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Nur ein Schritt

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25.11.2005
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Nur ein Schritt

Es ist kalt hier oben. Und so verdammt dunkel. Wieso gibt es auf diesem bescheuerten Kirchturm keine Lampe?
Bald werde ich Katharina wiedersehen. Oder auch nicht. Wer weiß schon, was nach dem Tod kommt? Würden alle Toten unsichtbar auf der Erde wandeln, wäre es wirklich ziemlich voll. Dann müssten ja auch etliche Neandertaler herumspringen.
Hätte ich doch nur meine Jacke mitgenommen. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass es in der Nacht so verdammt kalt wird?
Ob es eine Beerdigung geben wird? Katharina hatte eine. Aber natürlich war alles nur gespielt. Das ganze Leben ist gespielt. Ich halte dieses Theater nicht mehr aus. Jeder hat eine Rolle, und wer sie nicht spielt, ist raus.
Sabine wird nicht eine Träne vergießen. Horst vielleicht eine halbe.
Ich hätte bloß noch gerne meine Mutter getroffen.
Sabine hat ja behauptet, dass meine leibliche Mutter bei Katharinas Geburt gestorben ist. Ich weiß es besser. Ich habe Erinnerungen an meine Mutter. Mit vier hat man doch Erinnerungen. Sie war blond. Und sie trug immer hochhackige Stiefel. Und sie roch irgendwie seltsam. Heute weiß ich, dass sie nach Bier roch. Sie hatte immer Gummibärchen in der Tasche. Wenn ich brav war, kriegte ich eins. Ich durfte aber immer nur die Weißen essen. Die Weißen mochte sie nicht. Irgendwann hatte sie dann plötzlich einen tierisch dicken Bauch. Damals dachte ich wirklich, sie hätte zuviel gegessen. Ich weiß noch genau, wie die Ohrfeige weh tat, die sie mir auf die Frage verpasste.
Gestorben. Pah! Sie hat es bloß nicht hingekriegt, mit zwei Kindern. Dabei war Katharina so schön blond.
Wir haben es Trinas blonden Haaren zu verdanken, dass wir nicht bis an unser Lebensende im Heim hockten. Sabine war sofort hin und weg, als sie die kleine süße Trina sah. Bloß, dass sie sie nicht allein bekommen hat. Wär ich damals von Katharina getrennt worden, ich weiß nicht, was ich alles zerschlagen hätte vor Wut.
Wie eine Trophäe hat Sabine meine Schwester dann ihrem Mann vorgestellt.
„Guck mal, Horsti! Ist die nicht süß? Und so schöne blonde Haare!“
Katharina war da drei, und ich sieben. Da ich pechschwarze Haare habe, wurde ich auch gar nicht beachtet. Ich war eben der, den man nehmen musste, wenn man die süße kleine Blondine haben wollte. Zwei in eins. Dann muss man eben zwei kaufen. Obwohl man doch eigentlich nur die Blonde wollte.
Außerdem hatte ich nicht so einen schönen Namen wie Katharina. Wer heißt schon Pian? Für Trina hieß ich von Anfang an Pip. Sabine und Horst sprachen mich meistens mit du da an
Die riesigen Uhrzeiger des Kirchturms rücken vor. Zwei Uhr. Ich habe noch viel Zeit. Ich will es dem ersten Mensch, der mich sieht, nicht zumuten, dass ich schon verwese. Wie schnell verwesen Tote? Allerdings: Wie seh ich aus, wenn ich da unten liege? Wahrscheinlich kein schöner Anblick.
Trotzdem. Die Stunde meines Todes ist noch nicht gekommen.
Ich würde es nicht tun, wenn Katharina in ihrem Bett liegen würde. Mit leicht geöffnetem Mund, zusammengerollt, die Decke umklammert. Aber sie ist nicht dort. Ihr Körper liegt auf dem Friedhof. Wo ihre Seele ist, weiß ich nicht. Vielleicht haben Menschen ja gar keine Seele. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man kurz vor dem Tod noch einmal sein ganzes Leben vor den Augen sieht. Auch das, an was man sich nicht mehr erinnert. Auch die Geburt?
Ich wünschte, Katharinas Mörder würde auch in dieser Nacht sterben. Ich hasse ihn. Er überfuhr meine kleine Trina. Sie war unschuldig, aber er war stockbesoffen. Warum also starb sie und er überlebte? Das ganze Leben ist doch einfach nur beschissen.
In meiner Klasse sieht das keiner so. Die haben alle irgendetwas Supertolles, für das es sich zu leben lohnt.
Ich nicht. Katharina war das einzige, das mich noch am Leben gehalten hat. Nun ist sie tot. Warum also sollte ich jetzt weiterleben? Meine Pflegeeltern hasse ich und sie mich. Von Anfang an. In der Schule bin ich schlecht. Hobbies habe ich nicht. An meine Mutter habe ich nur noch einige fetzenhafte Erinnerungen. Einen Vater gab es nie.
Drei Uhr. Warum nicht jetzt? Warum nicht später? Ich kann doch ruhig noch eine Weile frieren.
Einmal waren Trina und ich Schlittschuhlaufen. Auf dem zugefrorenen See. Wo Sabine und Horst da waren, weiß ich nicht mehr. Es war schweinekalt und wir waren mit Mütze, Schal und Handschuhen ausgestattet. Wir waren beide total unbegabt. Aber es hat wahnsinnig Spaß gemacht. Wir schlitterten und rutschten. Fielen und standen wieder auf. Froren uns den Arsch ab. Aber es war einer der wenigen Momente, in denen ich glücklich war.
Als ich noch kleiner war, hörte ich einmal zwei Männer über einen Dritten reden, der Selbstmord begangen hatte.
„Selbstmord ist eine Todsünde. Er wird sich in der Hölle wiederfinden.“
Todsünde? Die Hölle gibt es nicht. Ebensowenig wie den Himmel. Warum können die Menschen nicht einsehen, dass mit dem Tod alles zu Ende ist? Wieso muss es unbedingt noch weitergehen? Wiedergeburt. Himmel. Hölle. Alles Quatsch. Mit dem Tod ist Schluss.
Halb vier. Jetzt? Jetzt.
Ich steige auf das Geländer. Es ist breit. Ich stehe und halte mich an einer Säule fest. Es dauert jetzt nicht mehr lange. Bald ist mit der großen Lüge, die sich Leben nennt, Schluss.
Es ist nur ein Schritt.
Es ist nur ein kurzer Augenblick.
Ein kurzer, scharfer Schmerz.


