Nur noch einen Moment
Der Frühling hatte Einzug gehalten. Die Bäume bekamen junge Blätter und wärmende Sonnenstrahlen durchfluteten den Lesungssaal.
Der erste Tag meiner Studienzeit war angebrochen.
Da saß ich nun. Neben mir hockte ein junger Mann. Er hatte dunkelblondes Haar, braune Augen und einen Drei- Tage Bart. Ab und zu blickte er auf meine Notizen. Der Dozent faselte vor sich hin.
„Verstehst du was er sagt?“, fragte mein Banknachbar.
„Ja, es geht so.“, antwortete ich.
„Max, im übrigen.“
„Hä?“, ich sah in gepuzzelt an.
„Nein, ich heiße Max.“
„Ach so.“
„Sie zwei da oben! Haben sie es nicht nötig mir zuzuhören?“, rief der Dozent.
Das war peinlich. Wir versanken in unsere Sitze.
„Wie heißt du?“, fragte mich Max nach der Vorlesung.
„Lea.“
„Freut mich.“, er lächelte mich an.
So habe ich Max kennen gelernt. Ich muss oft daran denken. Die darauf folgenden Monate waren die besten meines bisherigen Lebens.
Ich war froh als ich aus der miefigen Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war, gehen konnte. Jetzt war ich hier. Hunderte Kilometer entfernt.
Ich erinnere mich daran als wir das erste Mal zusammen gekocht haben. Max wohnte in einer WG, doch zu dieser Zeit war sein Mitbewohner gerade verreist. Die Küche sah aus als wäre eine Horde Büffel hindurch gerannt.
Aber das Essen beim Japaner hinterher war wirklich gut.
Als ich seine Eltern kennen lernte erklärte das einiges. Max war seinem Vater Frank wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber Max hatte Marias Sinn für Humor und ihren Sarkasmus.
Bei einem Glas Wein in ihrer renovierten Altbauwohnung wurden mir Kinderfotos gezeigt. Ich kugelte mich vor Lachen.
Auf wie vielen Partys waren wir gewesen. Oder hatten einfach einen faulen Abend veranstaltet. Ein Video angeschaut und uns die Zeit mit etwas Wodka verschönert.
Diese Erinnerungen bedeuten mir sehr viel, denn es waren die Letzten, die gut waren.
Alles fing mit Kopfschmerzen an.
„Ich weiß nicht was in letzter Zeit los ist.“, Max hielt sich den Kopf
„Was ist denn?“
„Ich habe in letzter Zeit wahnsinnige Kopfschmerzen.“
„Warst du schon beim Arzt?“
„Ich gehe doch nicht wegen Kopfschmerzen zum Arzt.“, stritt er ab.
Ich zuckte mit den Schultern. Schließlich war er alt genug.
An einem Abend kam ich zu ihm. Wir wollten die Aufzeichnungen der letzten Vorlesungen durchgehen.
Als er mir die Türe öffnete war er sehr blass. Schweiß stand ihm auf der Stirn.
„Was ist mit dir? Du siehst furchtbar aus.“
„Mir ist so wahnsinnig schlecht.“, er lies sich auf das Sofa fallen.
„Soll ich nicht den Arzt rufen?“, ich machte mir große Sorgen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Wenn man die Grippe von vor 3 Monaten nicht mit zählte.
„Nein, brauchst du nicht.“
„Max, jetzt spiele nicht den Helden. Vielleicht hast du die Grippe nicht richtig ausgeheilt und jetzt kommt sie zurück. Das kann dann viel schlimmer werden.“
„Lea, mach mal halblang!“
„Du treibst mich noch in den Wahnsinn!“, rief ich. „Hör doch mal auf mich.“
Eine Schweißperle lief an seiner linken Schläfe vorbei. Plötzlich krümmte er sich vor Schmerzen. Ich zögerte keine Minute und rief den Notarzt. Egal was er sagte.
Maria und Frank konnte ich nicht benachrichtigen, sie waren auf einer Forschungsreise. Irgendwo im Regenwald von Brasilien.
Ich saß in einem kalten Flur. Das grelle Neonlicht tat meinen Augen weh. Wie lange ich wartete wusste ich nicht.
„Sie können jetzt zu ihm.“, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken.
Max lag in seinem Bett.
Er sah mich an.
„Ich frage dich jetzt nicht wie es dir geht.“
Max lächelte schwach.
„Ich habe einen Tumor.“, sagte er trocken.
