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Nur ein Schritt

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13.08.2001
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Nur ein Schritt

Regen fällt auf schmutzigen Asphalt. Betrunkene Männer und zu leicht bekleidete Frauen. Autos, die mit grellen Lichtern vorbeifahren und überall die Farben der Neonreklamen, die auf dem nassen Gehweg reflektieren und den Blick auf die Welt verzerren.
Nässe kriecht durch die Mäntel, unter die Hemden, auf die Haut und in die Knochen der Männer und Frauen, die es an diesem Samstagabend aus ihren Wohnungen auf den Kiez gezogen hat.
Niemand sieht den Mann, der in einer dunklen Ecke steht. Unter seiner viel zu tief ins Gesicht gezogenen Kapuze glimmt ein Licht. Eine Zigarette, gehalten von klammen Fingern, die ein Zittern kaum unterdrücken können.
Ein Blick auf die Uhr. Bald ist es soweit, denkt er sich. Bald entscheidet sich ein Leben, sein Leben. Gerötete Augen blicken auf die Menschen, die vorbeiziehen. Irgendwann einmal war er wie sie. Sie sehen ihn nicht. Auf der Suche nach dem Licht schaut man nicht in den Schatten. Früher wäre ihm so ein Satz dabei eingefallen. Heute vergräbt er bloß seine Hände in tiefe Taschen, die kaum wärmen. Sie zittern, er zittert. Wenn es nur die Kälte wäre, vielleicht die Nervosität oder auch die Angst, vor dem was kommt, dann wäre es wohl nicht so schlimm. Der Rauch rauscht durch seinen Körper, ein wohliger Nebel in seinen Adern. Eine kurze Pause, etwas Ruhe, dann verglimmt der Strohhalm.
Für einen Moment noch ist es ruhig in ihm. Dann verzieht sich der Nebel. Der Blick auf das, was ist, klart auf und das kleine Stück Wirklichkeit kehrt zurück.
Er hat es versprochen, denkt er. Doch er weiß auch, wie viel Versprechen in seinem Leben wert sind. Noch fünf Minuten, dann kommt Slavo. Das redet er sich ein. Slavo lässt ihn nicht im Stich, denkt er und erinnert sich daran, wie oft er manche Freunde im Stich gelassen hat. Dabei ist Slavo nicht mal ein Freund. Freunde waren eines der Dinge, die er in einem Leben zurückgelassen hatte, in dem alles einfach und eintönig erschien. In einem Leben, aus dem er ausgebrochen ist, um nie wieder zurückzukommen, weil die Verheißungen der Welt zu verlockend waren, als dass er ihnen widerstehen konnte.
Ein Mann schiebt langsam einen Einkaufswagen vorbei. Lange graue, strähnige Haare, ein ausgemergelter Körper in ein zerschlissenes Sakko gehüllt. Die Menschen weichen ihm aus, umgehen ihn, umspülen ihn, wie einen Felsen in rasenden Stromschnellen. Er aber bleibt stehen und sein leerer Blick streift die Welt, durch die er sein Leben schiebt, das in ein paar Tüten passt.
Wie lange noch, bis ich dieser Mann bin, fragt er sich. Wie weit ist der Weg? Und wie weit weg bin ich schon von der Zeit als es eine Zukunft gab, die aus mehr bestand als dem Wunsch, den nächsten Morgen dämmern zu sehen, weil man dann wusste, dass man die Nacht überlebt hatte. Jeder hat Träume denkt er und erinnert sich doch nicht an einen.
Noch eine Zigarette, nur noch eine. Dann biegt Slavo um die Ecke und bringt, was er braucht.
Mit Eskobar macht man keine Scherze, hallt es durch seinen Kopf, als er die Zigarette anzündet. Aber es ist kein Scherz. Nicht mal ein schlechter. Der Koffer mit den Träumen ist weg. Gestohlen. Von wem, dass weiß er nicht und darauf kommt es auch nicht an. Wenn man in den Abgrund fällt, ist es nicht wichtig, wer einen gestoßen hat.
Ein schwarzer Koffer, in dem die Träume für eine Woche lagen und Träume verkaufen zu können, bedeutet in dieser Zeit der zerstörten Hoffnungen Geld, viel Geld. Doch darum geht es nicht einmal, um Geld. Wer versagt der zahlt, ist ihm gesagt worden, als er Eskobar seine Treue schwor. Eine einfache Regel. Aber was geschah, wenn man nicht mehr zahlen konnte? Wenn man einmal zuviel versagte?
Man erzählt sich, dass Eskobar bei seinem ersten Mord, den Namen seines Opfers angenommen hatte. Das Gerücht geht, dass Eskobar ein Fußballspieler war, der seine Wettschulden nicht bezahlen konnte. Selbst seinen Namen hat man ihm genommen, weil er nicht zahlen konnte. Das wird mir nicht geschehen, denkt er sich und nimmt den ersten Zug an der Zigarette. Meinen Namen wird er vergessen. Dafür sind schon zu viele durch seine Hand oder sein Wort gestorben. Nur einer unter vielen.

