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- 06.02.2004
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Nur auf der Durchreise
Amelie lehnt ihre Stirn gegen das kühle Glas des Fensters, schließt die Augen und hält einen Moment inne, um der Fahrt des Zuges nachzuspüren. Melancholie pur, süßer Schmerz, ein Gefühl von Verlassen und Ankommen. Reisen.
Dunkle Wälder und stahlgrauer Himmel, mittendrin die Gleise, die Amelie über das Land tragen. Die ersten Regentropfen treffen auf die Scheibe, und die Szenerie des Abschieds, der ein Neuanfang ist, ist perfekt.
Reisen, denkt Amelie, ist doch wirklich eine Wohltat. Es ist, als wäre man nirgendwo, nicht mehr da und noch nicht dort. Man muss nichts tun, nichts denken. Es reicht, die vorüberziehende Landschaft zu betrachten.
Ihr Atem geht so ruhig wie schon lange nicht mehr. Sie lächelt.
Ein Bahnhof, in Fahrtrichtung bitte rechts aussteigen, Menschen, die mit Koffern und Taschen an Amelie vorbeihasten. Sie nimmt es kaum wahr, genießt es, zu reisen und nichts weiter zu tun.
„Entschuldigung, ist dieser Platz frei?“
Amelie schreckt hoch, nickt andeutungsweise und räuspert sich, doch der Mann sitzt ihr schon gegenüber. Sie lehnt sich zurück, er lächelt sie an. Hoffentlich will er kein Gespräch -
„Wohin fährst du?“
Er hat schöne meerblaue Augen.
„Hamburg.“
„Ich fahre nach Dortmund, ich wohne da.“ Er beginnt, von einer Reise nach Hamburg zu erzählen, die sie nicht interessiert. Zum Glück sieht sein Mund beim Sprechen fast noch schöner aus als beim Schweigen. Fast.
„Ich heiße übrigens Vincent, und wer bist du?“
Amelie murmelt ihren Namen und lächelt.
„Vincent, kommst du mit mir nach Hamburg?“
*
„Ich mag nichts lieber als mit dir zusammen zu sein, Wein zu trinken und dich dann zu küssen!“
„Amelie, ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch, schönster Vincent.“
Eine Weile schweigen die beiden, liegen nur im weichen Gras der Sommerwiese und sehen sich die Wolken an.
„Vincent, ziehst du mit mir zusammen?“
*
„Ich weiß es nicht.“
„Du weißt nicht, warum du mich betrogen hast? Verdammte Scheiße, willst du mich eigentlich verarschen?“
„Vincent -“
„Ich liebe dich, verdammt nochmal, weißt du eigentlich, wie weh du mir tust?“
„Es tut mir leid...“
„Mir auch. Scheiße.“
„Ich fürchte, ich liebe dich nicht mehr.“
*
Amelie steigt mit ihrem kleinen Koffer in den Zug. In ihren Augen sind Tränen, aber ihr Herz ist so leicht wie der Koffer in ihrer Hand. „Es war eine schöne Zeit mit dir, Vincent,“ flüstert sie.
„Wie bitte?“ Mathilda lehnt sich in die Tür und sieht sie fragend an.
„Es ist richtig, jetzt zu fahren. Abstand von ihm und allem anderen zu gewinnen.“ Amelie seufzt, lächelt. „Es tut weh, aber es muss sein. Weißt du, Reisen hatte für mich schon immer eine besondere Bedeutung.“
„Ich werde dich hier vermissen. Hoffentlich wirst du glücklich.“
Amelie lächelt, winkt kurz und macht sich auf die Suche nach einem Sitzplatz am Fenster.