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Nur ein Spiel
Ein Blitz zuckte und tauchte die Zinnen der altgotischen Burgruine in gespenstisches Licht. Es schüttete wie aus Eimern und das Regenwasser lief mir in die Stiefel und in den Kragen meines Anzuges. Daß mir eine Spinne am linken Bein hinaufkrabbelte, machte die Sache für mich auch nicht gerade besser und ich wünschte mich in mein warmes Bett.
Aber ich hatte keine andere Wahl, ich mußte diese Burg im Alleingang erobern und irgendeinen Bösewicht davon abhalten, die Welt von hier aus mit einer Horde Zombies zu unterjochen. Wer, wenn nicht ich, wäre dazu sonst in der Lage? Jammern würde mir jetzt auch nichts mehr bringen, immerhin hatte ich mich damals freiwillig für dieses Schicksal entschieden. Die Alternative hätte in einer langweiligen Beamtenlaufbahn bestanden, wo ich als Schreibkraft sicher leicht irgendwo einen Job gefunden hätte. Aber dieses Leben hier war mir sehr viel aufregender erschienen.
Und nun hatte ich den Salat. Ich hielt also mein Sturmgewehr bereit, wartete auf den Countdown und los gings. Es begann sehr einfach, die Wachhunde auf dem Weg zum Pförtnerhaus waren keine großen Hindernisse. Ich wußte von meiner Einsatzbesprechung, daß sich der Mechanismus, der die Zugbrücke öffnen würde, in diesem Häuschen befand. Zunächst mußte ich also den Mann finden, der den Schlüssel dazu hatte. Zu meinem Glück machte der gerade Pause, stand ein wenig Abseits der Sicherheitskameras und pinkelte in den Schloßgraben.
Eigentlich hatte ich ihn einfach mit dem Lauf meiner Waffe KO schlagen wollen, aber letztlich blieb mir keine andere Wahl und ich mußte ihn niederschießen. Irgendwie tat er mir leid, immerhin machte er hier auch nur seinen Job. Aber das war letztlich nicht mein Problem. Den Schlüssel an mich nehmen, das Pförtnerhäuschen öffnen und die Zugbrücke herunterlassen, war eins. Im Innern der Burg fand ich eine achtlos abgelegte Schrotflinte, mit der ich sicher bessere Chancen gegen die kommenden Gegnerhorden hätte als mit meinem Sturmgewehr. Es war eine Falle. In dem Moment, als ich die Waffe an mich nahm, wurde der Innenhof von einer Horde Zombies überrannt. Ich tat was ich konnte und ein paar erwischte ich auch, aber letztlich waren es zu viele und sie überwältigten mich. Mir wurde schwarz vor Augen und...
...
„Zombieschloß 3? Armer Kerl, da mußte ich auch mal durch. Die Viecher kämpfen mit fiesen Mädchentricks und beißen. Wo hats dich erwischt?“
„Level vier.“, antwortete ich noch ein wenig benommen.
„Also warst du schon im Schloßhof? So weit ist mein Spieler mit mir noch nie gekommen. Is ne Lusche.“
Ich erhob mich von meiner Pritsche und suchte einen Spiegel. Natürlich wußte ich, daß die Wunden verschwanden, sobald das Spiel beendet war, aber wie jedesmal mußte ich mich einfach selbst davon überzeugen. Beruhigt registrierte ich, daß die Platzwunde über meinem linken Auge verschwunden war. Auch mein Ohr war wieder da – ebenso wie mein rechter Arm. Alles war wieder in bester Ordnung.
Ich warf einen flüchtigen Blick durch die gewaltige Halle, in der auf mehreren Stockwerken verteilt unzählige Betten standen. Betten, in denen Leute wie ich lagen und auf ihre Einsätze warteten. Sobald jemand bei sich zuhause ein Spiel in seinem Computer startete, mußte einer von uns raus und die Sache an seiner Seite durchstehen. Ein Scheißjob, aber er versprach mehr Abwechslung, als das Leben eines Schreibprogrammes.
Am Anfang, vor vielen Jahren, war es noch leicht gewesen. Man war einfach in einen gelben Anzug geschlüpft, hatte sich in Vogelperspektive durch ein Labyrinth voller Kekse gefuttert und versucht, sich nicht von den vier Monstern fressen zu lassen. Zumindest hatte ich immer gehofft, daß es Kekse waren. Oder man hatte sich in einen roten Klempneranzug gezwängt, Fliegenpilze gegessen und war auf Schildkröten herumgehüpft. Einmal hatte ich sogar eine Prinzessin aus den Fängen eines fiesen Gorillas befreien können. Aber in genau dem Moment, in dem sie mir den fälligen Kuß schenken wollte, war auch schon der Abspann des Spiels gekommen und ich wieder hier gelandet. Verdammter Jugendschutz.