„Jakob? Bist du das?“
Es dauert, bis er begreift. Eine Stimme, die nicht hierher gehört, nicht an diesen Ort, nicht zu dieser Zeit und nicht in der Wirklichkeit. Im Schlaf kommt sie zu ihm. Eine Stimme aus der Vergangenheit, aus der Zeit, als es eine Zukunft zu geben schien. Aus der Zeit, als es noch Freunde gab und Vertrauen und den Anflug der Ahnung, was das Wort Liebe bedeuten konnte.
„Erkennst du mich nicht? Ich bin es, Vanessa.“
Der Mann, der dort in der Ecke steht, ungesehen von der Welt und doch in einem Moment entdeckt, der unwahrscheinlicher nicht sein konnte, schließt die Augen. Er will nicht sehen, was er sieht und nicht hören, was er hört. Aber das Bild ist nicht nur vor seinen Augen und die Stimme nicht nur in seinem Gehör.
„Geh, bitte“, müde klingen seine Worte, als er sie aus seinen Mund entlässt. Slavo kann jeden Moment kommen, denkt er. Er will nicht, dass er sie sieht und auch nicht, dass sie ihn sieht. Vanessa gehört hier nicht her. Geh doch, fleht er innerlich. Geh, weit weg und kehr nicht zurück. Nie wieder.
„Was ist denn mit dir? Du weißt doch noch wer ich bin?“
Natürlich weiß er es. Die Erinnerungen waren verborgen, verschüttet unter Trümmern und verschlossen an einem Ort, den er vor langer Zeit beschlossen hatte nicht mehr zu betreten. Jetzt aber war das Tor zu diesem Ort geöffnet worden und was von dort entwich, hätte besser dort bleiben sollen.
„Du bist ja vollkommen durchnässt. Ich wohne eine Straße weiter. Willst du nicht mitkommen?“
Er zittert und weiß nicht warum. Ihre Hand legt sich auf seinen Arm. Er spürt sie dort, spürt sie überall, schmeckt ihre Küsse und hat den Duft ihrer Haare in der Nase. Das war so lange her. Sieben Jahre, so viele Städte, so viele Leben. Woher sie gekommen war, dass fragte er nicht. Nur warum sie es war. Weg, ich muss weg, denkt er und kann doch nicht gehen. Hier hat er sich mit Slavo verabredet. Wenn er nur die Richtung wüsste. Er könnte ihm entgegen gehen. Aber er weiß es nicht und so muss er bleiben. Keinen Schritt kann er gehen, unsichtbare Fesseln, die ihn an diesem Ort halten.

