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Notausgang

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05.02.2005
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Notausgang

Viele Leute sagen jetzt, sie hätten es vorausgesehen. Es hat sie nicht überrascht, aber geschockt waren sie trotzdem und sie haben sich an meiner Beerdigung schwarz angezogen, wie sich das gehört. Sie haben meinen Eltern im Flüsterton ihr Beileid ausgesprochen und meine Mutter hat geschluchzt und mein Vater nicht. Im Idealfall haben sie auch geschluchzt und meine Mutter musste dann noch mehr schluchzen. Ich war ja noch so jung. Ich hatte mein ganzes Leben noch vor mir.

26.05.01
Heute habe ich ein Bild gemalt. Eine Frau. Sie trägt ein rotes Kleid und hat kurze, braune Haare. Der Himmel ist grau. Durchgehend grau. Sie hat keinen Mund. Meine Mutter hat es gesehen und gefragt, warum sie keinen Mund hat. Aber sonst sei das Bild sehr schön. Da sieht man, dass sie nichts verstanden hat.

Sie hatte es doch so gut. Sie war ein ganz normales Kind. Und intelligent. Hatte eigentlich nie Probleme. Gut, ein bisschen still war sie vielleicht. Hat nie viel erzählt, lieber zugehört. Dabei hat sie immer ihren Kopf auf die Hand gestützt und einen angeschaut.
*Mutter*

Richtig schlimm geworden ist es erst vor ein paar Monaten. Da hat sie fast gar nicht mehr geredet. Sie kam in die Schule, sass ihre Stunden ab und ging dann wieder. Wir haben uns alle gewundert. Sie war schon immer eher still, aber nicht so. Die Lehrerin hat versucht an sie heranzukommen. Sorgenstunden nannte sie das. Nach der Schule. Da hätte sie erzählen sollen, was los war. Aber sie hat nichts gesagt. Das verstehe ich. Jetzt hat die Lehrerin sicher ein schlechtes Gewissen. Ich auch.
*Freund*

Einmal hat sie geweint, aber nur kurz.
*Freundin*

Ich hatte immer denselben Traum.
Ich sitze auf einem grossen Platz und um mich herum sind Leute. Alle reden und lachen, aber ich verstehe nicht, was sie sagen. Ich versuche zu schreien, doch es geht nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Ich weine. Die Leute sehen mich nicht.
Ich weiss nicht mehr, wann ich angefangen habe mit dem Traurigsein. Aber wenn man einmal drin ist, ist es wie eine Sucht. Es hat mich gepackt, und nicht mehr losgelassen. Am Anfang war ich vielleicht nur beim Einschlafen traurig, dann habe ich auch begonnen, am Morgen traurig zu sein. Und dann am Mittag. Am Nachmittag. Plötzlich war ich eben den ganzen Tag traurig. Und ich habe gemerkt, dass ich immer noch allein war. Obwohl ich doch immer trauriger wurde. Und ich wurde extra noch ein bisschen trauriger, habe gedacht, jemand würde mich dann vielleicht in den Arm nehmen und fragen, warum ich so traurig war. Dem war nicht so. Ich blieb in meiner traurigen Seifenblase drin und niemand versuchte, sie zum zerplatzen zu bringen. Am Schluss habe ich es dann einfach nicht mehr zugelassen. Da war es schon zu spät.

Viele Leute verstehen nicht, wie es ist. Sie verstehen nicht, dass das Leben für manche Menschen einfach traurig ist. Weil sie ihren Platz vielleicht nicht finden. Weil man ihnen ihren Platz nie gezeigt hat.
Meine Eltern haben mich nie verstanden. Für meine Mutter konnte ein Bild mit einer Frau ohne Mund nicht schön sein. Weil Menschen nun mal Münder haben. Und mein Vater, den kannte ich nie. Er war ein Fremder an unserem Tisch. In der Nacht habe ich ihn manchmal schreien gehört. Und meine Mutter hat geschluchzt. Doch gesagt hat sie nie etwas. Er hat oft Dinge kaputtgemacht, wenn es ganz schlimm war. Doch die Blumenvasen hat meine Mutter immer ersetzt. Und sie hat immer gelächelt am nächsten Morgen. Gesagt hat sie nie etwas.
Als ich begonnen habe mit dem Traurigsein, hat sie einmal versucht, mich in den Arm zu nehmen. Dabei war sie ganz steif und verkrampft. Sie roch nach Bratfett. Nach dieser Umarmung fiel es mir nicht schwerer mit dem Traurigsein.
Geschnitten habe ich mich nur, wenn ich am Abend nicht einschlafen konnte. Oder wenn am Morgen wieder eine neue Vase am Vasenplatz stand. Das war oft.
Wenn sich meine Haut geöffnet und der Klinge Platz gemacht hat, ging es mir gut. Ich war am Leben. Das hatte ich ganz vergessen mit all dem Traurigsein.

