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27.06.2007
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(Die Geschichte erschien 1999 im Buch Daniel Krieg, Der Gorilla im Erker, Middelhauve München)

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© Daniel Krieg


Genau die Situation, die ich die ganze Zeit über befürchtet habe. Orientierungslos in einem gottverlassenen Labyrinth aus Steinquadern herumzutapsen, die mit schleimgrünen Moosadern überzogen sind. Ersatzweise mit Flechten, die wie geronnener Eiter aussehen. Während ein Nachthimmel droben schwefelgelb beleuchtet wird von irgendeiner entfernten Feuersbrunst, deren Ursache ich nicht erkennen kann. Weil die verdammten Mauern zu hoch sind, um drüber zu kommen. Weil ich ständig in dieselben Sackgassen stolpere. Weil ich mich gottverdammt verlaufen habe und in der Scheiße sitze. Deshalb.
Jetzt steh' ich da mit meinen 73 Prozent Gesundheit, und ein Blutfaden zieht sich vom Mundwinkel zum Kinn. Ein Revolverschuss ist dafür verantwortlich, keine Frage. Ich hab' nicht mal gesehen, wer auf mich gefeuert hat. Das macht mich nervös. Jedes dieser fäkalienfarbenen Blätter, das aufwirbelt, lässt mich herumfahren. Weil ich bloß mehr sechs Schrotpatronen habe. Zwei Bazookas Kaliber 89 mm, vierzehn Schuss im MG. Und die Kettensäge natürlich. Nicht eben berauschend, in meiner Situation.
Fehlt nur noch, dass sie mich finden. Einer genügt jetzt, wenn er sein Handwerk versteht. Mir ist, als hätte ich die ganze Zeit verdächtige Geräusche gehört. Rechterhand. Irgendwo jenseits dieses Technos, der mir die Ohren zudröhnt. Ich kann's mir schon denken. Ein Überstratege, der im Schatten zwischen den zerbröckelnden Säulen hinter der nächsten Biegung auf mich wartet. In aller Seelenruhe. Eine hundsgemeine Idee, die Initiative den anderen zu überlassen. Aber erfolgreich. Wenn einer Geduld hat.
Wenigstens ist es ziemlich dunkel in der Wandnische, wohin ich mich verdrückt habe. Nichts zu erkennen außer der finsteren Wand und giftiggelben Himmelsfetzen. Linkerhand endet die Sackgasse vor einem unüberwindlichen Eisenpanel, von dessen oberem Tragbalken zwei Erhängte baumeln. Das Bein des einen besteht nur noch aus tropfenden Fleischstreifen. Ich wechsle von der abgesägten Schrotflinte auf den Revolver. Munition sparen. Warten kann ich auch. Wenigstens etwas, das mit dem Alter leichter fällt.
Ist mir zunehmend auf den Keks gegangen in letzter Zeit. Diese spezielle Atmosphäre, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme. Meine Frau, die sich so muffig wie möglich verhält. Als legte sie's drauf an, einen finalen Streit mit mir vom Zaun zu brechen. Damit sie Anlass hat, mich vor die Tür zu setzen. Warum auch immer.
Und meine Tochter Tanja ist ebenfalls ein Kapitel für sich. Vollkommen unzugänglich. Läuft herum und schaut mich nicht an. Als hätt' ich ihr eigenhändig das Fett ins strähnige Haar gerieben. Hat sich offenbar fest vorgenommen, die Pubertät von Grund auf neu zu erfinden. Samt aller Varianten, die zu Recht längst der Evolution zum Opfer gefallen sind. Weil ihre Verfechter von den Normalbekloppten kurzerhand über der nächsten Feuerstelle knusprig geröstet wurden. Bevor sie in die Lage kamen, ihre genetischen Irrtümer weiterzureichen. Davon gehe ich wenigstens aus.
Kann mir inzwischen gleichgültig sein. Sobald ich mir abends bequeme Klamotten angezogen und ein Wurstbrot gemacht habe, schließe ich mich in mein Arbeitszimmer ein. Wo ein billiger Multimedia-Computer mit potthässlichen Powerboxen steht, den ich zunächst für eine Fehlinvestition gehalten habe. Auch so eine Geschichte. Erst hatte Tanja einen. Als nächstes wollte sie alles Mögliche drüber von mir wissen. Als sei ich der liebe Gott. Im Büro benutzen wir immer noch Aktenordner. Jedermann fährt gut damit, soweit ich das beurteilen kann. Väter und Töchter, andererseits. Also hab' ich das Ding klammheimlich bei einem Discounter gekauft und aufgestellt. Ohne mich dran zu wagen.
