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Oma
Oma
Langsam gehen wir durch den Flur. Die Wände sind blassgrün, die breiten Türen sind in einem kräftigen Grünton gestrichen. Als ich das letzte Mal hier gewesen bin, sah es noch anders aus.
Neben jeder Tür hängt ein Schild, auf dem ein Name steht. Ihr Zimmer liegt am anderen Ende dieses Ganges. Im Vorbeigehen lese ich die Worte, ein paar kenne ich noch von meinem letzten Besuch.
Wir haben die Hälfte geschafft, rechts liegt das Schwesternzimmer, es ist niemand zu sehen. Mein Blick wird durch ein schlurfendes Geräusch nach vorne gelenkt, eine schmächtige Gestalt schiebt einen kleinen Wagen vor sich her und zieht einen Fuß etwas über den Boden. Ich schaue genau hin und zögere einen Moment. Ist sie das? Kann sie es sein? Ich habe sie so anders in Erinnerung. 'Viel zu lange warst du nicht mehr hier!', schießt es mir durch den Kopf. Schuldbewusst senke ich den Blick. Dann steht sie vor uns und lächelt. Lächelt mich an, ohne einen Vorwurf im Blick, ihre Augen leuchten ein wenig. Sie sagt "Hallo", es ist kaum zu verstehen, so undeutlich verlassen diese Buchstaben ihren Mund. Vorsichtig löst sie ihre linke Hand von der Gehhilfe und legt sie in die meine. Ich spüre den leichten Druck und erwidere ihn sanft. Langsam, sehr langsam, dreht sie ihren Wagen um und schiebt ihn zurück. Oma braucht für ein paar Meter viel Zeit und ich überlege, ob sie das stört. Ob sie nicht im Grunde schneller will und frustriert ist, dass es nicht klappt?
Wir erreichen ihr Zimmer, an der Tür hängt etwas Selbstgebasteltes. Es ist ein Ring aus hellbrauner Pappe, in dessen Mitte eine Szene mit dem Osterhasen dargestellt ist. Meine kleine Kusine Milena wird es gemacht haben, sie bastelt gerne mit Pappe, Schere und Klebe.
In ihrem Zimmer ist es warm und obwohl einige Möbel aus ihrem Haus darin stehen, hatte ich nie das Gefühl, dass sie hier wirklich wohnt. Meine Oma hat immer in einem Haus gelebt, dass sie jetzt Schlaf-, Wohn- und Esszimmer in einem Raum hat, passt nicht zusammen. Sie lebt bereits vier Jahre hier, doch für mich ist sie nur eine begrenzte Zeit hier, bis sie wieder in das Haus zurückkehrt, in dem sie fast ihr ganzes Leben wohnte. Aber das wird sie nicht mehr, sie wird nirgendwo mehr hinziehen. Ihr Haus ist verkauft, ihr gehegter Garten ist verwahrlost.
Ich setze mich in einen Sessel, den sie ebenfalls aus ihrem alten Haus mitgebracht hat, meine Oma setzt sich in ihren großen, braunen Ledersessel, den sie besitzt, seit ich denken kann. Meine Tante räumt die Kleidungsstücke, die sie zu hause gewaschen hat, in den Schrank hinter der Tür. Dann geht sie in das kleine Bad und sieht nach, ob noch alles vorhanden ist oder ob sie etwas besorgen muss.
Ich sitze auf meinem blaugrauen Sessel, die Hände im Schoß vergraben, lasse meinen Blick im Zimmer umherschweifen. Meine Oma sitzt aufrecht auf der vorderen Kante des Lehnstuhls und sieht aus dem Fenster. Ich bemerke, dass ihr ein Tropfen an der Nase hängt, sie ist erkältet. 'Nicht gut. Nicht in diesem Alter und bei der Gesundheit', denke ich.
Meine Tante kommt zu uns, setzt sich auf die andere Seite des quadratischen Holztisches, an dem Omas Sessel steht.
