`Orst und Ratuetta Clotzenbücher
`Orst war ein Storch. Kein gewöhnlicher Storch, außer dass er weiß war und seinem beachtlichen Schnabel hatte er nichts mit anderen Störchen gemein.
Das ging damit los, dass er im Winter nicht so gerne in den Süden flog. Er hasste den Süden, diese ganzen affektierten Zugvögel, und dann diese Hitze. Er blieb gern den Winter über da, denn er liebte den Wind und den Schnee, der ihm durch sein Gefieder wehte. Manchmal fühlte er sich etwas einsam im Winter, dann aber nahm er sich ein Herz und ging irgendwo hin, wo er andere Leute traf, die im Winter sowieso nicht wegfuhren oder –flogen. Öfters war er im Billard-Salon von Kurt, dem polnischen Trüffelschwein, der aufgrund einer chronischen Nasennebenhöhlenentzündung seinen Job nicht mehr wahrnehmen konnte und nun einen mehr oder weniger gut laufenden Billard-Salon führte.
`Orst liebte den verruchten Charme des lieblos eingerichteten Lokals, und er mochte die flügellosen Leute um sich rum. Gern trank er Bier mit Zacharias, einem alten Wolf, und Melinda, einer etwas älteren, kühl wirkenden, aber sehr attraktiven Weinbergschnecke, die ständig von Zacharias angemacht wurde, sich aber dadurch nicht aus dem Konzept bringen ließ und immerzu Geschichten aus ihrem Leben erzählte. Nach einigen von Zacharias spendierten Drinks tanzte sie auch mal ganz gerne auf dem Tisch, bejubelt von allen, auch von `Orst.
Ein anderer Ort, an den es `Orst im Winter verschlug, war das Kino in der Altstadt unterhalb des Marktplatzes. Er schaute für sein Leben gerne alte Filme, am liebsten in schwarzweiß. Er hatte ein Faible für diese alten Schinken, die noch ohne Special Effects auskamen und bei denen die Gefühle greifbar waren. Er nahm sich die Zeit, um mehrere Filme hintereinander zu schauen, was sollte er auch draußen, es war ja immerzu so kalt im Winter, und ein Winterfell hatte `Orst nicht.
Wenn der Winter vorbei war, schwamm `Orst sehr gerne. Es sah etwas albern aus, wenn dieser ausgewachsene Storch mit seinen langen, staksigen Beinen ins Wasser stolzierte, sich nach vorne fallen ließ und mit seinen riesigen Flügeln los schwamm. Er schwamm gerne und er schwamm lange; manchmal tauchte er auch und benutzte dann seinen Schnabel als Schnorchel, was sehr praktisch war, denn so konnte er in sehr tiefem Wasser laufen. Öfters schwamm er mit Enten um die Wette, doch meistens verlor er, er war ja kein geborener Schwimmer, weshalb er sich auch nicht lange dran störte. `Orst schwamm mehr aus Spaß. Er überlegte sogar einmal, ob er nicht an einem Wettbewerb teilnehmen sollte, doch die Idee verwarf er recht schnell wieder, da er wohl nicht den rechten Ehrgeiz entwickelt hätte; er schwamm ja mehr aus Spaß.
Im Winter fehlte ihm das Schwimmen, es war ja alles vereist. Aber da hatte er neben dem Kinogehen und dem Biertrinken mit Zacharias und Melinda in Kurts Billard-Salon ein anderes Hobby. Im Winter kiffte `Orst, er war da leidenschaftlich. Am liebsten rauchte er Pfeife mit Gras und ohne Tabak. Das machte er, seit er als Jugendlicher doch einmal mit seinen Eltern in den Süden flog und ihm ein marokkanischer Berberstorch während einer Pause eine Pfeife anbot. Erst musste `Orst ganz arg husten, doch dann fand er Gefallen daran. Es gefiel ihm so gut, dass er seine Eltern voraus fliegen ließ und einen Tag länger blieb. Während dieser vierundzwanzig Stunden rauchte `Orst und rauchte und rauchte, und während des Weiterfluges kam er in Turbulenzen und legte eine Bruchlandung im Sperrgebiet an der marokkanisch-mauretanischen Grenze hin. Den ganzen weiteren Winterurlaub mit einem gebrochenen Fußgelenk in Südafrika war `Orst high, und das wollte er ab da an immer haben. Also rauchte er nur noch Pfeife mit Gras und ohne Tabak; selten mit, nämlich immer dann, wenn er zu wenig Gras für eine Pfeifenfüllung übrig hat.
