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Ohne Flügel

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22.09.2001
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Ohne Flügel

Sie lag alleine in dem weißen Zimmer, das Mittagessen hatte sie nicht angerührt.
Die Tür schlug auf. „Naa, wie gehts uns denn?!“ rief die Krankenschwester fröhlich, eine freundliche Mittvierzigerin mit kurzen braunen Locken. Ihre penetrant gute Laune löste bei Charlotte nichts als Würgreiz aus. Sie schloss die Augen und vergrub ihren Kopf seitlich im Kissen. Der Blick der Krankenschwester fiel auf das unveränderte Menü. „Oje... das sieht aber nicht gut aus!“ Gar nichts sieht gut aus, dachte Charlotte und schenkte ihr keine Beachtung. „Ja, wollen sie denn überhaupt nichts essen?“ Keine Antwort. Die Schwester zuckte mit den Achseln. Sie ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf, draußen war herrliches Sonnenwetter. Charlotte schnellte mit der Hand vor ihr Gesicht und stöhnte, das grelle Licht tat ihren Augen weh. „Warum lassen sie mich nicht einfach in Ruhe...“ murmelte sie. „Hören Sie“, die Schwester trat vor ihr Bett. „Sie liegen nun seit 8 Tagen hier und wollen nichts als ihre Ruhe haben. Irgendwann muss es doch auch einmal weitergehen. Wenn sie reden wollen, ich... Wissen sie, heutzutage gibt es doch soviele Möglichkeiten...“ Charlottes Kopf dröhnte. Sie schaltete ab. Ratlos stand die Schwester noch eine Weile vor dem Bett, suchte nach Worten, fand sie nicht und verließ schließlich mit dem Tablett in der Hand das Zimmer.
Querschnittsgelähmt. Was gab es da noch zu reden. Ja, sie lag schon 8 Tage hier. Vor einer Woche hatte man ihr gesagt, dass sie für immer im Rollstuhl sitzen müsse. Sie hatte ihnen nicht geglaubt. Dem Arzt nicht in seinem weißen Kittel und ihren Eltern nicht. Ihr Vater, der die Fäuste geballt hatte und, sich auf die Lippen beißend, im Zimmer auf und ab ging. Ihre Mutter, die neben ihrem Bett auf einem Stuhl saß, ihre Hand hielt und leise weinte. „Was regt ihr euch so auf“, hatte Charlotte gesagt. „Ich bin doch nicht gelähmt!“ Sie war sicher, sich am nächsten Tag wieder bewegen zu können. Doch sie konnte es nicht. Auch am übernächsten nicht. Und heute auch nicht. Ein seltsames Gefühl, seine Beine nicht mehr zu spüren. Wenn sie den Kopf hob, sah sie den dicken Gips, der auf beiden Seiten von ihren Füßen bis zu den Oberschenkeln reichte. Sie konnte nie lange hingucken. Auch ihren Oberkörper hatten sie in ein stabiles Korsett gesteckt, was ihr fast die Luft abschnürte. Wenigstens hatte sie kaum noch Schmerzen. Kopf und Arme konnte sie frei bewegen. „Es hätte auch viel schlimmer ausgehen können“, hatte der Arzt sie zu trösten versucht. Pah.
Vorgestern war eine Ergo-Therapeutin gekommen. „Hallo, ich bin Marianne und wir zwei werden ab jetzt täglich ein paar Übungen zusammen machen, damit sie lernen sich zu bewegen“, hatte sie gesagt und ihr lächelnd die Hand hingestreckt. „Ich weiß verdammt nochmal sehr gut, wie man sich bewegt!“, hatte Charlotte ärgerlich geschrien. „Nun, das glaube ich ihnen gerne, jedoch werden sie das künftig leider nicht mehr wie gewohnt können. Es tut mir ja auch leid...“ Sie fand die Therapeutin bescheuert, die Übungen sowieso. Ihr war zum Heulen zumute. Diese Marianne hatte auch einen Rollstuhl mitgebracht. Der stand nun an der Wand und Charlotte sah ihn an wie ihren ärgsten Feind. Lieber bleibe ich für immer liegen, als mich da hinein zu setzen, dachte sie.
Draußen sangen die Vögel. Es war Ende Juli und dementsprechend heiß, alle Schwimmbäder wahrscheinlich überfüllt. Charlotte aber lag auf der Unfallstation des Hamburger Krankenhauses. Querschnittsgelähmt.
Neben ihr auf dem Abstelltischchen Tabletten, Blumen – gelbe Rosen - , Kekse, ein Stapel Zeitschriften, ein paar Videos, eine Fernbedienung, ein Telefon. Die Tabletten waren ihr verhasst, die gelben Rosen schaute sie kaum an, auf Kekse hatte sie keinen Appetit, die Zeitschriften hatte sie nur einmal kurz lustlos durchgeblättert und den Hörer des Telefons danebengelegt. Das einzige, was sie interessierte, war eines der Videos. Es befand sich bereits im Recorder, den ihr Vater ihr angeschlossen hatte und den sie vom Bett aus bedienen konnte. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie nach der Fernbedienung griff. Sie lehnte sich zurück, in ihrem Magen hatte sie wieder dieses flaue Gefühl.

