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Nur ein verdammter Penner
Früher am Tag hatte er eine Offenbarung. Im Licht des aufgehenden Mondes hieß der Pfarrer ihn willkommen wie einen Bruder und bot Hilfe.
Das Bild hinterließ den Eindruck eines Déjà-vu. Darüber nachzudenken war zu verzwickt. Ein anderer Gedanke hingegen war leicht und versprach Hoffnung: Diese Nacht wollte er keine Flaschen sammeln, sondern ein neues Leben beginnen.
Seine Hand hob die Flasche Korn zu den Lippen. „Nein, ganz so einfach wird es nicht werden“, murmelte er und ließ die Flasche sinken. Es war wichtig, nicht völlig abzustürzen. Sonst bekäme er nicht mit, wie der grelle Tag in erträgliche Dämmerung glitt und er verfehlte den Bruder, seine Pforte zu einem besseren Leben.
Der Tag verlief zunächst wie jeder andere. Er hockte in seinem Verschlag aus Brettern und Pappe auf der Matratze, hielt eine Schnapsflasche in der Hand, dämmerte vor sich hin und wartete auf den Abend.
Als er noch ein gebräuchliches Leben führte, erinnerte er sich so gegen Mittag, hieß Warten kämpfen gegen die Ansprüche der Zeit, die mit unwiederbringlichem Vergehen ständig Taten von ihm forderte, bis zum Leben nichts mehr übrig blieb.
„Vorbei“, sagte er zu sich. Selbst Warten war nun anders. Nach verlorener Schlacht und mit den Taschen voller Zeit, bedeutete es nun kämpfen gegen sich selbst.
Er spürte, wie jeder Teil seines Körpers auf spezielle Weise nach Alkohol fieberte.
Seine Selbstbeherrschung schien ihm schwach wie ein Ackergaul mit entzündeten Gelenken. Er peitschte den müden Klepper aufs Äußerste, das Verlangen in seiner Brust zu zähmen; die lechzende Kehle zu ignorieren, die sich trocken und fordernd in ständiger Schluckbewegung befand; die Hand zu bezwingen, die in einem fort die Flasche Fusel an seine spröden Lippen führen wollte.
Siege waren in letzter Zeit immer seltener geworden. Manchen Abend verschlief er im Vollrausch.
Irgendwann am Nachmittag, während draußen im Licht das Leben sich tummelte, brach sein Klepper zusammen. In seiner Verzweifelung kramte er ein Stück Holz hervor und schob es in den Mund. Er kaute darauf herum bis der Schmerz in seinen vergilbten Zähnen mächtig genug war, den Aufruhr der gierigen Körperteile niederzudrücken. Es half eine Weile, Sieg und Niederlage in Waage zu halten.
Jetzt wankte er, den Blick auf seine ungehorsamen Füße gerichtet, zwischen Kastanienbäumen und Schaufenstern die Straße hinunter.
Vor dem türkischen Gemüseladen blieb er stehen, hielt sich an einem der leeren Auslagentische fest, richtete seinen klapprigen Körper senkrecht aus und schloss die Augen. Mit zittriger Hand strich er seinen hutzeligen Regenmantel glatt, als rechnete er damit, jeden Moment dem Bürgermeister zu begegnen.
Dann hob er den Kopf um ein Wagnis einzugehen. Blinzelnd begutachtete er seinen ärgsten Widersacher, der halb verdeckt hinter einem Dachfirst hervor lugte.
Der abscheuliche Glutball formte mit letzter Kraft lange Schatten, statt ihm mit brennenden Strahlen seine schneeweiße und überaus empfindliche Haut von den Knochen zu pellen und Pfeffer in die roten Augen zu streuen.
Zufrieden führte seinen Blick von dem sterbenden Glutball in den Schatten der Bäume. Dort tanzten brennende Hexen durch schwärzlichen Rauch. „Das schad nix, das vergeht“, murmelte er und setzte dann lauter, mit triumphierendem Tonfall hinzu: „Du hast es wahrhaftig geschafft.“ Und über sein knochiges Gesicht glitt ein Grinsen, als hätte er die Sonne höchstpersönlich niedergerungen.
Mit dem Feixen im Gesicht torkelte er weiter die Straße hinunter, bis sein Blick ein Pärchen schräg gegenüber erfasste. Die Leuchtreklame über ihren Köpfen übergoss sie mit Licht. Mit geschwungenen Buchstaben aus gelben, grünen und türkisfarbenen Neonröhren wirkte sie in dieser unter Sommerstaub ergrauten Einkaufsstrasse wie eine Insel mit karibischem Flair. Doch für seine sensiblen Augen war selbst dieses künstliche Licht zu grell.
Zwinkernd hielt er den Blick auf die Beiden, die dort Angebote im Schaufenster musterten. Sie drehten sich flüchtig zu ihm um. Er sah glänzende, genormte Gesichter.