`Orst war auch äußerlich ein sehr merkwürdiger Vogel. Neben seinen staksigen Beinen und seinem komischen Schnabel, der sein Gleichgewicht beim Laufen, vielmehr aber noch beim Fliegen so weit nach vorne verlagerte, war sein linker Flügel kürzer als sein rechter. Nicht viel; beim Fliegen hatte `Orst damit keine Probleme, aber wenn er im Stand seine Autorität unter Beweis stellen wollte und mit den Flügeln schlug, konnte es schon mal passieren, dass er etwas nach links kippte. Das war nicht zu schlimm, aber das nervte `Orst natürlich, da er ja in diesem Moment bloßgestellt war. Aufgrund dessen war er ein etwas ruhigerer Storch und stellte seine Autorität, die er ja schon allein wegen seiner Körpergröße zweifelsohne hatte, selten unter Beweis.
`Orst hatte einen weiteren Makel, er hatte einen sehr großen Adamsapfel. Er war groß wie eine Zitrone oder ein Tennisball. Er störte nicht im eigentlichen Sinne; nicht beim Essen, dafür war ja der Schnabel lang genug; nicht beim Schwimmen, dass `Orst ja so sehr liebte; und selbst beim Küssen war er nicht im Wege. Lediglich wenn `Orst etwas hochschaute und dabei schluckte, war das ein etwas unangenehmes Gefühl, dann fiel ihm das Schlucken etwas schwer. Aber das fand er alles gar nicht so schlimm, viel schlimmer war für ihn, dass der Adamsapfel einfach nicht schön war, er war fast schon hässlich. `Orst hatte das Gefühl, dass er von allen Leuten komisch angeschaut wurde wegen seines Adamsapfels, Freunde sagten ihm, dass dies absolut nicht der Fall sei, aber er ließ sich davon nicht beeinflussen, er war sich ziemlich sicher, dass dieser ein Problem für ihn sei. Aber `Orst wusste nicht, was er dagegen machen konnte, wegoperieren lassen ging nicht, es gab zwar gute Ärzte, aber `Orst war schon immer etwas knapp bei Kasse. Den Schnabel immer auf die Brust gepresst tragen, um den tennisballgrossen Adamsapfel dahinter zu verstecken, war auf Dauer schmerzhaft. Seine beste Taktik war immer noch, diesen möglichst lange zu vergessen, aber sobald er sich komisch angestarrt fühlte, kam er ihm doch wieder in den Sinn. `Orst verzichtete sogar auf Äpfel, die seine Lieblingsspeise als Jungstorch waren, denn er war ja Vegetarier, und das wurmte ihn sehr. Aber es gab Zeiten, da dachte er gar nicht an diesen Klotz am Hals.