Mit der Zeit sind die Spiele aber immer komplizierter geworden. Der Vorteil war natürlich, daß alles besser aussah, viel realer und so. Leider hatte das uns armen Spielfiguren auch immer mehr abverlangt. Springen und Essen hatte nicht mehr gereicht, plötzlich hatten wir auch Schießen und Autofahren lernen müssen.
„Komm, wir müssen trainieren.“, sagte Pete und zog mich von meiner Pritsche. Er war mein bester Kumpel hier und ich glaube, ohne ihn hätte ich schon längst den Dienst quittiert und mich in den Papierkorb versetzen lassen. Pete war noch nicht so lange dabei wie ich. Darum hatte er die glorreichen Anfangszeiten nicht mitbekommen. Oft fragte er mich, wie es damals gewesen war, als die Grafik noch nicht aus Dreiecken bestanden und die Musik noch keine Dolby-Qualität gehabt hatte.
Er reichte mir eine Zigarette und wir ließen uns vom Shuttlebus durch den Gebäudekomplex zum Trainingsraum bringen. Unser Weg führte uns vorbei an den Depots, in denen unsere Verpflegung und die Ausrüstungen für die verschiedenen Spiele gelagert wurden. Arbeiter stapelten die farbcodierten Kisten, die in zufälliger Reihenfolge aus einem Schacht fielen. Immer, wenn vier mit der selben Farbe nebeneinander lagen, wurden sie abgeholt und eine triumphierende Sirene erklang.
Ich nahm einen tiefen Zug und versuchte, mich schon mal mental auf das Training vorzubereiten. Das wurde immer dann notwendig, wenn ein neues Spiel populär wurde und wir uns die dafür erforderlichen Fähigkeiten aneignen mußten. Ich werde nie vergessen, wie ich damals Englisch lernen mußte, als die ersten Textadventures rauskamen. Oder diese ewigen Geländemärsche für Rollenspiele. Jeder hatte einen Rucksack mit Backsteinen auf den Rücken geschnallt bekommen um die schweren Rüstungen zu simulieren und dann gings ab durch den Wald. Oft tagelang.
Unser Ausbilder war ein kantiger Kerl mit Namen Smith. Er verließ niemals den Trainigsraum und war nur in Tarnkleidung und mit schlechter Laune anzutreffen. Niemals sah man ihn mit einem Lächeln. Es war sein Job, uns zu disziplinieren und er nahm ihn verflucht ernst. Pete und ich gesellten uns zu den anderen Wartenden in der großen Halle und sahen gespannt auf das Podium hinauf, wo Smith soeben das Wort ergriff.
„Männer, es ist ernst! Sehr ernst! Irgendein perverser Programmierer hat ein Spiel erfunden, dessen Held sich verteidigt, indem er seine Arme und Beine von sich wirft.“ Um uns herum entstand nervöses Gemurmel. Arme und Beine werfen. Wie sollte ich das auf meine alten Tage noch hinbekommen? „Männer, ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, ob wir das hier wirklich simulieren sollten. Die Direktive lautet aber, daß wir immer auf alles vorbereitet sein müssen. Im Spiel werden die Gliedmaßen natürlich wieder zurückkommen, aber hier... na gut, wir werden ja sehen. Jack, verteil die Sägen!“
Noch nie zuvor war ich so froh gewesen, daß mein Pieper sich meldete, wie in diesem Moment. Mein Spieler hatte Lust auf eine Partie und das bedeutete für mich Arbeit. Mit einem schadenfrohen Grinsen im Gesicht klopfte ich Pete auf die Schulter und machte mich auf den Weg zur Ladekammer.
...
Die Ausmaße dieses Raumes hatte ich nie ausmachen können. Alles hier war schneeweiß und so konnte man nicht erkennen, wo der Boden aufhörte und die Wand begann. Ich stand auf einem kleinen Podest und entnahm den Hologrammen die nötigen Informationen. Ein Rollenspiel stand auf dem Plan. Also legte ich die Eisenrüstung an, nahm mein Schwert und den schweren Schild und steckte mein Merkheft für Magie in die Tasche. Da ich mir nie merken konnte, welche Handbewegung welchen Zauberspruch auslöste, war das mein wichtigstes Utensil. Auf Überraschungen mit selbstauslösenden Feuerbällen konnte ich nämlich gut verzichten.
