Ophelia ist tot!
Sie geht. 18°C.
"Wie die Sonne blendet... und wie die Luft riecht... nach frischgebackenem Blaubeerkuchen." denkt sie.
Ein Luftzug – süß und klebrig – rauscht vorbei. Graue, böse Giganten aus Glas und Stahl umzingeln sie. Dann flattern die Blütenschatten auf dem lauwarmen Beton umher wie Schmetterlinge. Kinder rennen durcheinander.
„Fang mich doch! Fang mich doch!“
Sie geht weiter.
Ihr langes weißes Kleid weht im Wind. Blumen rieseln aus ihrem Haar. Sie weiß, sie ist hier falsch. Das ist nicht die Welt, in die sie gehört.
Auf der anderen Straßenseite steht ein Mann in schwarzer Kleidung. Mit Sonnenbrille. Groß und klug wirkt er. Mächtig. Während alle hetzen, steht er nur da und betrachtet sie.
Der Himmel wirkt so kalt weil er nicht wirklich blau ist. Und sie möchte mit den Kindern spielen. Irgendwann bleibt sie unvermittelt stehen und starrt auf den Boden. „Was...?“
„Blau? Nicht blau? Nicht weiß! Grau vielleicht. Aber nicht blau.“ Die Kinder machen ein neues Lied daraus.
Der Himmel wird düster.
Alles dreht sich. Die Welt wird dunkel. Die Sonne verkriecht sich hinter einer schwarzen Linse und erlischt allmählich mit jedem Herzschlag ein bisschen mehr.
„Ophelia ist tot! Ophelia ist tot!“
Ein Stoß. Ihre Knie spüren die Materie, spüren wie der Schmerz nachträglich in Wellen über ihren Körper schwappt. Sie spürt das Brennen und Zittern in den Knochen. Ihre Finger auf dem rauen Asphalt – die Haut wie in winzigen Fetzen. Und sie sieht auf.
Blätter im Haar und Gewissheit im Gesicht. Vor ihr Wasser.
„Ophelia ist tot! Ophelia ist tot...“ singen die Kinder und tanzen lachend im Kreis.
Zeitlupe.
Vor ihr die Straße die – nur noch ein schmaler Pfad - nun plötzlich aus brauner, weicher Erde ist. Trauerweiden neigen sich zum dampfenden Wasser hinab. Ein See. Aber Er. Da steht Er auf der anderen Seite, gefangen in seiner silbernen Rüstung, und betrachtet sie mit steter Sicherheit.
„Aber Hamlet trägt doch keine Rüstung! Das ist doch Schwachsinn! Das ist nicht wahr!“ will sie schreien. Doch sie kann es nicht. Sie kann nicht kriechen. Nicht aufstehen. Nicht atmen, nicht sprechen. Dann ist sein Schatten nur noch Herbstnebel. Er ist fort.
Nein.
Er ist es nicht, das weiß sie. Sie kennt ihn. Er ist immer da.
Als sie sich aufzurichten versucht, greift Er nach ihrem Arm. Seine silberne Maske reflektiert die Welt und den Schmerz in ihr. Und Er lächelt erhaben, voller Güte.
„Du bist der Weg.“ sagt er leise. Und Er küsst sie auf die Stirn.
„Ophelia ist tot!“ singen die Kinder wieder...
[Beitrag editiert von: Alexis am 08.03.2002 um 19:23]