Sein Name: `Orst. Seine Eltern nannten ihn eigentlich Bertrecht, nach dem Schriftsteller Bert Brecht, doch nachdem dieser in den Osten ging, war das den antikommunistisch orientierten Eltern nicht mehr koscher und sie nannten ihren Storchensohn von da an nur noch Horst; nach Horst Jansen, den sie als Schauspieler schon immer mochten. Nachdem sich die Mutter von Bertrecht-Horst auf einem herbstlichen Flug gen Süden in einer militärischen Antennenanlage verfing und in Flammen aufging und der Vater sich auf dem Rückflug in eine westfranzösische Storchendame mit endlos langen Beinen verguckte, wurde Horst ab da nur noch `Orst genannt. Genau genommen, das erklärte ihm die westfranzösische Storchendame, kam das „H“ immer noch vor, allerdings nur noch angehaucht. Das animierte Horst dazu, das „H“ trotzdem wegzulassen und ein „`“ an seiner Stelle zu schreiben. Das fand er deshalb besser, weil sein Name jetzt etwas ungewöhnlicher war und er sich somit anders, fast schon etwas besser fühlte als die anderen Kinder seiner Klasse. Trotzdem fand er, dass „`Orst“ etwas bescheuert klang.
`Orst war arbeitslos in dieser Zeit. Nach der Ausbildung zum Stuckateur, die er mit Erfolg abschloss, aber danach von der Ausbildungsfirma nicht übernommen wurde, suchte er einen Einstieg als Hundefänger, doch das war ihm nichts. Er mochte es nicht, die winselnden, hungrigen Köter gegen ihren Willen in den unbequemen, ungepolsterten Hundefängerwagen zu stecken und ins Tierheim zu fahren, wo sie von den alteingesessenen Hunden äußerst respektlos empfangen wurden; das konnte er sich nicht mit ansehen. Nach kurzer Zeit kündigte er. Einige Bewerbungen und ebenso viele Absagen später beschloss er, dem Staat ein wenig auf der Tasche zu liegen und beantragte Hartz IV. Es war gutes Geld zum Leben, er konnte sich eine kleine Mansardenwohnung am Rande der Stadt leisten, was allemal besser war als das heruntergekommene, stark renovierungsbedürftige Storchennest auf der Scheune in der Alten Chaussee, wo er zuvor lebte, noch dazu mit den Eltern, wenn diese im Sommer da waren. Außerdem konnte er sich ab und an ein Bier mit Zacharias und Melinda in Kurts Billard-Salon und einen Kino-Abend leisten. Gras ging sowieso. Ab und an raffte sich `Orst auf und schrieb halbherzig eine Bewerbung, allerdings verspürte er selten Lust, dieses Leben einzutauschen. Er dachte sogar mal kurz darüber nach, ein Studium zu beginnen. Ihm schwebte Germanistik oder Literaturwissenschaften vor; am liebsten neudeutsche Literatur, er liebte Heinrich Böll. Aber diesen Gedanken kiffte sich `Orst schnell wieder weg; Studium, das wurde ihm bewusst, war nicht seins.
So lebte `Orst also vor sich hin. Er kiffte viel und leidenschaftlich und spielte Skat mit seinen Kumpels. Er hatte viele Kumpels, trotz seines zitronengroßen Adamsapfels. Neben Zacharias, Melinda und Kurt waren es hauptsächlich Frösche; im Gegensatz zu anderen Störchen mochte `Orst Frösche sehr gern, er mochte ihr Quaken und ihre frech-forsche Art, selbst wenn sie sich über ihn lustig machten, was aber nicht oft vorkam, denn sie mochten ihn auch sehr. Sie wollten auch immer mit ihm kiffen, doch das wiederum machte `Orst nicht so viel Spaß, denn wenn so ein Frosch an seiner Pfeife gezogen hatte, wurde diese sehr nass. Aber das Skatspielen, ja, das bereitete ihm Freude. Manchmal saßen sie ganze Nächte, spielten um Gras, Geld oder goldene Gabeln. Der Storch war kein schlechter Spieler, man konnte aber nicht sagen, dass er öfters gewann. Die Frösche nahmen es auch meistens nicht so genau mit den Regeln, was `Orst nicht mitbekam, da er ja wegen seiner Größe viel weiter weg saß von den Fröschen. Das nächste Problem für ihn war, dass er an solchen Abenden sehr viel kiffte und dann immer sehr schnell sehr dicht war. Er fand das schön, die Frösche allerdings auch, denn nun gewannen sie noch mehr. Wenn er dann morgens aufwachte, hatte er immer kein Geld mehr, dafür aber einen dicken Kopf.
