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- 03.07.2004
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Pagels Welt
Dienstag. Am Morgen.
Pagels Zimmer im ersten Stock hatte wie andere Zimmer in der Wohnanlage einen Südbalkon. Doch von seinem Balkon aus sah Pagel nicht auf ausladende Bäume wie etwa Frau Heinzmann, seine Nachbarin. Er hatte auch nicht den großen Parkplatz vor Augen, sondern er konnte in den Park schauen. Unter seinem Balkon sah er Krokusse und Narzissen, die den Frühling begrüßten. Sommerblumen folgten, die verschwenderisch blühten und im Herbst von Dahlien und Astern abgelöst wurden. Dieses Blumenbeet war Pagels große Freude. Frühmorgens stand er schon in der Dämmerung auf, um den Vögeln zuzuhören. Wenn es dann hell war, saß er auf dem Balkon und schaute den Blumen beim Wachsen und Blühen zu. Und wenn erst einmal die Schmetterlinge tanzten und die Hummeln brummten, konnte Pagel sich gar nicht satt hören und sehen. Auch an diesem Morgen wäre er glücklich, wenn da nicht:
„Herr Pagel, kommen Sie jetzt herein und nehmen Sie ihre Tabletten.“
Energisch überhörte er die Stimme von Schwester Katja und lauschte weiter dem Gesang einer Drossel. Unversehens wurde sein Rollstuhl ins Zimmer geschoben und dann drehte Schwester Katja ihn auch noch um, so dass er auf die Nasszelle schauen musste.
„Nehmen Sie jetzt bitte ihre Tabletten, dann dürfen Sie auch wieder auf den Balkon.“
„Wir könnten ja im Park spazieren gehen. Dann schlucke ich auch sofort alle Tabletten.“
„Ach, Herr Pagel, ich würde ja mit ihnen in den Park gehen, wenn ich die Zeit hätte. Aber ich muss bis acht Uhr noch zwölf Bewohner besuchen. Mir läuft die Zeit mal wieder davon, weil Sie immer so stur sind. Jetzt tun Sie mir bitte den Gefallen und schlucken Sie endlich ihre Tabletten.“
Pagel drehte den Kopf weg und begann leise zu singen „Komm lieber Mai und mache …“
Da strich ihm Schwester Katja über die faltige Wange und hielt ihm den Becher mit den Tabletten vors Gesicht.
„Aber nur, weil Sie es sind“, grunzte Pagel und ließ die Tabletten in seinen Mund gleiten. Schwester Katja reichte ihm einen zweiten Becher mit Wasser und Pagel spülte die Tabletten mit einem Schluck herunter. Dann ließ er den Becher genau auf Schwester Katjas rechten Turnschuh fallen.
„Das war doch Absicht“, kreischte sie und schüttelte ihren Fuß, dass Wassertropfen durch das Zimmer spritzten.
„Nein“, lächelte Pagel, „das war die Schwerkraft.“
Ohne ein Wort schob ihn Schwester Katja wieder auf den Balkon. Und Pagel sang sein Lied weiter, aber bei den Versen „Ach lieber Mai, wie gerne einmal spazieren geh‘n“, vergaß er den Park und träumte von lange vergangenen Zeiten. „Ach Gretha“, seufzte er. „Wie gerne würde ich mit dir durch unsere Wiesen schlendern.“
Pagel wollte schon zum Mittagessen in den Speiseraum fahren, als ihm noch rechtzeitig einfiel: „Heute ist ja Dienstag. Unsere Skatrunde bei Hohenegger. Da gibt‘s sicher wieder einiges zu knabbern. Also: Mittagessen ist gestrichen.“ Er fuhr in seine kleine Küchenzeile und schmierte sich eine Scheibe Brot, um bis zum Nachmittag durchzuhalten.