Das Büro ist neutral. Keine Bilder, keine Fotos, nichts. Neutral. Die Frau schaut sich unbehaglich um. Sie hat hochhackige Stiefel an. Der Beamte kommt nicht. Nervös greift sie in ihre Handtasche. Holt eine Blechschachtel hervor und stopft sich drei rote Gummibärchen in den Mund.
Endlich kommt jemand. Der Mann hat einen schönen Anzug an, aber wieso schaut er so ernst?
„Wie hießen ihre Kinder nochmal?“
„Katharina und Pian. Bitte sagen sie mir doch, wo sie jetzt sind. Ich habe sie in das Heim gegenüber gegeben. Vor zehn Jahren. Bitte helfen sie mir.“
Der Mann schluckt.
Er reicht zwei Zeitungsartikel über den Tisch.

 

Hi Ebecky!
Sehr beklemmende Geschichte. Sehr schön erzählt (wenn "schön" der richtige Begriff ist). Die kurzen, abgekackten Sätze passen sehr gut zu der Stimmung deiner Geschichte und zu den Empfindungen deines Hauptprotagonisten.
Der Anfang ist dir nicht ganz so gut gelungen, aufgrund der vielen Namen sind einem die ganzen Verbindungen nicht auf Anhieb klar geworden...
vielleicht hätte jeder Name etwas mehr Eingewöhnungszeit gebraucht?
Aber ansonsten eine durchaus solide, wenn auch düstere Geschichte. Richtig spannend war sie leider nicht, aus dem Schluss hättest du mehr machen können. Ist zu absehbar...

noch eine Kleinigkeit:

...dass man kurz vor dem Tod noch einmal sein ganzes Leben vor den Augen sieht.

dass man kurz vor dem Tod noch einmal sein ganzes Leben vor dem geistigen Auge Revue passieren sieht.

schöne Grüße

SAN

 

Hallo SAN,
Erstmal Danke fürs Lesen und die Kritik.

Tut mir leid, dass dir die Verwandtschaftsverhältnisse nicht sofort in die Gehirnwindungen gesprungen sind ( :D ). Ich persönlich mag es, wenn man erst gar nix kapiert und nach und nach immer mehr, sodass das zweite Lesen ganz anders ist als das erste Mal.

Dass sie nicht so richtig spannend ist, weiß ich, aber ich glaube, in eine andere Rubrik hätte die Geschichte erst recht nicht gepasst.

Was du mit dem Schluss meinst, versteh ich nicht so wirklich. Wieso absehbar? Vielleicht könntest du darauf noch etwas genauer eingehen.

Aber schön, dass sie ansonsten gefallen hat.

Viele Grüße,
Ebecky

 

Spätestens bei den Gummibärchen erkennt man die Mutter der Kinder.
Was für Konsequenzen der Tod für die Mutter hat, erschließt sich mir nicht so richtig...

 

Hallo Ebecky,

generell fand ich deine Geschichte nicht schlecht, auch wenn ich mit dem Anfang große Probleme habe.
Punkt a) Der "Witz" mit den Neandertalern zieht nicht. Wir Menschen erwarten ja nicht, dass die Toten in körperlicher Form auf Erden wandeln, warum sollte es also nicht möglich sein, dass wir eine überquellende Geisterpopulation mit so manchem Höhlenmenschen hier hätten? ;)
Punkt b) Widerspruch im Text. Am Anfang sagt der Prot, er würde seine Schwester bald wiedersehen, zweifelt dann aber kurz und hinterfragt diesen Glauben. Zum Ende hin, ist er jedoch ziemlich wütend auf Leute, die sich nicht damit abfinden können, dass nach dem Tod alles vorbei ist und uns kein Feuerwerk im Himmel wieder vereint. Falls dieser Wiederspruch also beabsichtigt war und du damit eine Gefühlsentwicklung des Prots ausdrücken möchtest, solltest du dies noch einmal weiter herausarbeiten.