"Möchtest du, dass ich dir einen Apfel schneide?", fragt sie meine Oma laut, sehr laut. Omas Blick kehrt von den kahlen Bäumen vor dem Fenster zurück ins Zimmer, sie sieht Susanne an und nickt. Während meine Tante den Apfel schneidet, erzählt sie Großmutter etwas über Milena. Milena habe vor kurzen angefangen, Klavierunterricht zu nehmen; ich höre kaum zu. Die Hände immer noch im Schoß gegeneinander gepresst, schaue ich nach draußen.
Ich höre meine Oma schmatzen, sie kaut hauptsächlich mit dem Gaumen. Von Zeit zu Zeit gibt sie ein seltsam klingendes Geräusch von sich, sie würgt ein Stücken Apfel aus dem Hals wieder nach oben.
"Oh, der war wohl noch etwas fest", murmelt Susanne. "Ich habe wieder Birnen dabei, möchtest du noch eine Birne dazu?", fragt sie meine Oma laut, die kauend nickt.
Die kleinen Apfel- und Birnenstücke sind so glitschig, dass sie manchmal mehrmals zugreifen muss, um ein Stück sicher halten zu können.
"Kommst du zu meinem Geburtstag?", fragt sie mich unvermittelt, lächelt mich an, kaut das Birnenstückchen schmatzend weiter. In fünf Tagen hat sie Geburtstag, es ist ihr neunundachtzigster. Und wahrscheinlich ihr letzter. Ich blicke auf, sehe ihr in die Augen. Ich brauche einen Moment, um ihr Plattdeutsch zu verstehen. Meine Oma hatte vor einiger Zeit einen Herzanfall und seitdem fällt ihr das Sprechen schwer, manchmal bekommt sie kein Wort heraus.
"Ja, natürlich!", antworte ich ihr laut und lächle sie an. Und ich werde kommen, natürlich.
Meine Oma steht auf und geht in den kleinen Wintergarten. Sie bleibt vor einer Blume stehen, meine Tante und ich folgen ihr.
"Die hat aber viele Blüten bekommen", staunt Susanne. Sie zählt die Blüten. "Fünf schöne Blüten, und drei werden sich noch öffnen" Ich habe von Blumen keine Ahnung, ich finde sie meist hübsch, habe gerne welche im Zimmer stehen, aber von dem Handwerk verstehe ich nichts.
Oma geht weiter zu einer anderen Pflanze, die dunkelgrüne Blätter und kleine, rote Blüten hat. Nach einer Zeit des Schweigens dreht sie sich um und schlurft zurück in das Zimmer. Wir gehen ebenfalls zurück in den kleinen Wohnraum, Oma steuert auf den Kleiderschrank zu, der dem Bad gegenüber liegt. Sie zieht die Schiebetür langsam zur Seite und fängt an, die Bügel, auf denen die Kleider hängen, hin und her zu schieben. Meine Tante geht zur ihr und versucht herauszufinden, was sie sucht.
Oma zeigt auf etwas, Susanne nimmt es aus dem Schrank. Eine Hose, dunkelblau. Es folgen eine Bluse und drei weitere Hosen, zwei helle und eine weitere dunkle. Ich sitze noch immer auf meinem Sessel und sehe dabei zu, wie ein Kleidungsstück nach dem anderen auf dem Bett landet. Ich frage mich, was das werden soll. Mühsam kann ich aus den stotternden Worten meiner Oma und den Fragen meiner Tante heraushören, dass Oma die Kleidungsstücke anprobieren möchte. Susanne nickt und schiebt meine Großmutter sanft zu ihrem Sessel. Meine Tante öffnet den Knopf der beigen Hose, die meine Oma trägt, lässt sie ein Stück rutschen und bedeutet Oma, dass sie sich setzen soll. Dann zieht Susanne das Kleidungsstück von den Beinen und legt es über eine Stuhllehne. Sie holt eine der dunklen Hosen und betrachtet sie prüfend.