Ein großer, heller Saal. Zwei Wände komplett verspiegelt, die dritte bestehend aus Fenstern bis zum Boden, an der vierten Wand zwei lange Konferenztische, woran knapp fünfzehn Männer und Frauen in eleganter Kleidung sitzen, jeder ein Wasserglas und einige Aktenordner vor sich auf dem Tisch. In der Ecke mehrere kleine Fernsehteams. „Nummer 21“ ruft jemand, während andere in ihre Akten blicken oder sich mit Kugelschreibern Notizen machen.
Da betritt ein junges Mädchen den Raum. Sie ist 17 Jahre alt und sehr zierlich. Ihre Haare sind mit Nadeln hochgesteckt, sie trägt ein enganliegendes weißes T-shirt, kurze rosa Panties und weiße Stulpen über transparenten Strümpfen. Mit kleinen Schritten läuft sie in die Mitte des Saales, bleibt dort stehen. Ein paar Sekunden lang völlige Stille. Dann geht die Musik los und sie beginnt zu tanzen. Tanzt zu „I like Chopin“, tanzt wie ein Engel. Ihr zarter Körper bewegt sich anmutig durch den ganzen Raum, ihre Schritte perfekt gesetzt, Bewegungsabläufe tadellos, rhythmisch, kraftvoll, leidenschaftlich. Blonde Strähnchen fallen in ihr Gesicht, an ihren Beinen zeichnen sich die Sehnen ab, an ihrem Hals bilden sich winzige glänzende Schweißperlen. Sie tanzt wie elektrisiert und auch den Damen und Herren hinter den Tischen scheint der Atem zu stocken. Als das Lied zu Ende ist, steht sie exakt wieder dort, wo sie anfing, mit rasendem Pulsschlag. Applaus von der begeisterten Jury. Natürlich ist sie aufgenommen. In einer der besten Tanzakademien Europas. Ihre Augen strahlen, Tränen laufen über ihre Wangen. Der Kameramann bewegt sich auf sie zu, jemand vom Lokalsender hält ihr ein Mikrofon vors Gesicht. Gratulation. Warum sie tanzt? „Weil es mein Leben ist. Mein Traum. Ich kann mir nichts anderes vorstellen!“ sagt sie glücklich. Sie hat es geschafft. Sie tanzt, solange sie denken kann, jetzt hatte sie diese Chance und sie hat es geschafft. „Also sowas nenn’ ich Talent! Dieses Mädchen hier hat eine große Zukunft vor sich“, hört man den Moderator sagen. „Und nun geht es weiter mit...“ –
Charlotte schaltet das Video aus.
Dieses Mädchen ist sie.

 

Eine wunderschöne, nachdenklich stimmende Geschichte!!! <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0"> Ehrlich; ich bin richtig begeistert!!!!

Es ist doch so, daß vielen Künstlern das genommen wird, was sie haben; Beethoven hat man das Gehör genommen, obwohl er Komponist von/aus Herz und Seele war... Und Christopher Reeve, der jetzt ja nach seinem Reitunfall Querschnittsgelähmt ist, war Schauspieler. War mal Superman.
Immer, wenn ich sowas höre und sehe, dann bin ich voller Respekt solchen Menschen gegenüber. Ihnen wurde das genommen, was ihnen fast das Liebste ist - und das muß man erst mal verkraften.
Beide haben sich aber wieder aufgerafft; Beethoven und Christopher Reeve. Beide haben Bewunderung verdient.

Ich finde es übrigens gut, daß Du nicht erwähnt hast, wie sie Querschnittsgelähmt wurde... ;)

Griasle!
stephy

 

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