Bis vor vierzehn Tagen. Wo mir alle Welt dermaßen mit "Mood" in den Ohren lag, dass ich mir das schnellste Modem besorgte, das die zu bieten hatten. Und gleich den passenden Telefonanschluß dazu beantragte.
Tatsächlich hab' ich zwei neue Nummern beantragt. Die zweite für Tanja. Weil die, wenn sie nicht gerade an ihren Pickeln rumdrückt, ständig an der Strippe hängt. Genausogut hätt' ich kein Telefon haben können die letzten zwei Jahre. Als eines, das auch Tanja benutzen darf.
Jetzt muss ich erklären, was "Mood" ist. "Mood" ist ein Spiel, an dem jeder mit Internetanschluss teilnehmen kann. Mehr als das. Tatsächlich ist Mood ein Planet irgendwo im Paralleluniversum. Denn Mood findet ständig statt. Tag und Nacht, auf allen Kontinenten. Sobald man das Programm aufruft, verbindet einen irgendein superschlaues Modul mit irgendeinem superschlauen Rechner. Im Himalaya oder sonst wo, keine Ahnung. Jedenfalls erscheint eine virtuelle, rostige Tür auf dem Bildschirm. Und wenn man die Tür öffnet, kommt man in die neutrale Zone. Rechts die Ruhmeshalle, links der Friedhof der Schande. Kann man sich anschauen, falls man einen guten Grund dafür hat. Normalerweise geht man zum großen Portal weiter. Dann hindurch. Und dann ist man mitten in dieser dreidimensionale Endzeitwelt.
Ununterbrochen werden neue Gebäude, Kampfarenen und Landschaften hinzugefügt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwer noch auf dem Laufenden ist. Das Szenario muss inzwischen größer sein als Schleswig-Holstein. Man bewegt sich darin, indem man die Computermaus entsprechend herumschiebt. Alles, was man von sich selbst sieht, ist ein winziges Porträt der virtuellen Spielerfigur ganz unten am Bildschirm. Sowie eine lebensecht behaarte, virtuelle Hand, die – subjektiv – die eigene sein soll. Und die in den Ort des Geschehens hineinragt. Während Landschaft und Gebäude unter düsteren Himmeln an einem vorüberziehen.
Das eigene Gesicht scheint einer kantigen, brutalen Person zu gehören. Einer letztlich geistlosen Person, um ehrlich zu sein. Aber mehr kennt man nun einmal nicht von sich selbst auf Mood. Mitspieler dagegen sieht man in voller Lebensgröße, sofern sie nicht aufpassen. Martialische, muskelbepackte Kämpfergestalten, die sich bloß durch die Farbe ihrer Tarnkleidung unterscheiden. Die Farbe darf man wählen, bevor man Mood betritt. Viel Auswahl gibt's nicht, weil es keine große Rolle spielt. Alle sehen gleichermaßen erschreckend aus. Haben die gleichen Waffen, die gleichen Stiefel, das gleiche, undurchdringliche Visier unter ihrem Helm. Obwohl dahinter Individuen stecken. Weil jeder virtuelle Kämpfer von einem echten Menschen mit Computermaus bewegt wird. Der irgendwo auf der Erde vor seiner Kiste hockt und echten Angstschweiß vergießt.
Wie ich jetzt eben. Wolkenfetzen jagen über einen eitergelben Nachthimmel, während ich mich an die schwarzgrünen Moose und blutgerinselartigen Flechten meines Verstecks presse. Ich höre dem endlosen Techno aus den Lautsprecherboxen zu. Und einem unterdrückten Stöhnen, das mein eigenes sein soll. Immer, wenn ich mit der Maus mehr Druck auf die Nischenwand gebe. Das Stöhnen bedeutet: kein Ausweg hier. Gleich bist du tot. Was sonst.
