusammengeballt zu einer harten Kugel und ist mir in die Kehle gerutscht. Ich möchte weinen, ganz plötzlich. Ich presse mein Gesicht an Mattis Schulter. Ein Teil von mir denkt daran, wie spät es sein könnte, dass ich zu Hause sein sollte, dass man sich vielleicht sorgt. Ein anderer Teil will die Zeit verknoten. Sie soll wirklich stehen bleiben. Ach, Matti, denke ich.
Den Rest des Weges gehen wir ganz langsam.
„Ein Eis?“, sagt Matti, als wir an dem Café vorbeikommen, das wirklich dort liegt, wo ich es mir vorgestellt habe. Und ich nicke, weil ein Eisbecher die Zeit wenigstens ein bisschen einfrieren wird, damit sie langsamer vergeht.
Dann sitzen wir auf der winzigen Terrasse. Unter der weißen Tischplatte umklammern sich unsere Hände. Vielleicht könnten wir es einfach ignorieren, dieses Gefühl, und so tun, als ob das mit uns funktionieren könnte. Aber immer, wenn ich mir vorstelle, dass Matti ein Teil meiner Welt wird, begreife ich, es geht nicht. Antarktis und Nordpol, es hat sich nichts geändert. Ich schaue ihn an. Er hat es auch verstanden. Vielleicht noch früher als ich. Wie kann etwas so deutlich sein und doch so unbestimmt, so logisch und gleichzeitig absurd? Ich finde ihn noch immer arrogant, ich mag ihn nicht. Aber ich lehne ihn mit soviel Zärtlichkeit ab, dass es mir fast den Atem nimmt.
Unsere Löffel kratzen an ein und derselben Kugel, tragen denselben Sahneberg ab, ohne dass unsere Hände sich loslassen. Was werde ich von diesem Tag mitnehmen, frage ich mich. Frühling im ganzen Körper, ja. Hätte ich mit Matti weiter gehen sollen? Hätte er, hätten wir? Ab heute, das weiß ich, wird Verwirrung für mich nach Vanilleeis schmecken.
Mir fällt das Lied von den Königskindern ein. Tief ist das Wasser, viel zu tief.
„Wenn Sommer wird, fahren wir ans Meer“, sage ich zu dem leeren Eisbecher. Aus dem Augenwinkel sehe ich Matti nicken. Er drückt meine Hand, bis sie weh tut.
Die Rechnung für den Eisbecher stecke ich ein, als wir aufstehen. Ich werde sie später zwischen die Seiten meines Buches schieben.
Auf dem Weg zum Auto umarme ich ihn. Irgendetwas muss ich ja tun. Man sollte irgendetwas sagen. Er soll nicht denken, dass ich nicht gerne wollte, dass ich es nicht gerne probieren würde.
„Schön war es“, flüstert er mir ins Ohr. Warum nur bin ich nicht verliebt in diese raue Stimme? Oder bin ich es am Ende – was alles nur noch komplizierter machen würde?
„Wunderschön“, flüstere ich zurück.
Im Auto öffnet er wortlos das Handschuhfach. Meine Hände ertasten einen Stapel staubiger Plastikhüllen.
„Du hast ja doch noch andere Musik“, sage ich und könnte mich ohrfeigen. Es wäre wirklich nicht nötig, das Schweigen zu brechen, so zu tun, als müssten wir noch über irgendetwas reden. Matti hebt auch nur die Schultern. Ich suche eine CD aus und schiebe sie in den Schlitz. Es sind die Musettenwalzer aus Amélie. Sie klingen auch ein bisschen nach Frühling. Und nach einem Leben, in dem die Dinge viel einfacher sind.
Wir fahren los. Ich verpasse den Blick auf die Ortstafel. Jetzt werde ich niemals wissen, wo wir gewesen sind. Obwohl, das ist Unsinn: Ich habe ja die Tüte mit dem Gutshofnamen. Ich könnte das Geheimnis lüften.
Wozu.
Es ist Nachmittag. Später Nachmittag. Wenn wir in der Stadt ankommen, wird es dämmern. Wird aus dem Frühlingstag eine Frühlingsnacht, weil die junge Jahreszeit sich zum Schlafen in die grauen Straßen kuscheln wird. Ich fühle mich, als ob mir ein Abschied für immer bevorsteht. Dabei verliere ich etwas, was ich gar nicht gehabt habe.
„Ich wünschte, das Leben wäre logischer“, sage ich über die Klänge von Amélies Walzer.
Matteo schaut mich nicht an.
„Dann hätte es diesen Tag nicht gegeben“, antwortet er bloß. Ich kuschle mich in meinen Sitz. Recht hat er. Heute hätte es nicht gegeben, den Frühling hätte es nicht gegeben, meinen ersten Kuss hätte es nicht gegeben. Ob ich ihm das sagen soll?
Aber ich schweige. Schweige, als um uns herum schon wieder Stadt ist, Asphalt, Kunstlicht, eiliges Leben. Schweige, als er vor meiner Haustür hält. Er dürfte gar nicht wissen, wo ich wohne. Ich schweige.
„Weißt du“, sagt er und dreht die Musik leiser, „für mich war es, als wären wir heute ganz außerhalb der Zeit gewesen. Deshalb hat es funktioniert. Aber ansonsten würde das nicht gehen mit uns beiden.“
An seiner Stimme höre ich, dass es ihm genauso weh tut wie mir. Wenn ich darüber nachdenken würde, dass wir das Gleiche empfunden haben, müsste es mir das Herz zerreißen. Ich ziehe meine Mappe hinter dem Sitz hervor.
„Danke“, flüstere ich. Vielleicht hat er das gar nicht hören können.
Wir küssen uns zum Abschied, es ist das Selbstverständlichste, aber auch das Einzige, was wir tun können.
Unter seinem ernsten Blick steige ich aus, stelle mir für einen Moment vor, wie wir morgen wieder aneinander vorbeigehen werden, jeder mit einem anderen Ziel und ohne uns anzusehen.
Ich sehe mich nicht um, als ich auf meine Haustür zugehe. Ich höre, wie das Auto sich entfernt.
Am Himmel leuchten die ersten Sterne: blass und zaghaft.
Hier unten ist Frühling.