Ohne Ende
Ohne Ende
Jack stand an diesem Morgen mit der gleichen Aufregung auf, mit der er am Abend darauf eingeschlafen war.
Er hatte vor einer Woche seinen Abschluss auf der Polizeiakademie gemacht und war nun ein frischgebackener Lieutenant, der heute bei der Mordkommission anfangen sollte. Er blickte aus dem Fenster und sah schon die ersten Sonnenstrahlen, die hinter dem bewaldeten Hügel, den er von seinem Schlafzimmerfenster aus sehen konnte, hervorkamen.
Er zog sich seine schwarze Hose an, holte sein Sakko und machte sich auf den Weg zur Polizeistation im Stadtzentrum, welche von heute an sein neuer Arbeitsplatz sein sollte.
Er stellte seinen Wagen auf einem kleinen Parkplatz nahe des Postens ab und machte sich von dort aus auf den Weg.
„CHICAGO POLICE DEPARTMENT“ stand in weißen Buchstaben über dem Eingang des Polizeigebäudes. Nun war es so weit. Jack atmete noch einmal tief durch, ging die paar Stufen, die zum Eingang führten, hinauf und öffnete die große Glastür. Gleich rechts stand ein Wachposten, der sich vor ihn hinstellte und fragte: „Guten Tag, Sir, kann ich Ihnen behilflich sein?“ Etwas nervös, doch mit fester Stimme antwortet Jack: „Ja, das können Sie allerdings. Ich suche Captain William Connor, er wartet bereits auf mich.“ Der Mann lächelte und sagte: „Ach so, dann sind Sie wohl der neue Lieutenant. Die Treppe rauf und die zweite Tür links.“ Er trat beiseite und ließ Jack passieren. Jack bedankte sich und ging zügig die Stufen hinauf in den ersten Stock.
Es war die zweite Tür auf der linken Seite. „Cpt W. CONNOR“ stand auf einem kleinen Schild neben der Tür. Er klopfte und wartete auf Antwort. Eine Frauenstimme antworte mit „Ja!“ und Jack öffnete die Tür. „Guten Tag, Jack Cramer, ich möchte zu Captain Connor.“ Die Frau, die an einem Schreibtisch saß, und offenbar die Sekretärin des Captains war, verwies Jack mit einer Handbewegung auf eine braune Holztür zu ihrer Linken. Jack ging hinüber zur Tür und klopfte an. Ein lautes und kräftiges „Herein!“ kam von der anderen Seite.
Er trat ein und schloss die Tür gleich wieder hinter sich. Der Captain saß an seinem Schreibtisch, die Augen auf einen Computermonitor gerichtet. Als er Jack sah, stand er auf und kam auf ihn zu. Er streckte ihm die Hand entgegen und Jack nahm die Begrüßung entgegen. „Sie sind sicher Lieutenant Cramer.“ Seine Stimme war tief und sein Blick streng. „Ja, das bin ich“, antwortet Jack. Der Captian führte ihn hinüber zu seinem Schreibtisch und deutet ihm, sich auf den Stuhl zu setzen, der bereits vor dem Tisch aufgestellt worden war.
Jack blickte auf die Akte, die überall auf dem Schreibtisch verteilt lagen. Dazwischen waren auch einige Tatfotos zu sehen, doch Jack konnte nicht genau erkennen, was darauf zu sehen war.
„Er macht uns schon eine ganze Weile Kopfzerbrechen“, sagte der Captain etwas mühsam und ließ Jack damit wissen, dass ihm seine Blicke über den Aktenberg bereits aufgefallen waren. Er setzte sich in seinen Drehstuhl, beugte sich nach vorne und legte seine Hände zusammengefaltet auf die Tischplatte.
„Also, Jack. Ich darf Sie doch Jack nennen?“, fragte er mit einem Lächeln, das jedoch unter seinem Schnauzbart nicht leicht zu erkennen war. „Selbstverständlich, Sir“, entgegnete Jack. Der Captain lächelte erneut. „Also gut, Jack. Zuerst einmal möchte ich Sie bei uns hier herzlich willkommen heißen. Wir freuen uns schon alle, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, denn wir können jeden neuen Mann in diesem Fall gebrauchen. Sehen Sie, wir haben es hier mit einem sehr kniffligen Fall zu tun. Wie bereits erwähnt, zerbrechen wir uns alle schon seit gut zwei Monaten den Kopf über diesen Kerl.“ Jack wurde neugierig und die Tatsache, dass sich über diesen Fall schon so viele Akten angehäuft hatten, steigerte diese Neugierde noch um einiges. Doch mehr sollte er vorerst nicht erfahren.