So ging das eine lange Zeit. `Orst kiffte und spielte Skat und schwamm und spielte Skat und kiffte und flog nicht in den Süden. Er freundete sich immer mehr mit den Fröschen an und spielte immer mehr Skat mit ihnen und schwamm später sogar etwas mit ihnen; sie zeigten ihm aber schnell seine Grenzen auf. Wenn sie sich trafen, waren jetzt sogar einige Froschdamen dabei, und `Orst dachte an seinen Adamsapfel, der ihm peinlich war, denn die ein oder andere Froschdame fand er schon interessant. Die Mädels spielten nie mit und kifften auch nie mit, sie saßen daneben und kicherten und erzählten und quakten. Eine, ihr Name war Ratuetta Clotzenbücher, kicherte eigentlich die ganze Zeit, doch die fand er besonders nett. Er fragte sie, was sie so mache, sie erwiderte, sie sei Raumgestalterin. Er fand das toll, Raumgestalterin, er konnte sich das gar nicht vorstellen, was man das so macht als Raumgestalterin und ließ sich das lang und breit von Ratuetta Clotzenbücher erklären. Er unterhielt sich mit ihr und bot ihr sogar ab und zu eine Pfeife an, obwohl er das bei Fröschen ja nicht so gerne machte, da dann die Pfeife immer so nass war nach dem Ziehen, doch sie lehnte kichernd ab. Sie mochte viel mehr, wenn er seinen Kopf in den Nacken warf und mit seinem Schnabel klapperte, sie kicherte dann noch mehr. Doch das machte `Orst nur, wenn er schon sehr bekifft war, da er dann seinen tennisballgroßen Adamsapfel vergaß.
Mit fortschreitender Zeit lernten sich `Orst und Ratuetta Clotzenbücher immer mehr kennen und sie verliebten sich ineinander. Es war eine ernsthafte Liebe, sie zeigte ihm, wie man Räume gestaltet, was er sehr gut fand und auch mal ausprobierte; sie stellten allerdings beide fest, dass er kein Händchen fürs Räume gestalten hatte. Er zeigte ihr, wie man von einer Pfeife zog, ohne diese zu sehr nass zu machen; erst nur mit Tabak, nachdem `Orst ihr heimlich mal etwas Gras rein gemischt hatte, sie noch mehr kicherte und dies toll fand, immer öfters auch mit Gras. Beim Skat spielte Ratuetta Clotzenbücher weiterhin nicht mit, sie schaute sich das Spiel von außen an und kicherte und erzählte und quakte mit ihren Freundinnen. Hin und wieder warf sie einen verstohlenen Blick auf `Orst und ab und zu sogar mal ein nettes Lächeln (sofern man ein Froschweibchen-Lächeln nett finden kann), was er bemerkte und sich darüber sehr freute.
Aber sie spielten nicht nur Skat, nein, sie gingen viel spazieren über feuchte Wiesen, sie schwammen gemeinsam, sie liefen um die Wette, ja einmal nahm sie `Orst sogar auf den Rücken und flog eine Runde mit ihr, doch ihr wurde ziemlich schnell schlecht und sie übergab sich. Danach beschlossen sie, nicht mehr gemeinsam zu fliegen. Küssen war genauso wie Sex wegen anatomischer Unterschiede ein kleines Problem, doch während das mit dem Küssen irgendwann klappte, indem sie sich etwas von der Seite näherte und er seinen Schnabel leicht ankippte, wollte es im Bett einfach nicht funktionieren. Was sie auch versuchten, alle möglichen Stellungen, sogar 69 (was, wie man sich vorstellen kann, nicht mal ansatzweise funktionierte); auch mal Gleitgel, doch es klappte einfach nicht. Dafür hatten sie sonst im Leben sehr viel Spaß, besonders beim Kiffen und Küssen.