Zu Beginn war alles wie schon immer. Sie spielten gemächlich Skat, tranken jeder ein kleines Bierchen und knabberten verschiedene Kleinigkeiten. Und sie klönten. Pagel dachte öfter: „Männer können genauso gut tratschen wie Frauen. Manche jedenfalls.“ Er eher nicht und so hörte er meist den Gesprächen nur zu. War ein Thema durch, begann Hohenegger ein neues: „Habt ihr schon von der Frau Walter gehört?“
„Frau Walter? Kenne ich nicht. Wer soll das denn sein?“, erwiderte Franz.
„Die neue, gegenüber auf der Dementen-Station.“
„Die heißt nicht Walter, sondern Werner. Hast du auch schon Konfetti im Kopf?“
„Heißt das nicht Honig im Kopf?“, warf Pagel schüchtern ein.
Franz holte aus: „Konfetti find ich richtiger: Deine Erinnerungen sind viele bunte Schnipsel, die umherflattern und nicht zueinander passen.“
Die beiden anderen versuchten, sich durcheinander wirbelnde Konfetti vorzustellen. Franz war eigentlich kein großer Redner. Wie Pagel hörte er meistens zu und dachte sich sein Teil. Dann meinte Hohenegger: „Ne, das möcht‘ ich nicht. Zu wissen, dass ich nichts mehr weiß? Vielen Dank.“
„Erinnerst du dich denn, dass du dich nicht mehr erinnerst? Ich habe eher den Eindruck, dass es den meisten nicht viel ausmacht. Könnte doch auch schön sein - so in den Tag hineinzuleben, ohne Langeweile, ohne Einsamkeit.“
„Genug Philosophie“, bestimmte Hohenegger. „Jedenfalls ist die Frau Werner gestern mit einem Seidenslip auf dem Kopf den Flur entlang gelaufen.“
„Das hätte ich gerne gesehen“, feixte Franz.
„Was soll sie auch sonst mit ihrer schönen Wäsche machen?“, meinte Pagel.
„Wie meinst du das?“ Zwei verdutzte Mitspieler starrten ihn an.
„Na ja, ich habe gehört, dass die Schwestern ihre Wäsche weggepackt haben, weil sie für die Einlagen, die sie tragen muss, nicht geeignet ist. Jetzt hat sie ihre Dessous wohl gefunden und sich nichts weiter dabei gedacht.“
Sie spielten weitere zwei Runden, dann begann Hohenegger, nachdem er die Karten ausgeteilt hatte, ein neues Thema: „Der Müller war heute Nacht wieder oben im Schwesternzimmer.“
Franz grinste: „Das kennen wir doch. Hat doch bestimmt wieder seine Pyjamahose runtergelassen und an sich rumgespielt. Aber ich spiele jetzt einen Grand Hand. Jemand was dagegen?“
Pagel sinnierte: „Vielleicht weiß er gar nicht mehr, was der Schniedel soll. Bei den vielen Pillen, die er bekommt, ist er ohnehin schlapp. Und er benimmt sich ja auch sonst wie ein kleines Kind.“
Hohenegger nahm frustriert einen großen Schluck aus seiner Buddel. Er spielte gerne Skat mit den beiden, weil sie seinen Gerüchten aus dem Haus zuhörten und ihn für einen großen Mann hielten. Aber im Augenblick schienen beide quer gebürstet zu sein. Widerworte und eigensinnige Überlegungen. Das gefiel ihm gar nicht. „Lasst uns jetzt weiterspielen. Quatschen können wir später noch.“
Vier Runden später verlor Hohenegger seinen Null und auch die Lust am Skatspiel. „Wisst ihr schon das Neueste?“
„Ich denk‘ wir spielen Skat“, maulte Franz.
Pagel nahm einen Schluck aus seiner Flasche. „Heute Abend gibt’s Freibier“, lächelte er versonnen.
„Eure dummen Bemerkungen könnt ihr euch sparen. Was ist eigentlich los mit euch? Also der Minister …“
„Es ist halt Frühling.“
Hohenegger musste sich am Tisch festhalten, um nicht in die Luft zu gehen. „Soll ich jetzt erzählen oder nicht?“, brüllte er.
Pagel und Franz zogen erschrocken die Köpfe ein und schwiegen lieber.