„Ich bitte Sie Jack, kommen Sie in einer halben Stunde rüber ins Besprechungszimmer, dort wird der derzeitige Tatbestand noch einmal zusammengefasst und Sie können diese Gelegenheit gleich nutzen, um sich in den Fall einzuarbeiten.“
Jack war begeistert. Er hatte so eben seinen ersten Mordfall Übertragen bekommen. Es war also so weit.
Der Captain verabschiedete Jack und gab ihm den Vorschlag, er solle vielleicht noch einen Kaffee trinken gehen oder so was, und dann ins Besprechungszimmer kommen.
Er stand vor der Tür mit der Aufschrift „BESPRECHUNG“ und blickte durch das Glasfenster, das ihm die Sicht auf einen großen Tisch mit etlichen Dokumenten darauf und einigen Leuten freigab, die rundherum standen. Der Captain war auch dabei. Er öffnete die Tür und trat ein. Gleich fielen die Blicke auf ihn und Der Captain stellte ihn vor. „Leute, das ist Lieutenant Jack Cramer von der Akademie. Er wird uns hierbei tatkräftig unterstützen.“
Er schüttelte den drei anwesenden Leuten die Hand und es wurde auch gleich mit der Tatbestandaufnahme begonnen.
Eine junge, blonde Frau, die für die Spurensicherung arbeitete, machte Jack mit den derzeitig vorliegenden Tatsachen bekannt.
„Also, es geht um folgendes. Wir haben es hier mit einem Mörder zu tun, dessen Vorgehen in unseren derzeitigen Ermittlungen einzigartig ist. Er tötet seien Opfer nicht selbst, sondern er benutzt jemanden, der dies für ihn erledigt.“ Jack runzelte die Stirn: „Wie darf ich das verstehn?“ Die Frau fuhr fort: „Sehen Sie, jedes Opfer wurde erschossen. Und zwar jedes Mal von einem Polizisten, der anschließend selbst zum Opfer wurde. Sehen Sie hier zum Beispiel“, sie holte ein Tatortfoto hervor und zeigte es Jack. „Der Tote, der auf dem Rücken liegt, ist das Opfer und der Mann, der vor ihm mit dem Gesicht nach unten liegt, ist der Polizist, der ihn erschossen hat. Und dieser Polizist, um genauer zu sein jeder tote Polizist, der in diesen Fall verwickelt ist, weißt eine Einschusswunde am Hinterkopf auf.“
Jack überlegte eine Weile und sagte schließlich: „Hmm, also er lässt zuerst den Polizisten das Opfer töten, nur um danach den Polizisten selbst zu töten? Das ergibt irgendwie keinen Sinn. Warum tötet er seine Opfer nicht selbst? Woher wissen wir eigentlich, dass er es nicht selbst war, sondern jedes Mal ein Polizist?“
Ein Mann, der Ballistikexperte in diesem Fall, der neben der blonden Frau stand antwortete darauf: „Ganz einfach. Jedes Mal wurden Kugeln aus den Dienstwaffe der toten Polizisten auf das Opfer abgefeuert. Die Anzahl der abgefeuerten Kugeln stimmt mit der Anzahl an Einschüssen bei jedem Opfer überein. Es gibt bis jetzt übrigens vier davon.“
Der Captain fügte noch hinzu: „Das besondere ist, dass die Polizisten ihre Uniform nicht trugen. Sie waren also nicht im Einsatz, was heißt, dass sie nicht Dienstlich dort hinbeordert wurden.“
Der andere Mann, der noch bei ihnen im Raum am Tisch stand fügte noch hinzu: „Sie haben aber Ihre Waffen und Dienstmarken getragen. Das dürfen wir ebenfalls nicht außer Acht lassen. Auffällig ist jedoch, dass der Einschuss am Hinterkopf nicht von einer gleichartigen Waffe stammt, die unsere Polizisten benutzen. Bei den Dienstwaffen handelt es sich um eine normale Glock 15. Die Munition dafür, 9mm-Patronen, kann man in jedem Waffenladen kaufen. Deshalb ist es auch auffällig, dass der Täter sich für eine andere Waffe entschieden hat.“
„Ich werde aus dem Ganzen nicht schlau“, murmelte Jack.
„Eben, wir auch nicht“, sagte der Captain mit einer Spur von Sarkasmus in seiner Stimme. „Deshalb müssen wir uns dahinter klemmen und diesen Kerl schnappen.“
Die folgenden Tage bargen für Jack viele neue Erfahrungen. Er war das erste Mal an einem Fall dran und dann gleich so was komplexes. Er fand es äußerst interessant, mit neuen Leuten, wie Labortechnikern, Ballistikern und anderen Spezialisten zusammenzuarbeiten und sich näher an die Lösung des Falls heranzuarbeiten.
