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Nur einen Tag
“Sie haben noch einen Tag”, sagte der Arzt und schaute dem Todgeweihten kurz in die Augen.
“Aha…”, Ralf Maibach starrte auf das Aquarium, in dem dieser dämliche, orange Goldfisch schwamm.
“Einen Tag?”, wiederholte er mit fragendem Ton.
“Ja, es tut mir Leid”, heuchelte der Arzt Mitleid und widmete sich dann seinen Akten.
Maibach blieb sitzen, wusste nicht was er sagen sollte.
“Wir werden uns wohl nicht mehr sehen, Herr Maibach!”, sagte der Mediziner, stand auf und reichte Ralf die Hand, über den Schreibtisch gestreckt.
Ich verrecke und der bewegt seinen Arsch nicht mal um den Tisch herum, dachte Maibach.
Er begriff es erst langsam, ging wie in Trance an der Arzthelferin vorbei, auf den belebten Fußweg. “Einen Tag”, er wiederholte es einmal laut und tausende Male in Gedanken.
“Wieso sterbe ich eigentlich?”, hatte er den Arzt gefragt.
“Wieso, wieso…, das ist doch egal, ob es nun ein Tumor in der Prostata oder ein LKW ist, macht das wirklich einen Unterschied?”
“Werde ich leiden?”, war Maibachs darauf folgende Antwort, die gleichzeitig eine neue Frage war.
“Sie sterben!”, rief der Arzt,atmete tief durch und fuhr fort, “… natürlich werden sie leiden”
Es folgte ein ungläubiges Lachen von Seiten seines Hausarztes.
Als er diese Worte aus dem Munde seines einstigen “Heilers” hörte, wurde das Sprechzimmer so klein, kleiner als es ohnehin schon war, der Sauerstoff wich aus dem Raum und Ralf rang nach Luft.
Nun stand er auf der Hauptstraße. Er schaute sich die vielen Menschen an, die da so gingen, lachten, lebten.
Die wussten nicht, das er todkrank war, einen Tag hatte er ja nur noch, sagte er zu sich selbst in Gedanken und starrte auf einen Mann, der gerade Gemüsekisten trug.
“Einen Tag!”, sagte Maibach laut und schaute dem Kistenträger in die Augen, diese versuchten mühsam, an den Kisten vorbei zusehen. “Was?”, fragte der Mann verwundert.
Maibach starrte ihn an. Der Mann würdigte ihn noch eines kurzen Blickes und ging dann, bemüht die Balance zu halten, weiter.
Ralf Maibach lief den Fußweg entlang, fing an ein Lied zu pfeifen. Kein Fröhliches, aber auch kein Trauriges, es war einfach so eine Melodie.
“Was solls”, sagte er zu sich selbst, als sein Blick über eine Schaufensterscheibe wanderte.
Er trat näher an sein Spiegelbild heran, fuhr mit der Hand leicht über das Glas.
“Ich habe es sowieso zu nichts gebracht!”, flüsterte er seinem Ebenbild aus Glas zu.
“Kein Haus, keine Frau und keine Kinder, nur eine schäbige Zwei-Zimmer-Wohnung in einem miesen Stadtteil”, sprach er offen mit sich selbst. Die alte Frau, die sich den Schmuck hinter der Glasscheibe ansah, hörte nicht sehr gut und so bekam sie auch nicht mit, wie der Mann neben ihr, über sein vergeudetes Leben philosophierte.
Plötzlich griff Ralf den Kopf der grauhaarigen Dame und drückte ihn, mit all seiner Kraft, an die Glasscheibe. Die Frau wusste nicht wie ihr geschah.
Was passierte denn jetzt?, fragte sie sich in Gedanken und war nicht fähig ein Wort heraus zu bekommen.
“Da, können Sie das Zeug jetzt besser sehen, Sie vertrocknete Schlampe!”, rief er und grinste, während er das faltige Gesicht der Frau fest gegen das Schaufenster presste.
Es machte ihm Spaß, er konnte machen was er wollte, jetzt war doch sowieso alles egal.
Die Frau versuchte ihre Lippen zu öffnen, drückte nebenbei ihre Hände gegen die Glasscheibe, um dem Druck zu widerstehen. Das Beste an der Sache war Ralfs Meinung nach, dass es scheinbar niemanden zu interessieren schien.
“Bi… bitte”, hauchte die alte Frau heraus.
Er zog sie an den dünnen, weißen Haaren nach hinten, sie war darauf nicht vorbereitet und ehe sie sich versah, schlug er ihren Kopf fest gegen die Scheibe, doch diese zersprang nicht.
Er schlug ihn erneut dagegen, doch die Scheibe hatte nicht mal einen Kratzer.
Plötzlich ließ er von ihr ab und bemerkte, dass er einige silberne Haare in der Hand hielt.
“Ups”, sagte er und grinste daraufhin, während die alte Dame zusammensackte und der billige Pelzmantel, den die Frau trug, im Dreck landete. Sie wimmerte leise, hielt sich dabei die Stirn, die gar nicht blutete.