Weil nämlich der Witz auf Mood darin besteht, dass einer den anderen niedermacht. Zu Lochkäse zerballert, in Scheibchen zersägt, Gesichter mit dem Schlagring in Matsch verwandelt. Ihm die Gedärme mit einem Raketenwerfer zerbläst oder die gegnerischen Moleküle mit der Elektra desintegriert. Kenn ich allerdings nur als Leidtragender.
Deshalb auch die Hand am unteren Bildschirmrand. Damit man sieht, wohin man zielt. Und welche Waffe man gerade bedient. Besonnene Waffenauswahl verlängert das Leben auf Mood ganz beträchtlich. Klar.
Gestern habe ich es erstmals zu einer abgesägten Schrotflinte gebracht, heute zu einer Bazooka. Vermittels virtueller Leichenfledderei, zugegeben. Ist aber der übliche Weg. Dieser arme Kerl lag hinter einem schwer zugänglichen Steinhaufen inmitten seiner blutigen Eingeweide. Jede Menge ausgeschiedener Spieler liegen auf ähnlich zerstückelte Weise irgendwo auf Mood herum. An beliebten Stellen wie dem "brennenden Ghetto" oder dem "Bunker des Führers" watet man geradezu in abgerissenen Körperteilen. Soweit ich gehört habe, werden virtuelle Leichen erst nach einer Stunde aus dem Spiel genommen. Und auch dann nur, wenn sie nicht mehr das kleinste Stück Munition oder die harmloseste Kettensäge besitzen. Soweit man in diesem Fall von Besitz reden darf.
Mit anderen Worten: "Mood" ist genau das richtige für einen, der sich den ganzen Tag über im Büro hat abkanzeln lassen. Den die eigene Familie als eine Art lästigen Wurmfortsatz betrachtet. Der bei jeder Auseinandersetzung den Schwanz einzieht. Weil er leptosom und plattfüßig ist. Und um seine Lesebrille fürchtet. Kurz gesagt, für einen wie mich.
Im Augenblick habe ich ungefähr zwei Möglichkeiten. Entweder den Computer abzuschalten und mich mit vollem Namen beim nächsten Besuch auf dem Friedhof der Schande bewundern zu dürfen. Wo sie für jeden, der sich feige drückt, eine eigene virtuelle Grabplatte auslegen. Aus schmutzigrosafarbenen Sandstein, der die Schrift schnell bröckeln lässt. Zumal, wenn ständig diese ekligen Würmer drüberkriechen.
Oder ich könnte zum Angriff überzugehen. Mich aus den Schatten meiner Nische lösen. Den verdammten Gang nach vorne pirschen bis zu diesem Atrium mit den maroden Säulen. In vollem Lauf um die Ecke biegen und feuern, was die Bewaffnung hergibt. Getroffen werden oder selbst zu treffen. So oft und so unüberwindlich selbst zu treffen in dieser Finsternis, bis man schließlich in der Ruhmeshalle endet. Ein weiter Weg. Dafür wird der Name dann in weltraumschwarzen Granit gemeißelt. Unter funkelndem Sternenzelt, viel schöner, als es in der Wirklichkeit sein kann. Virtuell, versteht sich.
Ist wohl doch angezeigt, wieder die abgesägte Schrotflinte zur Hand zu nehmen. Die Kugelwolke streut besser, wenn man auf Glückstreffer angewiesen ist. Und im Bereich dieses Atriums ist es beinahe stockdunkel. Büsche, Mauertrümmer, zerbrochenes Buntglas aus Kirchenfenster. Die spärlichen Reflexe lösen alles auf. Ein Paradies für Jäger.
Ich atme tief ein und mache mich auf die Socken. Ohne an den Mauern anzustoßen. Damit mein Grunzen nicht den Gegner im Dunkeln aufmerksam macht.
Ganz dicht der Kontur des Walls folgend, bewege ich mich zum Torbogen. Zentimeterweise. Die Hälfte der Säulen sind jetzt auszumachen: fahle Schatten vor lackschwarzem Hintergrund. Seltsam, dass der flackernde Himmel nicht mehr Licht hergibt. Genau gegenüber ist ein Gang, der tiefer ins Labyrinth führt. Ich kann ihn nicht sehen. Aber ich weiß, er ist da. Bin nicht umsonst zwei Stunden einsam in dieser verdammten Region umhergeirrt. Falls ich den schmalen Gang erreiche, bin ich erst mal sicher. Sofern der unbekannte Jäger nicht weiß, dass da ein Gang ist. Mit mir, der auf ihn zielt. Oder mit irgendeinem anderen, der bereits in genau diesem Gang wartet. Und zwar auf mich. Himmelherrgott, ich muss mich entscheiden.
