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off-stage
Off-stage
"Und du hast es verdient!" Sie starrt noch einen Moment lang in den gleißenden Spot, dann fällt mit einem leisen Rauschen der schwere Vorhang zwischen sie und die Menge. Ohne auf sie zu achten, springt er auf, während sie mit dem Messer noch über ihm steht, und zieht die kurze Jacke zurecht. Streicht sich durchs Haar. Sie hat sich kaum bewegt. Nicht einmal das Messer weggeworfen, hinter den Kulissenvorhang. Ihre Augen kommen langsam zur Ruhe nach der blendenden Hektik.
Der Vorhang hebt sich Stück für Stück wieder, das Messer noch in ihrer Hand. Der Zuschauerraum ist jetzt schwach erleuchtet, ein Spot immer noch auf die Bühne gerichtet. Sie kann das Blut pochen hören, in ihren Adern, ihrem Kopf. Wie im Rausch. Die Menge klatscht. Mehr als an den Abenden zuvor. Lauter, leidenschaftlicher. Ohne Bedeutung. Er geht nach vorn. Sie folgt automatisch. Verbeugen, Applaus, Vorhang, noch einmal. Stühlerücken, Schritte, Stille.
Beim zweiten Vorhang greift er nach ihrer freien Hand, zieht sie nach vorn, gemeinsames Verbeugen. Seine Berührung brennt wie Feuer. Sticht in ihre Hand. Die andere krampft sich um den Dolch. Weiße Knöchel, pochendes Blut. Tausend Augen auf sie gerichtet, trotz der Verletzung lächeln. Bis der Vorhang fällt.
Erleichterung und ein schneller Ruck, um ihm die Hand zu entziehen. In Gedanken ist sie schon von der Bühne. Die Schichten abschminken. Das Kleid ablegen, sie selbst sein. Aber der Applaus reißt nicht ab. Ein neuer Lichtstrahl unter dem Vorhang hindurch und wieder nach vorn, verbeugen. Er macht einen Luftsprung, johlt, fasst sie um die Taille und hebt sie vom Boden. Sie fühlt den Schwindel. Das Messer noch in der Hand, inflagranti. Und er hat es verdient. Hat mehr verdient, als sie getan hat. Hat sie nicht verdient.
Der Applaus ihres Lebens und sie zieht sich in einen Kokon zurück. Hinter Make-up, blutroten Lippenstift und ein langes Samtkleid, purpurrot und fließend.
Unmittelbar nachdem der Vorhang sich auf die Bühne legt, reißt sie sich los. Stürmt den Gang hinunter und schlägt die Garderobentür zu. Tausendfach geübte Handbewegungen: Wattebausch, Lotion, lange Striche. Als sie die Farbe aus den Augen reibt, quellen die Tränen heraus. Keine Spur des Rausches geblieben.
Er hatte sie zerstört. Nur Minuten vor dem Vorhang. Nach all den Monaten. Nach den Gefühlen und Versprechen. Den gemeinsamen Plänen. Nur Augenblicke bevor sie hinausgehen mussten, zu ihrem großen Abend, hatte er zu ihr hinuntergesehen und gesagt: "Nachher müssen wir reden." Sein Blick dabei sprach verschlüsselte Bände. Erschreckte sie durch und durch. Bis zur Pause hatte sie unter Strom gestanden. Wie sie die Worte über die Lippen brachte, war ihr schleierhaft. Warum sie funktionierte, konnte sie nicht erklären. Sie bewegte sich wie in Trance.
In der Pause geht er ihr aus dem Weg, schließt sich in der Garderobe ein. Erst unmittelbar vor dem Vorhang steht er wieder neben ihr. "Tut mir leid, Kleines", seine Stimme klingt rauer als sonst. "Sicher nicht der richtige Augeblick dafür, aber ... was soll’s: Lisa und ich sind ein Paar." Die Bewusstlosigkeit sickert in ihr Hirn wie Regen in ein frisches Blumenbeet. "Wie lange schon?", irgendetwas treibt sie zur Selbstmordfrage. "Zwei Monate oder so", der Tonfall beiläufig und ruhig, während er hinaustritt, der Vorhang schon oben. Die Szene beginnt.
Zwei Monate. Das bedeutet: schon immer. So gut wie immer. Sie hatten sich im September kennengelernt. Als sie mit den Proben anfingen. Also vor drei Monaten und zwei Wochen. Alles war so schnell gegangen. Gutgegangen. Ein Paar auf der Bühne. Zwei Wochen später auch im Bett. Er ist großartig, in beidem.
Ihre erste große Rolle, ihre erste große Liebe. Gemeinsame Wohnung, auch wenn das Wahnsinn ist, nach vier Wochen. Gemeinsamer Durchbruch. Ein Paradestück für zwei. Für sie und ihn. Betrug von Beginn an. Beinahe.
Sein Monolog und ihr Stichwort. Ihre Bewegungen unter Schock. Ferngelenkt. In der dritten Szene sein Geständnis, er habe sie betrogen. Hier sollen ihre Emotionen kochen, übersprudeln. In Mord enden. Während ihr Bühnen-Ich ihn umrundet, einkreist, anschreit, beginnt in ihr der Lavastrom durchzubrechen. Sie hat keine Kraft mehr, ihn aufzuhalten. Während ihre Lippen weiter die Worte des Skriptes formen, funkeln ihre Augen vor Hass und Zorn. Ihre Gesten und Bewegungen werden von ihren Emotionen davongerissen.
Ihr Zorn türmt sich vor ihr auf und entlädt sich in dem Stich in sein Herz. Nicht darin, ihn ins Messer fallen zu lassen, wie im Skript, sondern neun Mal auf ihn einzustechen. In blinder Raserei.
Sie kann ihn atmen hören. Er steht in der Tür zu Garderobe. "Du warst großartig, Kleines! Komm raus, sprich mit den Kritikern. Sie sind alle hier. Die Großen, weißt Du? Mann, bin ich stolz auf Dich, auf uns!"
Langsam dreht sie sich um. Make-up halb über das Gesicht verschmiert. Der Schock ist verraucht, die Wut schwillt an. Er lächelt: "Lass uns feiern, Kleines." Sie sieht ihn bewegungslos an. "Jetzt komm schon!" Sie greift nach der Haarspraydose, trifft die Wand neben seinem Kopf. "Feier doch mit Lisa!", er wird ihre Worte kaum hören. Lacht laut, lauter. Sie dreht sich halb von ihm weg. "Du hast das alles wirklich geglaubt? Lisa? Kleines, sei doch nicht blöd! Sie ist ok, ja. Aber doch nicht... Blödsinn! Du bist doch mein Kleines."
"Warum dann?" Ob sie es sagt, oder er es in ihren Augen liest, ist ihr egal. "Weil du wundervoll bist! Weil dein Spiel so echt war, wie noch nie. Weil es aus der Seele kam. Die Spannung im ersten Teil und der Zorn im zweiten. Kleines, du kommst noch mal groß raus. Und mir hast du es zu verdanken."
Ihm wird schwarz vor Augen, während er begreift, dass die Blumenvase seine Stirn getroffen hat. Sekunden später zerrt sie ihren Mantel vom Haken und steigt über ihn hinweg.
"Und du hast es verdient!"