Der Ladebalken füllte sich langsam und die virtuelle Welt wurde generiert. Ich kannte das Spiel, schon sehr oft war ich hiergewesen. Das schöne war, daß hier mehrere Spieler zugleich über das Internet versuchen konnten, den Fürsten der Finsternis zu besiegen. So konnte ich mich nebenbei ein wenig mit meinen Kollegen unterhalten.
„Paul, bist du das?“, fragte ich einen schlecht angezogenen Barbaren mit ein paar schweren Verletzungen im Brustbereich. „Was ist denn mit dir passiert?“
„Verdammt, ich hasse es, den Barbaren spielen zu müssen. Mein Spieler hat mich mal gerade auf Erfahrungsstufe drei trainiert und schon schickt der Idiot mich allen Ernstes in die Höhle der Spinnenkrieger.“
„Oh, verdammt. Tut mir echt leid für dich. Soll ich dir einen Heiltrank geben?“
„Was würde dein Spieler dazu sagen?“
„Der wird denken, es wäre ein Fehler im Programm oder so. Das passiert oft.“ Ich reichte Paul den Trank und dazu noch die Keule des wirbelnden Elfen, eine Waffe, mit der er sicher bessere Chancen gegen die Schergen des Bösen haben würde. Ein wichtiger Bestandteil des Spiels war es nämlich, seinen Helden mit möglichst guten Gegenständen auszurüsten, welche die Durchschlagskraft der Angriffe durch Magie erhöhen sollten. Sie trugen meistens so verheißungsvolle Namen wie Bärenklaue des schlauen Zwerges oder Alfreds Mantel der visuellen Zerstörung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es auch Dinge wie Sandalen des räudigen Aales oder Lockenwickler des asthmatischen Schakals geben würde. Zuzutrauen wäre diesen Programmierern praktisch alles.
Das Spiel verlief relativ langweilig. Ich marschierte mit meiner kleinen Gruppe über eine endlose Landschaft, die zwar mit ihren Bäumen, Häusern und den Bergen im Hintergrund phantastisch aussah, aber wenig kämpferischen Anspruch mit sich brachte. Das optische Highlight war unsere Heilerin namens Mia, die nicht nur unglaublich gut aussah, sondern zudem lediglich mit Aphrodites Knochenbikini der Blendung bekleidet war.
Wir begaben uns in eine unterirdische Höhle und metzelten eine ganze Horde von Zombies, Spinnen und Vampiren nieder, um vielleicht irgendwann mal das Tor zur Hölle zu finden. Bei einem der heftigeren Kämpfe ging Paul bei drauf. Ich tat, was ich konnte, aber ich kam zu spät, um ihn zu retten. Eine Gruppe Clowngolems hatte ihn eine Ecke gedrängt und getötet. Natürlich wüßte ich, daß es Paul gut ging und nur seine virtuelle Gestalt gestorben war, aber dennoch tat mir so ein Anblick immer wieder weh.
Nachdem auch Erik, Fred und – was mir am meisten leid tat – auch Mia gestorben waren, trat der Rest unserer Gruppe den Rückzug an. Unsere Spieler dirigierten uns in ein kleines Dorf, wo wir unsere Wunden heilen sollten.
„Hast du das mit Paul gesehen?“, fragte ich Ted, einen Waldläufer der Stufe siebzehn.
„Ja, die haben ihn ziemlich erwischt.“
„Weißt du, als ich damals angefangen habe, war das alles noch aufregend und so... aber mittlerweile... ich weiß auch nicht.“
„Ja, ich weiß. Alles Routine. Hier ein Autorennen gewinnen, da ein Fußballspiel verlieren, dann eine Flagge aus einer gegnerischen Basis klauen und mit dem Skateboard auf die Fresse fliegen. Und am Ende war alles nur ein Spiel.“ Ich war ein wenig erstaunt, daß Ted mich auf Anhieb verstand. Bisher hatte ich immer geglaubt, ich wäre der einzige, der so dachte.
„Ja, genau das meinte ich. Am Ende ist alles nur ein Spiel... weißt du, nichts von dem, was wir hier tun, hat einen wirklichen Sinn.“ Wir verfielen eine Weile in nachdenkliches Schweigen, das ich nutzte, um mein Bier zu trinken.