Eine Woche verging. Es waren keine Fortschritte zu verzeichnen, denn die Spuren führten alle ins Leere. Der Captain wurde auch schon ungeduldig und Jack wurde es ebenfalls. Die Arbeiten dauerten schon viel zu lange und es war nur eine Frage der Zeit, bis er erneut zuschlagen würde.
Jack arbeitete an diesem Tag sehr lange und war völlig fertig, als er am Abend ins Bett sank. Er hatte einen sehr unruhigen Schlaf. Doch dieser sollte bald unterbrochen werden.
Das plötzliche Läuten des Telefons ließ Jack mitten in der Nacht hochfahren. Es läutete einige Male, bis Jack genervt aufstand und sich fragte, wer denn da mitten in der Nacht anrufen konnte. Er trottete hinüber zum Telefon und hob den Hörer ab: „Ja, wer stört?“, fragte er genervt. „Jack, hier spricht Captain Cramer!“ Jack war augenblicklich hellwach. „Captain, was äh, ist etwas passiert?“ „Ich erklärs Ihnen später Jack! Kommen Sie so schnell wie möglich runter zum Revier!“ „Jawohl, Sir!“ Jack legte auf und zog sich schnell etwas an. Instinktiv steckte er seine Marke ein und schnallte sich den Halfter mit der Pistole um. Für die Uniform blieb keine Zeit.
Der Captain wartete bereits vor dem Revier und stand neben seinem Wagen.
Noch ehe Jack fragen konnte, was los war, kam der Captain auf ihn zu und erklärte ihm, weshalb er ihn hatte aus dem Bett holen müssen: „Jack, gut Sie sind hier. Hören Sie, wir haben da einen Kerl. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mit der Sache etwas zu tun hat, wenn nicht sogar selbst für all die Morde verantwortlich ist.“ Jack stutzte: „Sir, wie… wie haben Sie das alles herausgefunden?“ Der Captain schmunzelte: „OK, jetzt kann ich´s Ihnen ja sagen. Ich hab einen Spitzel, der für mich arbeitet. Er ist ebenfalls bei der Polizei, jedoch in einem anderen Bezirk. Der hat ganz schön was auf dem Kasten. Da er aber wie gesagt einen anderen Bezirk bearbeitet, kann ich ihn nicht in die Ermittlungen mit einbeziehen, verstehn Sie? Ich hab ihm fünfzig Dollar gezahlt, dass er für mich Anhaltspunkte findet und heute Nach hat er sich gemeldet. Kommen Sie Jack, wir müssen runter zum Einkaufszentrum in der Achtunddreißigsten. In der Tiefgarage sollten wir fündig werden, meinte er.“
Jack wusste nicht, was er davon halten sollte. Er wollte die Entscheidung des Captains, diesen Spitzel zu engagieren, auf keinen Fall in Frage stellen, doch er wusste nicht, was er von diesem ’’Spion’’ halten sollte.
Schließlich fasste er jedoch den Entschluss, der Sache auf den Grund zu gehen und wenn diesmal wirklich die Chance bestünde, den gesuchten Killer zu fassen, dann wäre dies doch DIE Gelegenheit.
Die beiden rasten hinunter in die Innenstadt. Der Captain mit seinem Wagen voran und Jack dicht hinterher.
Am Einkaufszentrum angekommen, stiegen sie aus ihren Wägen und zogen ihre Dienstwaffen. Der Captain hatte einen kleinen silbernen Revolver dabei. Nur höher gestellten Leuten im Polizeigewerbe war es gestattet, eine andere Dienstwaffe zu wählen. Außerdem waren die Kugeln für Revolver bei der Polizei nicht markiert, wie die anderen Projektile für 9mm-Pistolen. Daher brauchte man sie auch nicht vom Bestand abzuzählen und Geldmäßig zu begleichen, wenn man auf dem Schießstand üben wollte, weil man sie überall kaufen konnte. Dies waren die Gedanken, die Jack durch den Kopf schossen, als er diese Waffe erblickte.