So lebten sie also friedlich ihr Leben. Mittlerweile war Ratuetta Clotzenbücher eine ganz begabte und begehrte Raumgestalterin geworden, hatte viele Aufträge auf der ganzen Welt, selbst nach New York führte sie ein Job. Dort konnte sie wegen ihrer Flugphobie allerdings nur mit dem Schiff hinfahren. Sie verabredete sich dort mit `Orst, der über den Atlantik flog, am Times Square, doch sie verfehlten sich, kein Wunder bei der Menschenmenge, worauf `Orst wieder heim flog. Wieder daheim kiffte er und wartete auf Ratuetta Clotzenbücher.
Ein anderes Mal, sie kochten gerade eine böhmische Kohlsuppe mit viel Kümmel, wurde er nachdenklich und fragte sie nach dem Sinn des Lebens. Er sagte, es sei ihm nicht ganz klar, warum er, `Orst, eigentlich auf dieser Welt sei, welche Aufgabe die Welt und das Universum für ihn hatte und dass er denke, dass für ihn vermutlich gar keine richtige Aufgabe vorgesehen war. Er fühle sich klein, wenn er nachts, wenn er mal nicht gekifft hatte, nach oben schaute und die Sterne sah, die Weite des Universums, diese gigantischen Entfernungen, die ließen ihn erschaudern. Und `Orst stellte fest, dass wenn die Sterne nicht mal eine richtige Aufgabe hatten, außer zehn Milliarden Jahre zu brennen und dann in einer gigantischen Explosion zu verdampfen und sämtliche, in Äonen von Jahren angesammelte Materie in einer banalen Sekunde in die Weiten des Weltalls zu schleudern, warum sollte ihm, den kleinen, kiffenden, skatspielenden und Hartz-IV-abhängigen `Orst, dem Storch mit den langen staksigen Beinen und den unterschiedlich langen Flügeln, warum sollte ihm dann eine Aufgabe zugewiesen sein? Sollte er auch explodieren, irgendwann? Was bringe das, außer einer Riesenschweinerei, die aber verhältnismäßig schnell beseitigt war? Er redete und dachte dabei; seine Gedanken formten sich in seinem Kopf blitzschnell zu Worten, und während er so redete, kochte Ratuetta Clotzenbücher die böhmische Kohlsuppe mit viel Kümmel; sie schnitt den Kohl, die Zwiebeln, das magere Fleisch und dosierte Salz, Pfeffer, Kümmel. Sie hörte zu, sagte kein einziges Wort. Während `Orst die Frage in den Raum stellte, was geschehe, wenn die Erde keine Erdanziehungskraft besäße und ob es dann möglich wäre, auf den Mond zu springen und ob die Menschen, Störche und Frösche dann schlauer wären, weil sie ja die Gesamtheit des Ganzen aus einem ganz anderen Blickwinkel sähen, schälte Ratuetta Clotzenbücher gerade eine Zitrone, um der böhmischen Kohlsuppe mit viel Kümmel eine gewisse Säure zu geben. Sie zuckte mit den Schultern und sagte, sie wisse es auch nicht genau, aber sie denke, dass das mit dem bis zum Mond springen gar nicht ginge, weil der Mensch dann im Weltraum keine Luft mehr bekäme und binnen Sekunden elendig zugrunde ginge. Und überhaupt solle `Orst doch lieber mal den Müll runter bringen, die Essensreste fingen schon an zu stinken.
