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Offenes Verließ
Es ist Herbst. Es regnet schon wieder. Im halbdunklen Morgengrauen stürzt
Corinne hinaus zu ihrem Auto und fährt gehetzt los. Zu spät, da sie den morgendlichen Kampf zwischen dem großen, grauen Schweinehund namens „GehinsBüro“ und sich selbst, erst nach mehreren Runden halbwegs gewinnen konnte. Immer wieder streckte er sie nieder, so daß sie nach hinten fiel und zurück in ihre kuschelweiche Matratze gepreßt wurde. Lediglich der imaginäre Chef war noch furchterregender und stärker als der innere Schweinehund. Deshalb war sie schließlich aufgestanden. Während der Fahrt sah sie den grimmigen Vorgesetzten vor ihrem geistigen Auge. Sah wie er in seinem Sessel saß und eine persönliche Erklärung verlangte. Diese Erklärung wurde von ihm ausdrücklich erbeten, wenn man unpünktlich war und nach acht Uhr erschien. Corinne dachte darüber nach was sie tun könne, überlegte sich krampfhaft eine mögliche fadenscheinige Erklärung. Das schlechte Gewissen nagte an ihr. Die Angst fuhr mit ihr, als sie über die regennasse Autobahn raste. Es ging um ihren Job.
Endlich angekommen. Sie rast über den Firmenhof, bremst, parkt ein. Alle anderen Parkplätze sind schon belegt. Sie ist die Letzte. Nein, doch nicht, da kommt noch Einer angestürmt. Markus, er kommt nie aus den Federn, obwohl er direkt um die Ecke wohnt. „Vorletzte sein, ist aber auch nicht viel besser“, denkt sie. Corinne stürmt aus dem Fahrzeug in das große, weiß-blaue, gefängnisgleiche Büro. Von hier würde sie erst wieder in neun Stunden entlassen werden. Freiheit für einen Abend und eine Nacht. Einen wunderbaren Abend mit ihrem Ehemann und eine unruhige Nacht. Das Einschlafen fällt ihr so schwer, denn sie weiss ja bereits was sie am nächsten Morgen erwartet.
Nun ist es fünf Minuten nach acht, diese Zeitangabe glich eher der Uhrzeit 5 vor 12. Sie hat Glück, die zu spät gekommenen Minuten liegen noch im Toleranzbereich. Sie schleicht in ihr kleines Büro, vorbei am Zimmer des grimmigen Chefs und beginnt schnell mit der Arbeit.
Zahlen über Zahlen tippt sie. Rechnung um Rechnung wird eingebucht. Nichts als nur Ziffern und Nummern.
Es gibt Rechnungsnummern, Kundennummern, Kontonummern, Bankleitzahlen, Artikelnummern, Buchungsnummern. Ihr wird irgendwann schwindelig von all diesen Zahlen. Sie muss geistig flüchten Corinne sieht aus dem Bürofenster hinaus, denn sie hält die Enge nicht mehr aus. Grosse Traurigkeit umgibt sie. Das Leben draußen zieht scheinbar an ihr vorbei. Sie kann es nicht festhalten. Sie kann nicht daran teilhaben.
Dieses träge Einerlei des Büroalltags erdrückt sie. Erdrückend, gleich einem dicken Elefanten, der versuchen will sich auf ihren Schultern niederzulassen. Nur draußen vor dem Bürofenster findet sie eine kurze Erlösung. Draußen stehen zwei stolze, riesige, alte Buchen. Ihnen wird nie langweilig, der Wind durchfährt ihre Blätter. Ihre Stämme werden manchmal sanft in die vier verschiedenen Himmelsrichtungen gebogen, je nachdem von welcher Seite der Wind bläst. Viele gefiederte Freunde, suchen sie auf, lassen sich auf ihnen nieder.
Vor dem Fenster, die kleine Luke der Freiheit, befindet sich auch ein Stahlgeländer. Es umschließt das gesamte Gebäude. Es stört sogar den Empfang des Radios. Noch nicht mal diese Ablenkung funktioniert. Es dient aber oft einem schwarzen Vogel als Aussichtsplattform. Eine Amsel plazierte sich auch in diesem Augenblick darauf, als Corinne aus dem Fenster sah. Die Amsel sah zu Corinne herüber, wie sie da an ihrem Computer saß, als wolle der Vogel sagen: „Mach es doch wie ich! Spann deine Flügel! Strecke Dich und dann flieg einfach fort. Willst du hier noch mehr Zeit verschwenden, noch mehr Jahre hier verbringen? Sind drei nicht genug? Es verändert sich doch nichts mehr. Dein Leben ist doch viel zu kurz! Du hast doch vor einem Jahr geheiratet. Glücklicher siehst du aber nicht aus. Ich sehe dich hier jeden Tag sitzen, sehe wie du Trübsal bläst. Du hast schon Falten um deine Mundwinkel. Es sind keine Lachfalten, sondern Falten die nach unten zeigen! Du lächelst nie. Erfülle dir doch deinen wirklichen Wunsch!" Corinne wird aus ihren Gedanken gerissen, ihr Chef kommt rein und möchte etwas über den Monatsabschluss wissen.