Im nächsten Augenblick leiste ich mir genau den Standardfehler eines jämmerlichen Anfängers. Ich drücke dermaßen hektisch die rechte Turbo-Renntaste auf meiner Maus, dass der Finger abgleitet und die linke Taste berührt. Ein Blitz und ein donnernder Schuss aus meiner Schrotflinte sind die Folge. Der sinnlos ins Leere geht. Während das Mündungsfeuer die Trümmer der Säulen und einen aufgerissenen Marmorboden erhellt, der mit Haufen aus Knochenschädeln übersät ist.
Die schöne Munition, denk' ich noch. Und hör' gleichzeitig meinen gellenden, virtuellen Schrei aus den Lautsprechern. Diesen Treffer hab' ich wieder nicht mitbekommen. Unmittelbar darauf läuft dem kleinen Abbild meines Kämpfergesichts unten am Bildschirm Blut aus Nase und Augen. Siebzehn Prozent Lebenskraft, mehr ist mir nicht geblieben.
Mein zweiter Fehler ist, nicht sofort weiterzulaufen. Das hätte zwar aufgrund meiner schweren Verletzungen langsamer geschehen müssen, mich möglicherweise aber doch noch gerettet. Stattdessen bleibe ich stehen wie angewurzelt. Und hör' meinem röchelnden Atem in Lautsprecher zu. Bis dieser grässliche, muskelstrotzende Kerl mit dem Visier unmittelbar vor mir steht und die Schrotflinte auf mein Gesicht richtet. Ganz in Grau, kaum auszumachen.
Der sieht mich jetzt genauso auf seinem Computer, sag' ich mir. Nur, dass ich grün gekleidet bin. Bestens zu unterscheiden von den gräulichen Steinen hinter mir. Ganz im Gegensatz zu meinem Scharfrichter in Tarnkleidung. Man lernt doch immer noch dazu. Und sei's, damit das ständige Sterben nicht ganz so sinnlos ist. Wenigstens haben sie gerade meinen Lieblingstechno als Hintergrundmusik. Ich warte.
"Herzlich willkommen, Blödmann", schnarrt eine metallische Stimme aus den Lautsprechern. Man kann in Mood mit jedem, den man unmittelbar vor sich hat, über das Mikrofon am Computer sprechen. Die Qualität ist miserabel, wegen der niederen Sampling Rate. Kastrat oder Bass, alle Stimmen klingen gleich. Aber es funktioniert. Man kann sogar mit weit entfernten Freunden sprechen, wenn man welche hat in dieser Hölle. Und ihre Kennung weiß. Aber keiner tut das. Im wirklichen Leben wird gequatscht, auf Mood wird geballert. Normalerweise. Ausgerechnet ich muss an einen perversen Sadisten geraten, der Spaß an letzten Worten hat.
"Selber Blödmann", sage ich ins Mikro. "Knall mich endlich ab."
Nichts geschieht. Mein virtueller Gegner bewegt sich einen Schritt nach hinten, hält die Waffe aber im Anschlag. Er verschwimmt praktisch im Zwielicht. Was rein gar nichts bedeutet. Dass ich erledigt bin, steht außer Frage. Ich könnte diesem Killer noch eine volle Ladung Schrot verpassen, aber das reicht nicht aus. Nicht, solange ich keine Bazooka verwende. Aber wenn ich die Waffe zu wechseln versuche, wird er einfach abdrücken. Finito.
"Mach schon", sage ich. "Bin müde. Hab' mich sowieso verlaufen in dieser abartigen Region."
"Zerreißt mir das Herz", schnarrt der Graue. Ich erspar' mir eine Antwort. Ironie ist genau das, was mir noch abgeht an diesem Abend.
"Dein Rating?" fragt er.
"Anfänger", sage ich.