05.06.01
Ich bin zu traurig. Ihr merkt es nicht. Ich wähle diesen Weg, weil ich keinen anderen mehr sehe. Ihr habt nie versucht, ihn mir zu zeigen. Aber ich gebe nicht allein euch die Schuld. Die ganze Welt ist traurig, und ich habe in ihr keinen Platz.
Mama, du hast nie verstanden, warum die Frau auf dem Bild keinen Mund hat. Die Frau, das bist du. Das bin ich. Die Frau steht für alle Frauen auf dieser Welt, die reden sollten und nicht können. Jetzt bist du vielleicht überrascht.

Ich nehme den Notausgang.

 

Hallo Einoel,

schöne Geschichte! Ich denke mal, Geschichten mit diesem Thema gibt es hier oft. Leider gibt es immer noch zu viele Menschen, die mit einer Depression leben müssen und von den Mitmenschen viele das nicht akzeptieren, es als Kleinigkeit abtun oder ihr völlig hilflos gegenüber stehen. Ich denke, dass deine Geschichte das sehr schön darstellt.

Gut gefallen haben mir die "Nachrufe" der Bekannten. Liest sich schon so, als hätten sich die meisten Sorgen gemacht aber nicht gewusst, wie sie auf deine Protagonistin zugehen sollen. Und da frage ich mich auch, ob deine Prot nicht ein bisschen hart mit ihren Mitmenschen umspringt. Gut, die Mutter hat die Trauer der Tochter nicht wahrhaben wollen. Aber sie hat selber ja auch mit ihrer eigenen Trauer gelebt und versucht nichts auf die Tochter kommen zu lassen. Meiner Meinung nach sehr ehrenwert, aber offenbar der falsche Weg und am Ende gerade das Selbstmordmotiv der Tochter?!
Die Mutter hatte zwei Möglichkeiten: 1. sich zu offenbaren oder 2. ihrer Tochter eine heile Welt vorzuspielen. Beides sind Wege mit vielen Vor- und Nachteilen. Sie musste sich für einen entscheiden. Hätte sich deine Prot besser gefühlt, wenn die Mutter den anderen Weg eingeschlagen hätte?

Deine Prot hat aber niemandem eine Chance gegeben sie zu verstehen und gleichzeitig - und das finde ich noch viel schlimmer - offenbar auch nicht versucht, die Mutter zu verstehen.

Das sind aber alles nur Kritikpunkte über das Verhalten deiner Prot. ;)
Deine Geschichte hat mir natürlich, wie gesagt, gut gefallen. Sehr flüssig erzählt, gute Charakterisierungen und sehr ansprechend zu lesen.

Liebe Grüße,
Jay

 

Hallo einoel,

es gibt hier tatsächlich sehr viele "Suizidgeschichten". Die meisten sind Schrott. Deine finde ich im Ansatz sehr plausibel, sehr nachvollziehbar und sehr einleuchtend.
Stilistisch finde ich sie in ihrer Struktur aber nicht konsequnet genug. Die Worte und die Bilder sind oft passend, der Aufbau nicht ganz. Wenn du ein bisschen die Grenzen zwischen Leben und Tod sprengst, die Form der Tagenucheinträge in den Gedanken deiner Protagonistin auch bei der Beerdigung beibehältst und sie nur in dieser Tagebuchform den kursiven Aussagen der Angehörigen, Freunde (und zusätzlich auch Lehrer) gegenüberstellst, könnte deine Geschichte für mein Gefühl noch erheblich gewinnen.

Ich weiß nicht, ob du das Lied "Liebe Eltern" von Thommie Bayer kennst. Ich denke, eher nicht. Leider habe ich den Text nicht geunden, sonst hätte ich ihn dir hier verlinkt. Deine Passage mit dem Bild ohne Mund hat mich aber daran erinnert. Deshalb einen Vers aus diesem Lied.

Liebe Eltern, der Doktor redet mit mir
Er ist ein guter Mensch mit Verstand
Ich habe Gott gemalt und der Doktor hat
das Bild geseh´n und Gott erkannt.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo ihr zwei, ich danke euch für eure rückmeldungen! sim, beim eintippen der geschichte gestern abend habe ich mir die gleichen gedanken gemacht. an der form könnte ich definitiv noch feilen. ja... aber ich habe mich trotzdem sehr über eure feedbacks gefreut. als ich die geschichte geschrieben habe, hat es mich irgendwie sehr berührt.
grüsse aus der verschneiten schweiz
einoel

 

hallo einoel!
fand deine gescichte ebenfalls sehr schön...traurig und schön!
deine geschichte ist kurz und prägnant, die gefühle deiner prot finde ich sehr nachvollziebhar!
mehr kan ich eigentlich nich gar nich zu sagn, also niht bsonders konstruktive kritik, aber dafür ein großes lob:)

liebe grüße
fioa

 

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