„Hast du die Geschichte von Mario gehört?“, fragte er mich plötzlich.
„Dem Klempner?“
„Nein, den meine ich nicht. Dieser Mario war einer von uns. Eines Tages hatte er keine Lust mehr und hat sich nach einem Spiel nicht zurückgemeldet.“
„Du meinst, er ist da geblieben?“
„Ja... ja, ich glaube schon. Der Abspann lief, er sollte zurückkommen, aber er machte einfach weiter.“
„Was ist mit ihm passiert?“
„Weiß nicht. Niemand weiß, was nach dem Abspann kommt... Bis auf Mario.“
...
Ich habe mal gehört, daß es im Weltraum eigentlich keine Geräusche geben soll, weil die Luft fehlen würde oder so. Wenn das wirklich stimmte, dann hatten die Programmierer dieses Spiels ziemlichen Mist gebaut. Überall um mich herum knallte es, Lasersalven zischten an meinem Cockpit vorbei und die Antriebe der Raumschiffe brummten. Dazu donnerte mir die ganze Zeit ein nervtötend orchestraler Soundtrack um die Ohren, der es mir schwer machte, mich zu konzentrieren.
Zum Glück mußte ich nicht zielen – das übernahm mein Spieler - , sondern nur den Feuerknopf betätigen, wenn er mir den Befehl dazu gab. Ich saß an Bord eines kleinen Kampffliegers und befand mich mitten in einem stürmischen Gefecht und ballerte aus allen Rohren auf irgendwelche Aliens. Sicher ging es hierbei mindestens um die Zukunft des gesamten Universums.
Nach einiger Zeit Dauerfeuer bekam ich einen Krampf im Daumen, aber ich hatte keine Wahl. Es mußte weitergehen. Irgendwann war es dann endlich geschafft und das letzte Schiff der Aliens war zerstört. Ich fühlte mich schon ein wenig stolz auf mich, auch wenn ich genau wußte, daß gleich wieder alles vorbei sein und ich auf meiner Pritsche sitzend ekligen Haferschleim zu mir nehmen würde.
Plötzlich wurde es stockdunkel, so als hätte jemand das Licht des Universums ausgeknipst. Tatsächlich war es nur der Endgegner, der sich langsam in mein Blickfeld schob und dabei für einen Moment die Sonne verdeckte. Es war ein riesiges Schiff und meine Erfahrung in solchen Dingen sagte mir, daß ich das sicher nicht von Außen zerstören könnte. Tatsächlich blinkte ein Pfeil an meiner Cockpitanzeige und führte mich durch einen Müllschacht ins Innere des Schiffes. Die engen Gänge drohten meinen Jäger zu zerschmettern, aber mein Spieler besaß zum Glück erstaunlich gute Reflexe und navigierte mich halbwegs sicher durch die Schächte. Eine kurze Salve auf den Energiekern des großen Schiffes und es war geschafft.
Überall um mich herum explodierten irgendwelche Tanks und Leitungen, als mein Spieler mich und meinen kleinen Kampfjet wieder aus dem großen Mutterschiff der Aliens herausflog. Ein paar Geschütztürme nahmen mich halbherzig ins Visier, aber sie trafen nicht. Dienten wohl nur der Show, um dem Spieler noch mehr Gefahr zu simulieren.
Natürlich schafften wir es im letzten Moment, das Schiff zu verlassen, bevor es in einem großen, weißen Feuerball explodierte und seine Trümmer quer durch das Sonnensystem schleuderte. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und wartete auf den fälligen Abspann. Das System übernahm jetzt die Kontrolle über mein Schiff und flog es in Richtung der blauen Buchstaben, welche die Namen der Entwickler formten. Es sollte effektvoll um die Schrift herumfliegen, bevor es dann zum Schluß irgendwo im Hyperraum verschwindet. Ich weiß nicht mehr warum, aber plötzlich mußte ich an die Geschichte über Mario denken. Der war einfach weitergeflogen, war nicht wie befohlen zurückgekehrt.
Ich schloß kurz die Augen, schickte ein Stoßgebet an den virtuellen Himmel und betätigte den Steuerknüppel. Ich änderte die vorgeschriebene Richtung und machte mich auf die Suche nach einem Ausgang. Meinem Ausgang.
Dann endlich sah ich es, das Tor in eine neue Welt. Majestätisch leuchteten die acht magischen Buchstaben vor mir im Weltraum.
GAME OVER
Niemand weiß, was nach dem Abspann kommt.
Ich gab Gas.