Ralf schaute sich um, keiner hatte etwas bemerkt.
Er grinste erneut, ging einige Schritte von der Frau weg, rannte dann auf sie zu und trat ihr mit dem linken Schuh genau ins Gesicht. Ein gedämpftes “Ahh”, war zu hören.
Mit einem tiefen Atemzug ließ er die Frau auf dem Boden liegen und ging weiter.
“Die hat ihr Leben gelebt”, sagte er entschuldigend für seine Tat.
“Ich meins nicht”, murmelte er sich selbst daraufhin bemitleidend zu.
“Geraucht!”, rief er heraus, “Ich habe noch nie geraucht.”
Ohne weiteres Zögern, lief der 34jährige Single zum Kiosk.
“Eine … Marlboro”, sagte er und zahlte in Münzen.
Das Feuerzeug kaufte er sich gleich mit und war schon ganz aufgeregt.
Hastig zündete er sich die Kippe an und hielt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger.
Dann zog er an dem Glimmstengel, er fühlte nichts Besonderes, irgendwie war es so, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Schließlich musste er aber doch husten, er hustete und lachte nebenbei. So stark, das Speichel sein Kinn hinunterlief, während er die Zigarette auf den Boden warf.
Maibach wischte sich die Spucke weg und zertrat die Zigarette.
“Einen Tag!”, sagte er mit einem Grinsen im Gesicht.
Der Kioskbesitzer schaute ihn fragend an, das hatte er noch nicht erlebt, Besoffene und Junkies, aber das nicht.
Ralf ging weiter in Richtung Park. Ein Herbsttag, zu kalt für was Kurzärmliges, aber zu warm für eine Jacke. Dort sah er eine Joggerin, 30 Jahre alt vielleicht.
Bestimmt eine Businessfrau, es musste seiner Meinung nach eine sein. Eine dieser Weiber, die jede freie Minute damit verbrachte ihren Arsch für die Vertragspartner noch knackiger zu machen.
Zu beschäftigt wäre sie um mit Leuten wie ihm auszugehen.
“Gut, ich vergewaltige sie”, beschloss er und rannte hinter der joggenden Frau her. Sie blickte hinter sich und sah den hechelnden Mann, der ihr folgte.
Die Joggerin lief immer unkontrollierter, ja, sie bekam Panik, fing an zu rennen. Was wollte der Typ denn?, dachte sie in ihrer Angst.
Doch er war schneller, der Todkranke war schneller.
Maibach packte sie am Arm und riss sie zu Boden.
Beide stürzten, doch er lag sofort auf ihr, mitten am Tag, in einem Park wo sonst Kinder spielten.
Mit den Armen drückte er ihre wild wedelnden Hände auf den Kies.
“Halt deine dumme Fresse!”, rief er und merkte, dass er sie nicht ausziehen konnte, wenn er ihre Hände festhielt.
Er überlegte, während die Frau alles tat, um sich zu befreien, doch vergebens.
Ralf versuchte sich genau daran zu erinnern, wie es die Vergewaltiger in den Filmen taten.
“Scheiße!”, fluchte er und kurz darauf wurde er auch schon weggezogen.
Etwas griff ihn am Kragen und zog ihn nach hinten, auf den Rücken.
Maibach sah einen finster dreinblickenden Mann, der ihn anstarrte.
“He…”, bevor er aussprechen konnte, trat ihn auch schon ein schlammbeschmierter Schuh ins Gesicht. Nicht ein einziges Mal, wie er es bei der alten Dame getan hatte, dutzende Male.
Ralf war so überrascht, dass seine Hände nicht schnell genug waren, die Tritte abzublocken.
Seine Zähne wurden aus dem Zahnfleisch geschlagen, das spürte er, dafür brauchte er sie nicht einmal anzufassen. Schnell wurde er müde, die Schmerzen störten ihn gar nicht mehr, Ralf Maibach schloss die Augen.
...
Er öffnete die Augen, “ein Traum?”, stöhnte er leise.
Als er das Blut sah, in dem er lag, wurde Maibach klar, dass es nur einige Sekunden Bewusstlosigkeit waren.
Der Fremde, der kein Gesicht zu haben schien, nur ein Fremder eben, stand neben ihm und war immer noch eingehend damit beschäftigt, dem kranken Maibach in den Magen zu treten.
Doch die Schmerzen waren weg, Ralf war unbesiegbar, er lächelte, während Blut über seine Lippen auf den Asphalt floss.
“Un…“, Tritt, “…sterblich”
Doch die Glückseligkeit war nur von kurzer Dauer, die Schmerzen fanden zurück in seinen Körper.
Der Arzt hatte Recht, er würde sterben und er würde leiden. Doch was ihn am meisten störte war, das er einige restliche Stunden Leben weggeworfen hatte. Soviel hätte er noch anstellen können, eine Bank überfallen, ein Kind missbrauchen und diesen Pudding in der Cafeteria probieren, den es seit Mittwoch gab.