"Wär ich im Leben nie drauf gekommen", sagt er. Ein Witzbold, ohne den geringsten Zweifel. Der tollkühne Gedanke schießt mir durch den Kopf, ob ich die Geschwätzigkeit des Grauen ausnutzen könnte. Der Waffenwechsel dauert bei mir ungefähr eine Sekunde, das Zielen und Feuern auf diese Entfernung eine halbe. Vorsichtig schiebe ich mich seitwärts. In fahrigen Bewegungen. Als sei ich zufällig an die Maus gestoßen.
Der Graue folgt meiner Ortsveränderung mit jener gedankenlosen Perfektion, die einen Cyberdemon auszeichnet. Ich könnte drauf wetten, dass der Mistkerl über hundert Prozent Lebenskraft, volle Ausrüstung und tausend Abschüsse verfügt. Mindestens.
"Gibt einen Schalter, der die Geheimtür zur Vorstadt öffnet", sagt der Graue, ohne mich aus den Augen zu lassen. "Genau in der Nische, in die du dich verkrochen hattest. Dahinter liegen Medipacks und Waffen, soviel du willst."
Und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: "Blödmann."
Ich stöhne auf. Nicht virtuell, sondern wirklich. Medipacks erhöhen die angekratzte Lebenskraft auf Mood. Zwei Stück würden genügen, um das Blut zu stoppen, das meinem Kämpfer aus Nase und Augenwinkeln läuft. Ich könnte mich in den Hintern beißen, dass ich diesen Schalter übersehen habe.
"Heißen Dank", sage ich ins Mikro. "Ich geh' da jetzt in aller Gemütsruhe hin und hol' mir die Medis. Schönen Abend noch und Weidmannsheil."
Der Graue macht sich nicht mal die Mühe einer Antwort. Dreht den Unterarm in einer einzigen, fließenden Bewegung zur Seite und drückt ab. Der dumpfe Knall seiner Shotgun dröhnt mir in den Ohren, während ich im Licht des Mündungsfeuers den Einschlag der Kugeln auf den Mauersteinen bewundern darf. Ein Meter von meinem blutigen Gesicht entfernt. Optimistisch geschätzt. Dann ist wieder alles in Zwielicht gehüllt. Ich kann jetzt meinen eigenen Pulsschlag hören. Den wirklichen.
"Okay", sage ich. "Was nun?"
Der Graue dreht sich wieder zu mir zurück und vollzieht einen Waffenwechsel. Jetzt steht er mit leeren Händen dicht vor mir. Praktisch unbewaffnet. Aber so kann er mich nicht täuschen. Die schiere Provokation. Eine Hand auf Mood ist nur insoweit leer, wie man die stählernen Schlagringe mit Stahlnägeln ignoriert. Minimalausstattung. Die sich nicht weiter reduzieren lässt.
"Bist du im wirklichen Leben auch so ein Schlappschwanz?" schnarrt der Graue.
"Vergiss es", sage ich schnell. Und füge, ohne zu wissen, warum, hinzu: "Kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren ein wirkliches Leben gehabt zu haben."
"Männlich oder weiblich?" fragt der Graue. Die Maschinenstimme tarnt jede Emotion.
"Frag ich mich bisweilen selbst", sage ich. "Und wie steht's bei dir?"
Der Graue tritt erneut einen Schritt zurück. Jetzt verschwimmt er fast vollständig mit dem Hintergrund. Nur das Oberteil seines Visiers zeichnet sich halbwegs deutlich gegen die schwefelgelben Streifen am Himmel ab. Ich kann sein Nachtsichtgerät erkennen. Beschämend, dass mir das erst jetzt auffällt. Deshalb hat er mich dermaßen spielerisch in den Sack gesteckt.
"Du bist steinalt, stimmt's?" fragt der Graue.
"Herrgott, ja", schnauze ich ins Mikro. "Wieso schickst du mich nicht endlich in die Hölle? Und siehst zu, ob sie dich für diese Heldentat in der Ruhmeshalle verewigen? Was soll das Gelaber? Ich bin alt, du bist jung. Wen juckt's. Wir haben uns nichts zu sagen."