Ein gewaltiger Schlag traf mich. Ich wusste nicht was ich darauf antworten sollte. Ich hatte mit vielem gerechnet. Das er einen Rückfall erlitten hatte, aber das?
„Du machst Witze!“, ich grinste dämlich.
Er sah mich nur an.
„Du machst keine Witze.“, stellte ich fest.
Was in diesem Moment in mir vor ging weiß ich nicht mehr. Trauer, Wut, Enttäuschung?
„Können sie es operieren?“
„Nein.“, antwortete er gefasst.
Ein weiterer Schlag traf mich.
„Warum?“
„Ich habe schon Metastasen, deswegen die Kopfschmerzen.“
„Was ist mit einer Chemotherapie?“
„Lea, das würde auch nichts bringen.“
Ich fing an zu weinen.
„Du kannst mich aber nicht alleine lassen!“
„Ich lasse dich auch nicht alleine. Ich bin immer bei dir.“
Ich konnte nicht anders als ihn zu umarmen.
Am nächsten Tag holte ich ihn aus dem Krankenhaus ab. Wie er es gedreht hatte das er gehen konnte war mir ein Rätsel.
Von da an nutzten wir jede Gelegenheit um das zu tun, was wir für Spaß hielten. Wir schwänzten Vorlesungen. Lagen am Ufer eines Sees im Park. Beobachteten andere Menschen. Gingen ins Kino, ja selbst ins Theater. Er wollte mal „mitreden“, wenn es um die Kritiken ging. Einmal sprach er einen alten schrumpligen Mann an der sich als Kritiker heraus stellte und Max diskutierte angeregt mit ihm über das Stück.
Wir waren auch auf vielen Partys. Wir wollten einfach nur feiern. Alles vergessen, einfach Leben.
Maria und Frank waren immer noch in Brasilien. Max hatte ihnen keine Nachricht zukommen lassen. Ich verstand nicht warum.
Einmal fragte ich ihn warum er es nicht wollte. Seine Antwort war das sie ihn so in Erinnerung behalten sollten, als sie weg gefahren waren. Ich verstand nicht warum. Auch unsere Freunde sollten es nicht erfahren. Ich würde mir Sorgen für zwanzig machen hatte Max gesagt.
Die Wochen vergingen.
Ich kam von einer Vorlesung zu der ich unbedingt musste. Er lag im Bett und meinte nur ich soll zu ihm kommen. Wir hielten uns einfach nur fest und fingen an zu weinen. Ich rief dann den Arzt. Er wurde sofort ins Krankenhaus gebracht.
Als ich zu Max kam war er an Maschinen angeschlossen. Doch er atmete selbst, was mich irgendwie Stolz machte. Ich blieb bei ihm.
Ich erzählte ihm von meiner Vorlesung und wie langweilig sie war. Doch ich hatte das Gefühl als würde er jedes Wort von mir genießen. Egal wie dumm ich mich ausdrückte, aus Hilflosigkeit. Er schmunzelte nur und fragte mich Dinge über den Dozenten.
Wir kannten uns genau 2 Jahre.
Die Sonne ging unter und der Duft vom Frühling drang durch das offene Fenster herein. Wir sahen nach draußen, genossen den Sonnenuntergang und hielten unsere Hände. Ich schlief dann an seinem Bett ein. Als er mich weckte hatte ich Tränen im Gesicht, ich hatte im Schlaf geweint. Ich solle mir keine Sorgen machen sagte er wieder, doch ich konnte nicht aufhören zu weinen. Dann kam der Arzt und ich zwang mich aufzuhören. Er untersuchte Max noch einmal und gab ihm ein Schmerzmittel.
Dr. Bergholz sagte mir nichts was ich nicht schon wusste. Ich saß da, er schlief. Zu meiner Verwunderung lächelte Max im Schlaf. Er sah aus wie ein kleines Kind. Irgendwie hilflos und verletzlich. Plötzlich schlug er die Augen auf. Er flüsterte etwas. Ich beugte mich vor um ihn zu verstehen.
Heute noch spüre ich seinen Kuss auf meinen Lippen.
„Grüße meine Eltern.“, war das Einzigste was ich verstanden hatte.
Dann hörte ich nur noch ein Piepen.
Sekunden später stürmten ein Arzt und zwei Krankenschwestern in das Zimmer. Ich wurde nach draußen gedrängt.
Ich werde die Zeit nie vergessen. Sie hat mir gezeigt was Leben bedeutet.
Carpe diem.