Als er wieder verschwindet sieht sie erneut hinaus.
Sie sieht eine junge Mutter, die ihr Baby im Kinderwagen spazieren fährt. Sie lächelt in das Innere des Wagens. Sie sieht sehr glücklich aus. "Warum habe ich eigentlich keine Familie?Francesco wünscht sich doch schon lange ein Kind. Er würde sich sehr darüber freuen. Irgendwie habe ich Angst vor dieser Entscheidung. "
Endlich. Feierabend. Es ist 17.00 Uhr. Sie packt ihren Mantel, ein Schlangenimitat. Greift ihre beige Tasche und sucht windesschnell nach dem Schlüsselbund mit dem Elefantenanhänger. Corinne verläßt mit grossen Schritten das eisgleiche Büro. „Tschüß“, ruft sie einer Kollegin zu, die Tag für Tag Überstunden fährt, in der Hoffnung, eine Sprosse auf der Karriereleiter emporzusteigen. Ihr Profil, geschieden, wohnhaft neben der Firma, Wochenendfreund, Hauptnahrungsquelle: Kekse und Zigaretten. „So will ich nicht enden“, denkt Corinne und passiert die teure, marmorierte Eingangshalle des Unternehmens. Steuert den Parkplatz an und steigt in ihren PKW. Endlich geht es nach Hause zu ihrem frisch angetrauten Francesco. Zum Glück kocht er heute.
Sie sieht durch den Rückspiegel auf die Rückbank des Fahrzeugs. Sie stellt sich ein kleines, lächelndes Baby vor, daß sie mit glänzenden Augen anstrahlt. Mit Grübchen und riesigen Lachfalten. Wieder in der Wirklichkeit gelandet stellt sie fest: „Schade, dieses kleine Wesen sitzt nicht in meinem Auto. Es gibt kein solches Wesen in meinem Leben“.-"Noch nicht".
Plötzlich durchfährt sie ein Gedanke. Eine Frage von ungeahnter Intensität stellt sich ihr. Warum eigentlich nicht? Ja, warum ändere ich eigentlich nichts an meinem Leben? Wieso folge ich nicht meinem Herzen? Wieso bemühe ich mich nicht darum? Warum bekomme ich eigentlich kein Kind? Wäre es nicht viel schöner morgens ein kleines Baby im Arm zu halten, liebevoll zu erziehen, die Welt mit ihm neu zu entdecken, statt mit dem grauen Schweinehund zu kämpfen?
Aber es gibt so viele Pro`s und Contra`s.
Während Corinne nach Hause braust, durchfahren sie Fragen über Fragen. Sie zermartern förmlich ihr zahlengequältes, müdes Denkzentrum. Wird es der richtige Weg sein? Ist es die richtige Entscheidung? Wie wird mein Leben dann sein? Wie wird es aussehen? Wie wird mein Kind aussehen?
Werde ich mit einer Familie glücklich? Ist es der richtige Zeitpunkt dafür? Wird mir das Organisieren unseres Haushalts und das Umsorgen des Baby's genügen?
Zu Hause angekommen erwartet sie ihr Mann Francesco bereits mit dem Essen. Er schließt sie in seine Arme. „Hallo Schatz, ich bin froh, daß du wieder da bist. Ich habe dich richtig vermisst. Ich habe dir Spaghetti gekocht. Wie war dein Tag?" Corinne unterhält sich mit ihm sehr lange. Sie fühlt sich in seiner Gegenwart wohl. Er gibt ihr Geborgenheit ohne sie zu Umklammern. Zu Hause fühlt sie sich frei. Sie entschliesst sich ihren Job zu wechseln. Erst Mal für drei Jahre.
Ein paar Monate später sitzt Corinne vor Aufregung zitternd im Bad. Sie hält ein weißes Plastikstäbchen in der Hand. In der Mitte des Plastikstäbchens befindet sich ein kleines Fenster. Darin zu sehen zwei blaue Striche. Schwanger!!! "Endlich werde ich mein Leben ändern, das Abenteuer kann beginnen." Der dreijahres Job als Vollzeit-Familienmanagerin kann beginnen. Sie freut sich grenzenlos über ihr Kind und streichelt ihren noch flachen Bauch. „Ich freue mich so auf Dich“, sagt sie liebevoll. Als Francesco von dieser noch kleinen Überraschung erfährt, weint er vor Freude.