Der Graue springt blitzschnell auf mich zu und stupst mich spielerisch auf die Brust. Ein Gefühl, als sei man ein lästiges Kätzchen. Nicht sonderlich hart. Kostet mich ein Prozent. Dann zieht er sich wieder zurück in das Zwielicht.
"Ich bin schon eine Ewigkeit in der Ruhmeshalle, Blödmann", sagt der Graue ungerührt. "Wird allmählich schwierig, ernsthafte Gegner zu finden."
"Schön für dich", sage ich verbittert. So langsam habe ich die Schnauze gründlich voll. Im Büro kann ich mir meinen Teil denken, während ich diese sinnlosen Anordnungen ausführe. Wenn Tanja beim Abendessen angeekelt die Augen verdreht, kann ich wegschauen. Aber hier ist das - genau: entwürdigend. Ich bin nahe daran, den Rechner abzuschalten. Friedhof der Schande hin oder her.
"Ist schon komisch", sagt der Graue. "Auf Mood sind alle Menschen gleich alt und gleich stark. Keiner kann schneller rennen als der andere. Nur Geschicklichkeit zählt. Instinkt, Strategie und Erfahrung. Solche Dinge. Wenn ich dir jetzt dein Gehirn aus dem Schädel puste, nützt es dir gar nichts, wenn du in der Wirklichkeit Karatemeister bist."
Das ist zu offenkundig, als dass ich drauf antworte. Brauch ich auch nicht. Denn der Graue fährt nach kurzer Pause fort:
"Man trifft hier die abartigsten Leute, haste das schon rausgekriegt? Aber wenigstens hab ich das Gefühl, dass es Leute sind. Nicht Jesus und Buddha und Mutter Theresa. Oder Typen wie mein Vater, der auf alles die endgültige Antwort weiß. Wer will schon 'ne endgültige Antwort? Wer will überhaupt 'ne Antwort? Mir reicht's, wenn einer mit mir redet, bevor er mich abknallt. Oder ich ihn."
Ich warte eine Weile, doch der Graue rührt sich nicht.
"Schwer zu glauben", sage ich.
"Dass ich dich abknalle?" fragt der Graue. "Du bist bereits tot. Täusch dich da mal nicht."
"Schwer zu glauben, dass irgendwer auf alles die endgültige Antwort weiß", sage ich. "Wenn's wirklich so ist, musst du mir seinen Namen verraten. Ich bin selber eine Art Vater, was immer das sein soll. Und weiß auf nichts eine Antwort. Jedenfalls auf nichts, das eine Rolle spielt."
Er steht eine Weile unbewegt. Dreht sich dann blitzschnell einmal um sich selbst, als sichere er den Rückzug. Alles Show. Der Graue denkt nach. Rambo ist verwundbar, das weiß ich jetzt.
"Glaub' ich dir nicht", sagt er dann. Keine Ahnung, auf was genau er sich bezieht. Kann mir egal sein. Zum ersten Mal erkenne ich den Schatten einer Chance. Nur dranbleiben muss ich.
"Ist aber so", sage ich schnell. "Du machst einen schweren Fehler, wenn du meinst, man wird klüger mit dem Alter. Nur älter wird man, und das war's dann schon. Tut mir wahrhaftig leid."
Wieder tritt eine Pause ein. Als ich mich diesmal um Zentimeter seitlich die Mauer entlang bewege, folgt mir der Graue nicht.
"Willst du behaupten, dass keiner was Besseres zu bieten hat?" schnarrt er. "Jeder allein und gegen alle? Allmählich kommt's mir vor, als müsste ich die Welt von vorne anfangen. Ist es das, was du deinen Kindern beibringst?"
Meine virtuellen Ellenbogen sind jetzt frei. Vom Südosten treibt eine tintenblaue Wolkenfront über das trübe Gelb, und wird den Nachthimmel in wenigen Sekunden verdunkeln.
"Natürlich nicht", sage ich ins Mikrofon. "Meine Tochter ist 'ne andere Sorte. Denken muss für die ein Fremdwort sein. Hab' schon eine Ewigkeit nicht mehr mit ihr geredet. Oder sie mit mir. Ich kann mir nicht denken, dass irgendwem damit gedient wäre."
"Ich schon", sagt der Graue. Falls er sich weiter auf seine Schlagringe kapriziert, braucht er inzwischen mindestens vier Schritte, um mich zu erreichen.