Das Auftauchen eines Polizisten macht die Geschichte natürlich noch nicht zu einem Krimi, denn dort stehen gerade die Polizeiarbeiten und/oder die Entwicklung der Zusammenhänge des "Falls" stark im Vordergrund, was hier nicht gegeben ist.
Spannung wollte bei mir auch keine richtige aufkommen, da der Prot ja schon im ersten Absatz beschlossen hat zu springen und nur noch auf den richtigen Zeitpunkt wartet.
Ich persönlich denke also ebenfalls, dass diese Rubrik der Geschichte nicht gerecht werden kann, denn es ist nunmal eindeutig, dass der Leser aufgrund der inneren Erwartungen an die Geschichte herangeht und sie auch dementsprechend beurteilt.

Dagegen hast du viele Andeutungen, die mich diese Geschichte zwischen Alltag und Gesellschaft sehen lassen.
Die Abgabe eines Kindes an ein Heim, weil die Mutter sich nicht in der Lage fühlt für sie Verantwortung zu übernehmen (traurige Wahrheit und hundertfache Realität in Deutschland), die zwischenmenschliche Gefühlswelt zwischen dem Bruder und seiner Schwester, die enge Verbundenheit und auch die Dankbarkeit von ihm zu ihr. Auch die Kritik an Adoptivfamilien ist drin, die das Anhängsel mit dazu nehmen, wenn es denn so gar nicht anders geht.
Aber es fehlt mir hier die Bedrohlichkeit der Situation... Wie gesagt: Der Prot hat für sich selbst ja schon abgeschlossen und der vermeintliche "Mord" an seiner Schwester ist auch nur etwas, das seine Entscheidung sich selbst zu töten erklärt, aber keinen eigentlichen Teil der Handlung ausmacht. ;)

Aber jetzt mal ab vom Negativen oder Unentschlossenen.

Du hast die Zweifel und Gefühlswelt des Prots tatsächlich nahegebracht und auch das Ende gefällt mir vom Ansatz her gut, auch wenn es ziemlich plötzlich kommt. Eine kleine Hinleitung würde der Geschichte gut tun.

Mein Fazit: Eine kleine Geschichte, die nebenbei gelesen werden kann und dennoch zum Denken anregt - leider in meinen Augen in der falschen Rubrik. ;)

LG,
:zensiert:

 

Hallo Zensur
Danke für die Kritik.
Über die Sache mit dem Wechsel seiner Ansichten, was das "Leben" (oder sonstwas) nach dem Tod angeht, hatte ich mir schon Gedanken gemacht, weil es ja nicht hinkommt so. Hatte aber irgendwie, glaube ich, gehofft, dass es keiner merkt :shy: .
Na, das wäre ja jetzt schon die zweite Geschichte in der falschen Rubrik. Hab halt ein Händchen dafür, knapp vorbeizuschlittern. :hmm: .
Aber hätte es in Alltag gepasst? Ich schwankte zwischen Spannung/Krimi und Alltag und da bei letzterem steht, dass Ostern und Muttertag nicht da reinpasst, weil es nicht jeden tag passiert, hatte ich mich dagegen entschieden. Bei Alltag hätte ich wahrscheinlich genau wie hier Haue gekriegt. :D
Deine Kritikpunkte sehe ich jetzt einfach mal schnell ein.
Viele Grüße,
Ebecky

 

Nochmals Hi Ebecky,

dass Ostern und Muttertag nicht da reinpasst, weil es nicht jeden tag passiert,
Richtig. Oder du würdest die "Ostern und Muttertag"-Geschichte so schreiben, dass sie nunmal sinnbildlich für jeden Haushalt der Welt steht. Dann hättest du vielleicht eine Chance. ;)

Ich persönlich würde die Geschichte auch eher in "Gesellschaft" (vor wiegend wegen der Kritik zwischen den Zeilen) als in "Alltag" sehen. Wenn du jedoch in letztere Rubrik unbedingt hinein willst, dann solltest du die Geschichte so weit verallgemeinern, dass sie tatsächlich jeden Tag passiert/passieren kann.

Wenn du dich gar nicht entscheiden kannst, bliebe auch immer noch die Rubrik "Sonstige".

Allerdings hört sich das jetzt fast so an, als würde ich dich hier rausschieben wollen. :D Dem ist nicht so. Welche Punkte mir in der Geschichte für eine Spannungs-/Krimigeschichte fehlen hatte ich ja schon oben angeführt. Vielleicht versuchst du sie ja auch einfach dahin gehend umzuschreiben. ;)
Ich lasse mich einfach mal überraschen.

LG,
:zensiert:

 

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