"Die könnte etwas zu weit sein", sagt sie laut. Oma steht auf, ihre Haut ist weiß und schlaff. Ihre Beine sind fast fleischlos, die Oberschenkel sind etwa so dünn wie meine Unterschenkel. Haut und Knochen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich muss hart schlucken, als ich diesen ausgezehrten Körper sehe, der nun nicht mehr von weiten Hosen verdeckt wird. Immer wieder braucht Oma neue Kleidung, weil die alte nicht mehr passt. Weil die alte Kleidung zu weit geworden ist. Noch vor ein paar Jahren war sie kräftig und gesund. Sie hat sich sehr verändert. Es hat sie sehr verändert. Dieses Etwas, das in ihrer Brust wächst. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als meine Tante mit Oma aus dem Krankenhaus zurückkam. Sie sagte mit einem Seufzen: "Es ist Brustkrebs. Es müsste operiert werden. Aber sie würde die Narkose kaum überleben."
Seitdem wird sie mit Morphium vollgepumpt, damit sie die Schmerzen ertragen kann. Es hat sie sehr verändert.
Ich kehre in die Realität zurück. Meine Tante hilft Oma gerade beim Anziehen der Bluse, ich bleibe in meinem Sessel sitzen, drücke die Handflächen aneinander. Mir fällt auf, dass Oma den rechten Arm kaum bewegt, der Oberarm hängt senkrecht herunter.
'Seit dem Sturz ist ihre Schulter wegen der Fraktur nahezu unbeweglich.' Das sagte mir Susanne, als wir Oma gemeinsam kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus besuchten.
Ich möchte nicht, kann aber nicht anders, ich schaue auf ihre Brust. Es ist sehr wenig geworden, man kann kaum eine Erhebung unter dem Hemd erkennen. Darin soll ein Tumor wüten? Müsste man ihn dann nicht sehen? Ich bemerke, wie mein Blick auf meine eigene Brust gewandert ist. Was, wenn dort auch einer wächst? Ganz still?
Erneut werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Oma trägt die Bluse, die ihr nicht zu gefallen scheint, doch ich finde, dass sie ihr steht. Etwas stört sie, denn sie steht auf und geht zum Schrank, hält sich an der Wand fest, will etwas sagen, doch sie findet die Worte nicht. Seit Oma in ihrem Garten vor ein paar Jahren aufgrund eines Herzinfarkts umgekippt ist, kann sie kaum noch sprechen, kann Buchstaben nicht zu einem Wort zusammensetzen.
Oma versucht etwas zu sagen, doch es gelingt ihr nicht.
"Ach, egal", seufzt sie leise und macht wie immer in dieser Situation eine wegwerfende Handbewegung. Ich senke den Blick, der bis eben noch auf ihrem Gesicht ruhte. Traurig darüber, dass ich ihr nicht helfen kann, sehe ich nach draußen.
Oma schlurft zu ihrem Sessel zurück und setzt sich.
"Möchtest du noch etwas essen?", fragt Susanne. Doch Oma schüttelt den Kopf. Sie blickt deprimiert nach draußen.
Erneut versinke ich in Gedanken. Seit längerer Zeit habe ich das Gefühl, dass Oma nicht mehr leben will. Dass sie endlich sterben möchte. Endlich von Schmerzen und Kummer befreit. Würde sie es selbst beenden, wenn sie Kraft und Mittel dazu hätte?
Susanne legt ihre Hand auf meine Schulter und reißt mich auf diese Weise aus meinen Gedanken.
"Komm, wir gehen. Es gibt hier gleich Essen." Ich nicke wie betäubt und ziehe meinen Mantel an.
Oma begleitet uns mit ihrem Wagen ein paar Meter den Flur entlang. Dann gibt sie jedem von uns die linke Hand. Ihre Augen leuchten schwach.
Als ich das letzte Mal hier gewesen bin, sah sie anders aus.
März/April 2005