Ratuetta Clotzenbücher war eigentlich ein sehr nachdenklicher Frosch. Sie kicherte zwar immer sehr viel, wenn sie mit ihren Froschfreundinnen zusammen war, und auch wenn sie mit `Orst zusammen war und sie zum Beispiel eine böhmische Kohlsuppe mit viel Kümmel kochten oder etwas anderes taten, lachte sie viel und gern. Doch sie redete mehr über praktische Sachen wie die Organisation des nächsten Skatabends oder wie sie am nächsten Morgen bei viel Schnee am besten auf die Arbeit kam, wenn sie recht früh einen Termin außerhalb hatte, bei einem Kunden. `Orst war das zuerst egal, es fiel ihm gar nicht so richtig auf, und selbst als es ihm auffiel, war es ihm auch egal, da er ja nicht unbedingt erwartete, dass sich seine Freundin ständig über irgendwelche tagesaktuell eher unwichtige Sachen Gedanken machte. Er dachte vielmehr, dass er da viel zu zart besaitet war, denn er war, wenn nicht gerade bekifft, schon ziemlich unterwegs mit seinen Gedanken, er überlegte viel, was das Leben so bringe und so. `Orst überlegte immer, was in Ratuetta Clotzenbüchers Kopf vor sich ginge, denn sie war teilweise auch ruhig und wirkte abwesend, obwohl sie doch da war. Er kam nicht drauf, und wie gesagt, er fand es auch gar nicht so schlimm, er dachte sich dann immer, sie sei halt müde oder einfach so nicht so gut drauf.
Eines Tages, es wurde kälter, die Tage wurden kürzer und die Zugvögel machten sich auf den Weg gen Süden, waren `Orst und Ratuetta Clotzenbücher wieder zu einem Skatabend bei einem befreundeten Froschpärchen eingeladen. Obwohl `Orst Pärchenabende nicht so toll fand, freute er sich schon auf das gute Essen, es gab meistens Tomate-Mozzarella-Salat mit sehr viel Balsamico, dazu etwas italienisches Weißbrot und ab und zu noch etwas Eichenblattsalat. Es wurde auch Rotwein gereicht, doch den lehnte `Orst prinzipiell ab, da er an solchen Abenden immer viel kiffte, und Rotwein in Kombination mit Gras bewirkten bei ihm gewaltige Kopfschmerzen. Das Skatspiel lief ganz gut, es war eine etwas merkwürdige Situation; da es ja zwei Pärchen waren, aber drei Skatspieler gebraucht wurden, musste immer eine Froschdame mitspielen, was sie mehr oder weniger gut taten. Ratuetta Clotzenbücher hatte schon öfters zugeschaut und überraschte mit Fachbegriffen. `Orst lachte darüber und kniff ihr schelmisch in die Seite, Ratuetta Clotzenbücher kicherte.
Irgendwann, `Orst hatte schon zwei Pfeifen geraucht, klingelte es an der Tür. Dariusz, ein Frosch aus der Nachbarschaft, kam vorbei. Die Jungs waren froh, da sie jetzt endlich eine Männer-Skat-Runde eröffnen konnten; die Mädels waren froh, dass sie jetzt ungestört gemeinsam kichern konnten. Dariusz war kein schlechter Spieler, er spielte sogar ganz passabel, und einmal ließ ihn `Orst sogar an seiner Pfeife ziehen, was er sonst eigentlich nicht machte. Es wurde spät, das Kichern der Mädels ließ nach, der Tomaten-Mozzarella-Salat mit sehr viel Balsamico war alle und das Gras von `Orst auch, weshalb er beschloss, den Heimweg anzutreten. Ratuetta Clotzenbücher wollte noch etwas bleiben, sie musste am nächsten Tag nicht arbeiten, da es ein Feiertag war, und somit konnte sie ausschlafen. Außerdem hatte sie nicht gekifft wie `Orst, und auch ihr Kichern klang noch recht munter. Also ging `Orst alleine heim, er taumelte den Kreutzweg entlang; stürzte fast, als er in die Fasanenallee einbog, konnte sich aber noch fangen; er lief die Ebereschenstraße entlang, ließ sich von zwei halbwüchsigen Waschbären eine Zigarette geben und bog letztlich in seine Straße ein, wo eine schummrige Laterne die Eingangstür beleuchtet. In der Wohnung entledigte sich `Orst mit letzter Kraft seiner Krawatte und fiel ins Bett, was ihm momentan wie ein Wasserbett vorkam; es schwankte, je länger `Orst da lag und das Schwanken wahrnahm, desto mehr fühlte er sich wie auf einem Schiff, einem Ozeandampfer, fern der Heimat, mit Kurs irgendwohin…
Am nächsten Morgen wachte `Orst mit einem ziemlich dicken Kopf auf. Kein Wunder, hatte er doch drei Pfeifen fast ganz alleine geraucht. Er griff neben sich, doch da war nichts; keine Ratuetta Clotzenbücher, nur Leere. Er stand auf und ging an den Kühlschrank, er nahm sich eine Milch, überlegte es sich anders, stellte sie zurück und nahm stattdessen eine Aspirin. `Orst war kalt, sehr kalt. Die Balkontür war zu. Er nahm sich seinen dicken Winterpulli, den er normalerweise nur anzog, wenn es wirklich sehr kalt war und er vor die Türe musste. Er schüttelte sich kurz, ging aufs Klo und danach wieder ins Bett.