Ob er die Straßenseite wechseln und den beiden ein paar Cent aus der Tasche leiern sollte, überlegte er. Die Zeit hätte er noch. Doch das Licht der Reklame, in dem sie standen, schien ihn abzuweisen. Aber das ist es nicht allein, dachte er, es ist die die Aura, die sie umgibt. Es näher zu beschreiben fiel schwer.
Alkohol in den Adern vernebelt die Wahrnehmung, soviel wusste er. Aber manchmal, wie eben, kam es ihm vor als bündelte der Weingeist die Sinne und erschuf auf diese Weise eine völlig neue Art von Empfinden, das sich ihm in bildhafter Sprache mitteilte. Und dieses Pärchen dort drüben schien von Verbotsschildern umgeben, auf denen nichts Konkretes stand - so mitteilsam war die in Alkohol gelöste Synergie seiner Sinne leider nicht - aber sie hatten die Form von Stoppschildern und es waren große Ausrufezeichen darauf.
Das konnte seinem Empfinden nach nur eines andeuten: Rückte er den beiden auf die Pelle, bekäme er Scherereien. Also blieb er auf seiner Seite der Straße, dort wo die Schatten tiefer waren. Enttäuschung vertrieb sein Grinsen.
Vorsichtig setzte er sich wieder in Bewegung. Sein Ärger über das Paar waberte wie Kneipengestank durch seine Gedanken und er musste darauf achten, sein Ziel nicht zu vergessen.
Den Weg kannte er. Es lag noch ein gutes Stück die Straße hinunter. Hinter dem Schlüsseldienst mit 24-Stunden-Service und an dem Lebensmittelmarkt vorbei, dort, wo die Krone einer Linde in den Himmel ragte und einen Kies bestreuten Platz überdachte, stand die kleine, aus Natursteinen gemauerte Kirche, verborgen hinter dem Blattwerk der Linde.
Die Turmuhr, mit rostigen Zeigern und Ziffern, so entsann er sich, war wie das Gotteshaus, von der Einkaufsstraße her nicht zu sehen. Im Grunde machte sie das zu einer überflüssigen Maschinerie. Doch jemand sorgte für sie, zog das Uhrwerk regelmäßig auf, und so durfte es arbeiten. Mehr erwünschte er sich auch nicht.
Zwei Glockenschläge quengelten hinter der grünen Masse hervor und breiteten sich in der Abendluft aus, die plötzlich so reglos zwischen den Häusern klemmte, dass er für einen Moment glaubte, sie wäre gar nicht da. Ihm wurde andächtig zumute.
Der schüttere Glockenruf rührte ihn auf glückverheißende Weise. Ein Lächeln hob sein Gesicht. Sein Verstand, allezeit auf der Suche nach einem sicheren Weg durch die Realität, doch allzu oft verführt von rätselhaften Irrlichtern seines eigenen Geistes, zeigte ihm seinen Bruder in strahlendes Licht gehüllt, wie er durch das schwere Eichentor die Kirche verließ und hinaus auf den Platz trat, mit wehendem Talar, langen Schritten und schweren schwarzen Schuhen, die sich unter seinem erwähnenswerten Gewicht knirschend in den Kies drückten, bis zur hölzernen Bank unter der Linde eilte, um dort stehend und mit dargebotenen Armen auf ihn zu warten, bereit für das allabendliche Ritual.
Heute, sagte er sich, wird er seinen Bruder nicht verfehlen, heute wird er sich in seine Arme werfen, in ein neues Leben sinken.
Er lief nun schneller, neigte sein lächelndes Gesicht und achtete darauf, nicht über seine Füße zu stolpern.
„Ein Mensch kann wahrhaftig eine Pforte sein“, flüsterte er und ließ sich von dieser Hoffnung tragen, an dem Schlüsseldienst vorbei und vorbei an dem neuen Lebensmittelmarkt, die Arme nach vorn gereckt, bereit seinen Bruder zu umfangen, für alles zu danken, wieder mit einer Uhr am Arm die Zeit zählen, mit ihr ringen, sie unter Arbeit ersticken, um nie wieder welche zu besitzen. Gute Zeit, nur wer am Ende nichts zum Leben von ihr übrig lässt, ist ein König in dieser Welt.
Seine ungehorsamen doch rastlosen Füße schlurften über den Kies, sein Lächeln suchte den Bruder und fand nur Dunkelheit. Er stürzte haltlos und in Schmerz, der Bruder nur ein Irrlicht.
Ein Mensch kann eine Pforte sein, aber nicht in einer Welt voller Könige. Diese Einsicht ließ ihn aussehen wie ein trauriger Clown mit ungeschminkten Lippen.
Neben der Bank unter der Linde entdeckte er eine Flasche, er kroch darauf zu, nahm sie an, rieb sie an seinem Mantel sauber, kein Glas, gutes Plastik, fette Beute, und spähte schon nach der nächsten.