Sie hat ihn damals gefunden, beim ersten Mal, wie er völlig apathisch aber mit einem glücklichen Lächeln im Garten seiner Eltern auf der Schaukel seiner kleinen Schwester saß. Es hielt lange an. Zumindest kommt es ihm jetzt so vor. Eine Stunde war es leicht geworden, alle Sorgen waren Federn, die man wegpusten konnte. Heute sind es Felsen, die bloß zu kleineren Steinen werden, deren Last man ertragen kann.
Sie wusste gleich, was mit ihm los war. Die Augen verrieten ihn. Sie dachte, er hätte ein Problem und wollte ihm helfen, doch so war es nicht. Er hatte die Lösung gefunden und wollte sie einsetzen. Den Vorteil, den er entdeckt hatte, wollte er nutzen. Die Gefahr hatte er im Griff, denn sie war ihm bewusst. Er war ja nicht dumm, nicht wie die anderen. Nur die Möglichkeiten ausschöpfen, die ihm offeriert worden waren, nicht mehr.
Aber jede Möglichkeit beinhaltet ein Risiko, jedes Recht auch eine Pflicht. Hatte er es vergessen? Oder hatte er es nicht sehen wollen?
Er hob den Kopf, denn Vanessa war noch da. Sie wurde nass, genauso wie er. Wieso tat sie das? Wieso ging sie nicht einfach? Der Regen verwischte die Konturen ihres Gesicht und schärfte die Erinnerung. Er war gegangen. Von einem Tag auf den anderen, war er gegangen und nicht mehr zurückgekommen und jetzt war sie einfach so aufgetaucht. Ein Dorn, der sich mit jeder Minute tiefer in sein Fleisch bohrte.
„Es ist immer noch die alte Geschichte, oder?“, fragt sie und nun klang sie müde. Ihre Augen aber waren kühl und stark. Das sind nicht die Augen von früher, denkt er und zieht an der Zigarette. Zwei, drei Züge noch, dann ist sie aufgeraucht, dann verschwindet der beruhigende Nebel wieder.
„Vanessa…“, sagt er und bricht ab. Er wollte nicht reden und jetzt tut er es. Aber sie ist in Gefahr. „Geh…Du weißt nicht...“
„Komm mit, Jakob…“, ihre Hand ist auf seiner. Er spürt das Prickeln der Wärme ihrer Finger auf seinem Handrücken. Er blickt sich um und sieht nichts. Regen, Menschen, Autos und Vanessa, deren Haare ihr ins Gesicht fallen. Die Augen auf ihn gerichtet, ohne Mitleid, ohne Urteil. Immer noch trägt er Felsen mit sich herum, die ihn niederdrücken.
Ein Blick auf die Uhr. Fünf Minuten sind vergangen. Noch einmal schauen, rechts und links und da sieht er Slavos Kopf aus der Masse herausragen. Slavo hat ihn noch nicht gesehen, er muss bleiben, wenn er erstmal da ist, dann wird es leichter, dann…
Das Zittern wird stärker, es wird nicht weggehen, denkt er. Die Felsen, die auf seinen Schultern, seinem Leben lasten, werden nicht leichter, nie mehr. Aber für ein kleines Stück, nur ein ganz kleines Stück, werde ich sie doch wohl tragen können, denkt er und versucht es. Erstmal nur ein Schritt.

 

Hallo deMolay,
eine fesselnde Geschichte erzählst du uns da. Sehr atmosphärisch beschrieben, wobei manche Sätze fast ein Tick zu lang und verschachtelt sind. Besonders den zweiten Satz, der dreimal mit "und" aneinandergeklebt ist, würde ich teilen, damit der Geschichte nicht gerade am Anfang das Tempo genommen wird.

Folgende kleinere textliche Dinge sind mir noch ins Auge gefallen:

weil die Verheißungen der Welt zu verlockend waren, als das er ihnen widerstehen konnte.
als dass er ihnen widerstehen konnte

und sein leerer Blick streift die Welt durch die er sein Leben, das in ein paar Tüten passt, schiebt.
ich würde hier umstellen: und sein leerer Blick streift die Welt, durch die er sein Leben schiebt, das in eine paar Tüten passt.

die aus mehr bestand als dem Wunsch den nächsten Morgen dämmern zu sehen,
als dem Wunsch, den

Der Koffer mit den Träumen war weg.
Warum bist du hier plötzlich in der Vergangenheit? Das kann ich nicht ganz nachvollziehen.

Das sind nicht die Augen von früher, dachte er und zieht an der Zigarette.
Hier müsste es auch ..., denkt er ... heißen, oder?

„Geh…Du weißt nicht….“
Diese Punkte benutzt man immer zu dreien mit einem Leerzeichen davor und danach, soweit ich weiß. Also: "Geh ... Du weißt nicht ..."

Alles in allem aber eine sehr dichte, gut erzählte Story, die noch Raum zum Nachsinnen lässt. Gern gelesen.

Gruß,

kira.

 

Hi Kira,

danke, für den positiven Kommentar. Die Fehler sind sogleich geändert worden. Es ist wirklich unglaublich, dass sich trotz mehrmaligen Korrekturlesens immer wieder so kleine Fehler einschleichen...schrecklich ;-)

Gruß
deMolay

 

Hallo deMolaY,

mir hat deine Geschichte atmosphärisch auch gefallen. Inhaltlich ist die Gefangenschaft deines Prots spürbar.
Zwei Anmerkungen noch:

Nässe kriecht durch die Mäntel, unter die Hemden, auf die Haut und in die Knochen, der Männer und Frauen, die es an diesem Samstagabend aus ihren Wohnungen auf den Kiez gezogen hat
Das Komma nach Knochen ist mE zu viel.
Eine Zigarette, gehalten von klammen Fingern, die ein Zittern kaum unterdrücken können.
Die Finger selber können ein Zittern eh nicht unterdrücken, höchstens ihr Besitzer kann das.

Lieben Gruß, sim

 

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