Hohenegger beugte sich vor und flüsterte leise: „Also der Minister drüben im Apartmang zwei …“
Die beiden beugten sich auch über den Tisch und fummelten an ihren Hörgeräten, um was zu verstehen.
„Im was?“, fragte Pagel.
„Im Appartement. Das ist französisch für die Dreizimmerwohnungen hier im Heim“, erklärte Franz.
Hohenegger versuchte, sich über die ständigen Unterbrechungen nicht weiter aufzuregen, und fuhr leise fort: „Also der Minister bekommt jede Woche Besuch von ‘ner Streichlerin.“
„Von wem?“ Pagel schaute Hohenegger verdutzt an.
„Der hat doch jeden Tag Besuch. Dat geht da manchmal zu wie im Taubenschlag“, warf Franz ein.
„Das ist doch jetzt uninteressant“, wandte Hohenegger ein.
„Wieso denn. Ich wohn‘ doch gegenüber und weil der Flur drüben verglast ist, kann ich jeden sehen, der da langgeht. Sind meistens nur die Schwestern, aber der Minister bekommt jeden Tag Besuch. Von seinen Verwandten, hab ich gehört. Wollen wohl alle Geld von ihm haben.“
„Vielleicht ist er ja ‘n Drogendealer“, witzelte Pagel.
„Und wat is’ nu ‘ne Streichlerin?“ Wenn Franz aufgeregt war, sprach er Dialekt. Berlinerisch, behauptete er.
„Ist angeblich ‘ne entfernte Verwandte, aber der Minister bezahlt se. Dafür zieht sie ihn aus, macht dann selber ‘n Striptease und knuddelt einige Minuten im Bett mit ihm. Mehr darf er nich‘, aber mir würd‘ das schon reichen.“
„Wahrscheinlich det Model“, sinnierte Franz. „Ick nenn se so, ellenlange Beine, blonde Mähne bis zu den Hüften und ‘n ordentlicher Vorbau. Also wenn die den Flur lang stöckelt, wird mir ooch immer janz anders. Oder doch die Kleene mit den roten Locken? Die hat bestimmt ordentlich Feuer.“
„Nee, schwarze kurze Haare. Und sie hat immer ‘nen Koffer mit ihrem Handwerkszeug mit.“
„‘Nen Buko“, krähte Pagel.
„‘Nen wat? Nie gehört.“
„Ach, nix weiter, eine unserer DDR-Abkürzungen - Beischlaf-Utensilien-Koffer.“
„Sehr witzig. Jedenfalls hab ich noch nie ‘ne Schwarzhaarige mit ‘nem Koffer gesehen.“
„Kannste ja auch nich‘“, triumphierte Hohenegger. „Die kommt immer dienstags, wenn wir Skat spielen.“
Ratlose Gesichter, dann wedelte Pagel mit seinem Arm in der Luft, als ob er in der Schule wäre: „Spielen wir eben bei Franz. Das muss doch gehen. Und dann können wir se sehen.“
Und weil Hohenegger auch von Neugierde befallen war, stimmte er zähneknirschend zu.
Am Abend konnte Pagel nicht einschlafen. So eine Streichlerin, das wäre doch was anderes als ausgeschnittene Bildchen aus der Zeitung. Manche schauten sich ja wohl Filmchen im Internet an, hatte Hohenegger erzählt, aber er hatte ja nicht mal einen Computer. Was sollte er auch mit so einem Gerät? Ihm war ohnehin nicht wohl bei den Gedanken an die Streichlerin. Ja, Wärme, Nähe, Zärtlichkeit, menschliche Zuneigung, die fehlten ihm. Aber war es gleichgültig, wen er umarmte und streichelte? Er war seiner Gretha immer treu gewesen. Sollte er damit jetzt aufhören? Er spielte ein wenig an sich herum, hörte aber bald wieder auf. Gretha hatte das viel besser im Griff gehabt. Ob die Streichlerin auch so einfühlsam wäre? Oder würde das alles ganz mechanisch ablaufen ohne wirkliche Nähe, so wie bei den Schwestern. Die waren ja auch zu jedem Bewohner freundlich, aber immer distanziert.