Plötzlich schlug es bei ihm wie ein Blitz ein: „Captain, was wäre, wenn es sich bei dem Täter ebenfalls um einen Polizisten handeln würde. Einen aus der oberen Führungsschicht. Bei der Besprechung wurde erwähnt, dass der Täter keine 9mm-Patronen verwendet hat, um die Polizisten zu erschießen. Und da ich eben Ihre Waffe gesehn habe, dachte ich mir, dass es vielleicht irgendjemand aus dem Polizeidienst sein könnte.“
Der Captain überlegte einen Moment lang und schaute dabei auf den Boden. Plötzlich blickte er hoch und meinte: „Das ist eine sehr gute Überlegung Jack. Aber wenn es tatsächlich so ist, und unser Mann sich vielleicht sogar da drin befindet, dann werden wir es gleich wissen. Komm, wir geh!“
Der Captain eilte voran und deutete Jack, dass er vorrücken sollte. Sie standen nun am Eingang zur Tiefgarage und gingen langsam hinunter, die Waffe am Anschlag haltend.
Es war dunkel, also schalteten sie das Licht an. Plötzlich erblickten Sie in einiger Entfernung einen Mann, der auf sie zukam. Jack richtete die Waffe auf den Mann und rief: „Polizei, stehn bleiben! Bleiben Sie da, wo Sie sind!“ Der Captain ging hinter einem Fahrzeug in Deckung und gab Jack von dort aus Deckung, so dass ihn der Unbekannte nicht sehen konnte.
„Immer mit der Ruhe, mein Freund, ich bin ebenfalls Polizist. Wenn ich dir mal meinen Ausweis zeigen darf.“ Er wollte die Hand in die Tasche stecken, doch Jack rief ihm zu, er solle die Hände hochnehmen und oben halten. Der Mann trat noch weiter auf ihn zu und sagte gelassen: „Hey Mann, ganz ruhig. Du wirst doch wohl nicht auf mich schießen. Und falls du nicht mit mir fertig werden solltest, dann ruf doch deinen Freund da hinter dem Auto. Ich hab gesehn, wie er sich da verschanzt hat.“ „Captain?“, rief Jack nachfragend. „Oh, ein Captain gar. Ich habe einen Freund bei ner anderen Dienststelle, er ist ebenfalls Captain, der hat mir immer…“ „Ruhe!“, rief Jack dem Unbekannten entgegen. Dieser ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und ging weiterhin mit erhoben Händen auf Jack zu.
„So, jetzt hör mal zu. Ich bin von der Polizei und das werde ich dir jetzt beweisen, Freundchen!“ Blitzschnell hatte er eine Hand runtergenommen und griff in seine Hosentasche.
Ehe er etwas machen konnte, war Jack bereit gewesen und sein Finger betätigte den Abzug seiner Waffe. Er schoss. Einmal, zweimal, dreimal.
Der Mann sank zusammen und unter einem letzten Keuchen fiel er mit einem dumpfen Geräusch auf den Betonboden. „Jack, alle OK?“, fragte der Captain, der sich weiterhin verschanzt hielt. „Ja, alles bestens. Aber für ihn hier siehts nicht so gut aus.“ „Macht nichts, gute Arbeit Jack. Ich gebe Ihnen von hier aus Deckung. Durchsuchen und überprüfen Sie ihn.“
Jack steckte seine Waffe zurück in den Halfter und kniete sich vor dem Toten auf den Boden. Er durchsuchte zuerst die Hosentasche, in die der Unbekannte nicht dauernd versucht hatte, hineinzufassen, da der Tote ungünstig da lag. Er holte ein Bündel Bargeld heraus. Fünzig Dollar in Zehnern. Keine Brieftasche.
Schließlich durchsuchte er die andere Tasche. Was er dort fand war jedoch erschreckend und nicht im Geringsten das, was er erwartet hatte. Er holte eine kleine Glock 15 aus der Tasche, volles Magazin. Sein Herz begann höher zu schlagen, dass er bald nichts Anderes mehr hören konnte. Doch es war noch nicht alles. Weiters fand er ein kleines schwarzes Lederfuteral. Als er es aufklappte, stockte ihm der Atem. Der goldene Stern der Chicago Police strahlte ihm entgegen. Seine Augen waren starr darauf gerichtet und sein Atem wurde immer lauter.
Er war gerade dabei, sich wieder zu fassen und zu realisieren, was gerade geschehen war, als plötzlich das Licht ausging. Es war still, totenstill. Jack hörte nur den Herzschlag und seinen eigenen Atem. Plötzlich wurde die Stille durchbrochen. Von Schritten. Leise Schritte, die immer lauter wurden und in der Tiefgarage hallten, bis sie schließlich direkt hinter Jack anhielten.
Jack war starr vor Angst und wagte nicht, sich umzudrehen. Hilfesuchend rief er leise: „Captain! Captain!“
Die Stimme hinter seinem Rücken antwortete: „Ja…“
Er hörte ein leises, metallisches Klicken.