Als er später wieder erwachte, war der Kopfschmerz etwas gelindert. Die Leere neben ihm war immer noch da, Ratuetta Clotzenbücher immer noch weg. Er dachte nach. Sollte sie etwa schon auf Arbeit sein? Aber es war doch Feiertag. `Orst stand endgültig auf, duschte, zog sich an und ging vor die Tür. Es war kalt, er fror. In solchen Momenten wie diesen wünschte er sich ein bisschen, dass er vielleicht doch wie andere Störche sei und in den Süden fliegen würde. Er lief in Richtung des Marktplatzes, vorbei an Kurts Billard-Salon, der heute wegen des Feiertages geschlossen war. Kein Bier mit Zacharias und Melinda, kein Stangentanz. Er lief weiter, kam vorbei an der Alten Chaussee, blickte hinauf zu dem verwaisten Nest, das er gemeinsam mit seinen Eltern bewohnte.
`Orst bog rechts ab in den Werkweg, wo gestern der Pärchen-Abend mit Tomaten-Mozzarella-Salat und Dariusz war. Ihm war sehr kalt. Er klingelte, eine Stimme meldete sich, `Orst fragte nach Ratuetta Clotzenbücher, die Stimme erwiderte nach kurzem Zögern, dass diese nicht da sei. `Orst verabschiedete sich und lief zurück. Er kam an Dariusz´ Wohnort vorbei; einem allein stehenden Haus auf einer Lichtung. Er klingelte, eine Tür öffnete sich, ein kalter Wind umfuhr ihn, er trat ein.
Er sah Dariusz nackt auf den Verandadielen stehen; er sah Ratuetta Clotzenbücher nackt dahinter, beide geschockt, Dariusz etwas gefasster. Ratuetta Clotzenbücher fing an: „Ich kann alles erklären…“. `Orst überlegte kurz, schüttelte den Kopf, riss den Schnabel auf, ließ ihn niederfahren und verschlang Ratuetta Clotzenbücher mit einem gewaltigen Happs. Beim Schlucken musste er wie jeder Storch beim Froschfressen seinen Kopf in den Nacken werfen, Ratuetta Clotzenbücher rutschte ihm ganz locker am Adamsapfel vorbei. Der Adamsapfel, in dem Moment fiel er `Orst ein. Lange hatte er nicht mehr an ihn gedacht, den tennisballgrossen, lästigen Adamsapfel. Dariusz wich zurück, er war knallrot, blähte die Backen auf; nur ein Frosch. `Orst verschlang ihn, auch er rutschte problemlos am Adamsapfel vorbei.
`Orst ging zurück auf die Straße. Er dachte nach. Er wurde betrogen von Ratuetta Clotzenbücher, warum? Er überlegte. Es wurde etwas wärmer, Ratuetta Clotzenbücher und Dariusz bekamen ihm gut.
War es der verdammte Adamsapfel?