Pagel reiste in seinen Gedanken weit zurück. Er war in einem kleinen Dorf in Mecklenburg aufgewachsen und hatte als Fünfzehnjähriger begonnen, in der LPG zu arbeiten. Was anderes gab es ja auch gar nicht. An seinem achtzehnten Geburtstag wurde er volljährig und bekam zwei Geschenke, die er nicht erwartet hatte. Am Morgen war der Vorsitzende erschienen und hatte ihm einige Papiere für seine weitere Ausbildung vorgelegt, die er unterschreiben sollte. Pagel bewunderte den energischen Mann, der nur zehn Jahre älter war und den großen Betrieb ebenso souverän leitete, wie er die Mitgliederversammlungen dirigierte. Also unterschrieb er, um erst dann zu erkennen, dass er nicht nur Kraftfahrer werden sollte, sondern sich auch freiwillig zur NVA gemeldet hatte. Dort sollte er nämlich ausgebildet werden, das käme die LPG billiger, meinte der Vorsitzende.
Abends kam seine Freundin Gretha direkt von ihrer Arbeit in der Kantine. Sie gratulierte ihm und er platzte gleich los: „Du, ganz was tolles. Ich werde zum Kraftfahrer ausgebildet und soll später einen LKW und am Wochenende den Bus der LPG fahren. Ich freu mich drauf. Wieso schaust du mich so komisch an?“
„Wo sollst du denn die Ausbildung machen? Hier im Ort ja wohl kaum? Und wie lange dauert das?“
„Ich gehe für achtzehn Monate nach Karow zur NVA. Und so weit weg ist das gar nicht. Ich kann doch sicher zum Wochenende nach Hause fahren.“
„Ich sehe schon, du wirst gar nichts mitbekommen.“ Mit diesen Worten stürmte Gretha aus seinem Zimmer. Erst von seiner Mutter erfuhr er, dass Gretha schwanger war. Er liebte sie und wollte mit ihr eine Familie gründen, also heirateten sie, bevor er nach Karow ging. Etwas anderes wäre für ihn auch gar nicht in Frage gekommen, aber die Zeit wurde für beide sehr schwer. Pagel seufzte im Halbschlaf. Gretha hatte ihm nie wirklich verziehen, dass er sie monatelang alleine gelassen hatte. Selbst zu der Geburt seiner ersten Tochter erhielt er keinen Urlaub. Hätte er einfach abhauen sollen? Er hatte sich das oft gefragt, aber so ein spontan entscheidender Mensch war er eben nicht.
Auch als er nach Hause zurückgekommen war, kollidierte sein Beruf oft mit seiner Ehe. Denn an den meisten Wochenenden fuhr er den Reisebus der LPG und karrte ausgewählte verdiente Genossen nach Rostock oder alle Vierteljahr auch nach Berlin. Die Frauenbrigade ins Theater und die Männerbrigade ins Varieté. Aber Grethas Vorwürfe hörte er vor jeder Fahrt:
„Mit all den scheunen Deerns im Bus. Is ja keen Wunner, dat du nie to Huus bis.“ oder
„Mit den Mannslüd nakige wief anglupen un denn noch inne Kaschemme mit Ringelpietz un Striptease. Aver Dien eegen Kinner werst Di kuum gewahr.“
Manches Mal musste er Sonntagnacht in der Melkerkammer schlafen, weil Greta seinen Seesack vor die Tür gestellt hatte und ihn nicht hineinließ. Vor allem aus Berlin brachte er ihr Seidenstrümpfe und andere Kleinigkeiten mit, die man in der Mäkelbörger Pampa gar nicht kaufen konnte. Dennoch war Gretha oft gereizt und drohte ihm, was mit dem Vorsitzenden anzufangen. „Der schaut mich immer so interessiert an“, meinte sie. Pagel versuchte gar nicht, sich zu rechtfertigen. Er hörte seiner Frau geduldig zu und nickte nur. Letztlich blieb sie ihm ebenso treu, wie er ihr, allen Versuchungen zum Trotz.