"Ich würd' gern mit meinen Eltern reden", fährt er fort. "Die bräuchten nur mal davon ausgehen, dass wir uns kaum kennen. Sogar, wenn sie das nicht bringen, würd' ich gern mal einfach reden. Keine großen Fragen, keine großen Antworten. Einfach reden, verstehst du?"
Ein Schwachkopf, ohne Frage. Mein linker Mittelfinger hat sich so behutsam auf die Taste zum Waffenwechsel gelegt, als könnte es der Graue durch den Monitor sehen.
"Wie alt ist deine blöde Tochter?" fragt er.
"Ungefähr vierzehn", sage ich. "Keine Ahnung."
Meine virtuelle, behaarte Hand mit dem Revolver hat sich soweit zur Seite gedreht, dass ich den Griff der Bazooka beinahe schon fühlen kann. Der Graue reagiert immer noch nicht.
"Ich bin zufällig auch ungefähr vierzehn", schnarrt er mit seiner digitalisierten Maschinenstimme. "Mit deiner Tochter redest du nicht. Aber mit mir, obwohl du mich überhaupt nicht kennst. Ganz schön pervers. Findest du nicht?"
Die virtuelle Wolkenfront verdunkelt den Himmel. Jetzt bin ich soweit.
"Alles nur Tricks, Kleiner", sage ich höhnisch. "Wir sind hier auf Mood. Und nicht im richtigen Leben."
Die Taste drücken, zur Seite springen und zweimal abfeuern sind eins. Der ersten Rakete weicht der Graue mit traumhafter Sicherheit nach links aus. Wo ihn die zweite, die ich genau dorthin gezielt habe, voll erwischt. Ein doppelter Knall, ein doppelter Blitz. Im nächsten Augenblick klatscht mir sein abgerissener Kopf vor die Füße.
"Musst noch 'ne Menge lernen, Kumpel", sage ich ins Mikro. "Wenn einer bloß reden will, zieht er früher oder später den Kürzeren. Und das gilt zum Teufel noch mal nicht nur auf Mood."
Ich atme tief durch. Müsste ein Klacks sein, zwischen den Mauern hindurch in die Nische zu zischen und den Schalter zu drücken. Der mich zu den Medipacks und auf hundert Prozent bringt. Aber erst, nachdem ich meinem grauen Freund seine Waffen abgenommen habe. Und das famose Nachtsichtgerät. Nicht zu vergessen.
In diesem Augenblick unterbricht ein gedämpftes Pochen den Techno. Momentan bin ich vollständig verwirrt. Mutmaße in einem Anfall von Panik, dass der Graue vielleicht doch nicht alleine war. Bis mir klar wird, dass jemand an meine Zimmertür klopft. Die echte, versteht sich. Was mich noch mehr irritiert. Herr im Himmel, hat man denn nicht einmal hier seine Ruhe?
Trotzdem stehe ich auf und drehe den Schlüssel. Tanja steht draußen. Mit irrem Blick. Rennt wortlos an mir vorbei zum Computer und starrt auf den Schirm. Auf dem der abgerissene Kopf des Grauen in einer opulenten Blutlache badet. Sie schaut nur einen Augenblick hin, bevor sie herumfährt.
"Du gottverdammtes Arschloch", sagt sie leise. "Ist dir eigentlich klar, was für ein gottverdammtes Arschloch du bist?"
Nichts, das ich antworten könnte. Ausgeschlossen, meine Tochter jetzt in die Arme zu schließen. Oder irgendwann. Ja. In diesem Moment ist es mir klar.

 

Hey, ich habe sie wahrhaft genossen, deine Geschichte.

Einziger 'Kritik'-Punkt: Wäre nicht notwendig gewesen, dass der Graue ausgerechnet seine Tochter ist. Die Message hätte sich meiner Meinung nach nicht geändert, wenn es sich um eine unbekannte 14jährige gehandelt hätte.

Aber das sage ich nur, weil ich nicht so der Fan bin von allzu runden Geschichten.

Dagegen bin ich begeistert, wie du die virtuelle und die wirkliche Identität der Hauptfigur ineinander fließen lässt. Kompliment.

Gruss
K.

 

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