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Nur einmal leben
Die Idee des Paradieses konnte Lisa überhaupt nicht leiden. Denn um einen Himmel über die Erde zu stellen, durfte auf ihr kein glückliches Leben möglich sein. Was sonst sollte den Himmel im Gegensatz zur Erde erstrebenswert machen? Trotzdem versuchte sie das Reich Gottes zu erreichen. Sie stieg lange empor, aber fand es nicht. Sie stieg noch höher, ließ alles zurück, entfernte sich weiter, versuchte lange sich über das leidvolle Leben zu erheben, aber fand nichts. Nicht einmal die Hölle. Keinen Teufel, keinen Gott. Nichts war da, nur ihre Welt.
„Nur einmal Maria, nur einmal in meinem Leben will ich verwirklichen was ich fühle, wonach mir verlangt. Nur diese fünf Sekunden intensivstes Leben, nur das noch, dann ist mir alles egal.“, meinte er mit bedrückter Stimme, blickte kurz in ihre entsetzten Augen und machte schnell, bevor sie noch etwas sagen konnte, den entscheidenden Schritt.
Sie erstarrte in ihrer Fassungslosigkeit, schmerzend schossen Erinnerungen in ihren Kopf. Sie sah ihn, vor wenigen Minuten noch vor ihr stehend: „Ich bin Pessimist für die Gegenwart und Optimist für die Zukunft.“ „Ich kann nichts daran ändern, ich liebe dich nicht. Unsere Zukunft ist nicht die selbe.“ „Siehst du, das ist es, mein Optimismus wird ewig an der Zukunft hängen und diese wird niemals Gegenwart. Das Leben ist, wie Asphalt, nur grau.“ Sie erinnerte sich noch genau, wie er mit verzweifelt hoffenden Augen vor ihr stand, wie sie sein Verlangen nach ihr in jedem seiner Worte spürte. „Unsere Zukunft ist nicht die selbe. Wie konnte ich so etwas Dummes-“ eine aufknallende Türe riss sie aus ihren Gedanken, wilde Flüche kamen ihr schreiend entgegen.
Er raste an Fenstern vorbei, hörte wohlbekannte Schreie. Die Zeit schien ihm stehen zu bleiben. Seine Gedanken flogen durch schwarze Wolken, durchbohrten sie, bis alles in hellem Licht erschien. Zwei Engel, sich mit blutigen Schwertern bekämpfend kamen vor seine Augen. Er kannte sie, deren Köpfe jetzt vor seine Füße rollten und eine rote Spur hinterließen. Plötzlich wurde wieder alles dunkel, der Teufel trat hervor und blickte ihn mit brennenden Augen an. „Bernd, ich komme dich holen.“ Irgendwie fand er die rote Figur lustig, denn eigentlich war es genau anders herum: Er selbst kam zu ihm und wenn der Himmel den gleichen Schöpfer wie die Erde hatte, empfand er die Hölle ohnehin als erstrebenswerter. „Zwei Sekunden, schon fast 80km/h.“ Seine ersten Gedanken an das nahe Ende.
Sie drehte sich um und sah Lisa, mit einem Messer in der Hand, schreiend auf sich zukommen. „Du hast mein Leben zerstört! Du bist schuld! Deinetwegen kann ich ihn nicht haben. Du hast uns ins Verderben gestürzt.“ Maria stand wie versteinert da, der Schrecken steckte in ihren Knochen. In Gedanken betete sie zu Gott: „Was habe ich falsch gemacht? Herr, was soll ich tun? Hilf mir, ich flehe dich an.“
Wieder durchbrach er die dunklen Wolken. Diesmal saß er im lichten Wald, die Vögel zwitscherten und er hielt Maria in seinen Armen. Voll Liebe blickte er sie an, sie war so wunderschön mit ihren kurzen Haaren und dem frechen Bubengesicht. Er wollte sie küssen aber sie zerplatze wie eine Seifenblase. Alleine saß er in dem plötzlich verfinstertem Wald und vernahm eine lauter werdende Frauenstimme, von Sehnsucht gemartert wie ein Wolf heulend. Er riss die Augen auf und der Wind trieb ihm Tränen über sein Gesicht. „Ja, so schnell. Halt! Nein! Langsamer! Es soll noch nicht enden.“
„Du hast ihn getötet!“, brüllte Lisa und holte mit dem Messer aus. Maria stand immer noch bewegungslos und mit gläsernen Augen da, hoffte immer noch auf Gott. Sie waren nur noch wenige Meter voneinander entfernt.
Er näherte sich dem Ende. Jetzt, wo er es so nah vor Augen hatte, wo er alles so intensiv spürte, sah er jedes Details, spürte alles wie nie zuvor. Den Wind, das Flattern seiner Kleider, die getriebenen Tränen, den stockenden Atem und die Welt, wie sie rasend an seinen Augen vorbeihuschte. Schon fast im letzten Moment, kam ihm der entscheidende Gedanke.
Verzweifelt stach Lisa zu. Maria's Schreie blieben in ihrer Kehle stecken und sie wurde langsam bleich. Mit vor Schmerz und Entsetzen verzerrtem Gesicht stand sie ihr, Auge in Auge, gegenüber.
Der Boden war kurz vor seinen aufgerissenen Augen. Ein erstes freudiges Lächeln begann sich über sein Gesicht zu verbreiten. „Der Asphalt, er ist nicht nur grau. Nein, feinstes Mosaik. Ein schöner Ort zum sterben.“ Mit einem Schlag wurde um ihn alles schwarz, seltsam klar, wie reinstes weißes Licht.
„Ich habe ihn geliebt.“, stammelte Lisa im Weggehen, beugte sich weinend über das Geländer, schaute nach unten und sah ihn, ihre einzige Liebe, weit entfernt am Boden liegen.
Ungläubig das ihre weiße Bluse färbende Blut betrachtend stand Maria da und fiel entkräftet zu Boden. Der Geist schon in das dunkle Nichts entschwindend, röchelte sie mit letzter Kraft: „Gott? Warum?“
Kleine Tropfen fielen nach unten. Sehnsüchtig schaute Lisa ihnen nach, „Warum? Warum kann ich nicht zurück?“ und starrte auf das beschriebene Papier. Verzweifelt ließ sie sich nach vorne kippen. „Ja, verwirklichen!“ In Tröpfchen zerfließende Buchstaben kamen auf sie zu: „Gott? Warum?“
Mit einem dumpfen Schlag landete ihr Kopf auf dem von Tränen getränkten Block. Schwermütig betrachtete sie das verschwommene Muster aus Weiß und blauer Tinte. „Gott? Warum? Warum kann ich nicht nur einmal leben?“