Nun war er seit zehn Jahren allein, seine drei Töchter lebten weit weg mit ihren eigenen Familien und kamen nur ab und an zu Besuch. Aber war das ein Grund, seine Prinzipien über Bord zu werfen? Bevor Pagel einschlief, dachte er noch: „Was denke ich eigentlich für einen Unfug? Wie lang is dat her, dass ick Platt snackt heff – twinnig Joor gewiss. Ick kann dat doch gar nich mehr.“ Entschieden hatte er sich auch nicht. Aber als er das merkte, hatten ihn schon wirre Träume von tanzenden Kälbern und knutschenden Färsen im Griff.
Nächster Dienstag. Am Nachmittag.
Sie saßen nun bei Franz, aber das Skatspiel kam gar nicht richtig in Gang, weil sie ständig über den Innenhof schauten. Die Appartements lagen im ersten Stock wie die Mini-Wohnung von Franz. Der Minister lebte hinter der letzten Tür an dem offenen Flur mit seinen großen Glasfenstern. Sie hatten gerade eine halbe Stunde mit Döntjes und Knabbereien verbracht, da kam tatsächlich eine Frau, die offensichtlich keine Schwester war, energischen Schrittes den Flur entlang. Sie trug in ihrer rechten Hand eine große Reisetasche. „Dat isse nich“, stellte Hohenegger erstaunt fest.
„Wieso nich?“, fragten Franz und Pagel.
„Na, die da is blond mit Pferdeschwanz. Und sie is schlanker als die Schwarzhaarige. Wieso kommt da plötzlich ‘ne andere?“
Dann rannte Hohenegger aus der Wohnung. „Wat is den nu los? Is der mall?“, regte sich Franz auf. Aber da kam er wieder hereingestürzt mit der Tageszeitung in der Hand:
„Hier, schaut euch das mal an! Kopflose Frauenleiche gefunden. Im Berninger Wäldchen entdeckten Spaziergänger gestern Abend eine tote Frau. Die Leiche war unbekleidet und ihr Kopf fehlte. Nach den bisherigen Erkenntnissen war sie etwa dreißig bis vierzig Jahre alt, etwa 1,60 bis 1,65 Meter groß und 65 bis 75 Kilogramm schwer. Vermutlich war sie schwarzhaarig.“ Triumphierend schlug Hohenegger die Zeitung wieder zu.
„Ich versteh nur Bahnhof“, murmelte Pagel.
„Wat hat dat nu mit der Streichlerin zu tun?“, fragte Franz.
„Dat is doch klar, dat is jenau die Beschreibung der Streichlerin. Die haben ’se beseitigt. Wohl doch irgendwelche kriminellen Geschichten. Drogenhandel oder so. Da müssen wir uns kümmern.“
„Einen Moment mal“, warf Pagel ein. „Du wirst hier jetzt nicht im Haus rumlaufen und deine abwegigen Ideen verbreiten.“
„Wat heißt hier abwegig und wieso denn nich?“
„Weil noch gar nichts bewiesen ist. Manche deiner kleinen Geschichten über andere Bewohner sind schon an der Grenze. Aber einen unbescholtenen Menschen ohne irgendeinen Beweis als Mörder hinzustellen. Nee, nee, Hohenegger, dat kannste nich‘ machen.“
Hohenegger schien mit sich selbst zu kämpfen. Dann seufzte er tief und stöhnte: „Endlich is‘ mal wat los her im Haus, da kommt mal Leben inne Bude, aber du bis‘ dagegen.“
„Gerüchte auf Kosten eines anderen Menschen? Das ist doch geradezu pervers. Und was soll das überhaupt heißen: Endlich mal was los. Uns wird hier doch ne Menge geboten.“
„Ach, was denn? Mal ‘n Ausflug oder ‘n gemeinsames Kaffeetrinken oder ‘n Vortrag über Arthrose? Wat is dat schon? Eigentlich interessiert sich doch niemand für uns.“
„Wieso, die Schwestern kommen jeden Tag und deine Familie kommt zu Besuch oder der Arzt. Und den Pastor kannste auch einladen.“
„Ach ja, die Schwestern und der Arzt und der Pfarrer, die alle verdienen mit uns ihren Lebensunterhalt, für die sind wir ‘n Auftrag und keine besonderen Personen. Un‘ die Verwandten? Die wollen doch nur wieder Geld von mir haben. Wer interessiert sich denn schon für uns. Wie es in uns aussieht, was wir gerne haben, was wir vermissen und so. Bekommst du etwa noch Besuch von Arbeitskollegen oder deinen guten Freunden von früher? Ich sag’s dir: Abgeschoben sind wir, auf ’m Abstellplatz.“
„Ja, die Nähe fehlt mir schon. Jemanden umarmen, einen lieben Menschen knuddeln. Das vermisse ich oft“, erwiderte Pagel.
Alle drei hingen eine Weile ihren Gedanken nach. Dann meinte Franz: „Hat dich die Streichlerin auch nur interessiert, damit bei dir endlich mal wieder was los ist?“
Hohenegger schwankte zwischen lautem Brüllen und Lachen und meinte schließlich nur: „Was machen wir denn nun? Wir können das doch nicht einfach vergessen?“
Pagel schlug vor: „Wir warten bis zum nächsten Dienstag. Ich denke, die Polizei weiß dann mehr. Und wenn nicht, können wir immer noch Pläne schmieden.“
Und wieder Dienstag. Am Nachmittag.
Sie saßen bei Franz zusammen. Hohenegger hatte gerade berichtet, dass er in der Zeitung die ganze Woche nichts mehr gefunden habe, als gegenüber eine Frau den Flur entlang ging. Ihre Kleidung war vielleicht modisch, erinnerte Pagel aber an einen Jogginganzug. Kurze schwarze Haare, die eng am Kopf anlagen. Kein Hütchen, kein Mantel. „Die muss aber viel Hitze haben“, sinnierte Pagel, während Hohenegger die Kinnlade herunterfiel.
„Na? Isse gar nich tot, wa‘?“, hakte Franz nach.
„Ach, hör schon auf“, brummte Hohenegger.
Inzwischen war die Streichlern hinter der Wohnungstür des Ministers verschwunden. Nach einer knappen Stunde tauchte sie wieder auf und ging schnellen Schrittes den Flur entlang. Die drei Skatspieler träumten vor sich hin, was man in dieser Zeit wohl alles hätte tun können, bis Hohenegger sie wieder auf den Boden zurückbrachte: „Wat machen wir denn nu‘? Einfach fragen?“
„Na klar, wir warten nächste Woche oben auf sie.“
Pagel schüttelte den Kopf: „Willst du dich vors Schwesternzimmer stellen und die Frau da ansprechen?“
„Ne, hast Recht, dat geht nich‘. Aber is‘ doch warm draußen. Nächsten Dienstag hören wir rechtzeitig auf mit ‘m Skat und warten im Garten vorm Haupteingang. Da fallen wir nich‘ auf. Nachmittags ist da kein Schatten und andere Bewohner sitzen dann immer auf den Bänken.“ Hoheneggers Vorschlag fand allgemeine Zustimmung.
Der nächste Dienstag. Wieder am Nachmittag.
Die drei Skatfreunde saßen vor der Wohnanlage auf einer Bank am Hauptweg. Das heißt, Pagel saß in seinem Rollstuhl neben der Bank. Schon kam die Streichlerin aus dem Eingang und ging schnellen Schrittes Richtung Parkplatz. Franz und Hohenegger fielen bald die Augen raus, als sie vorbeiging, und sie blieben wie erstarrt sitzen. Pagel überfiel der Mut der Verzweiflung. Mit einigen Griffen steuerte er seinen Rollstuhl fast vor die Frau. Die blieb abrupt stehen. „Verzeihung, ich habe Sie gar nicht gesehen.“
Pagel brachte erst seinen Mund kaum auf, aber dann nuschelte er: „Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?“
„Ja, aber selbstverständlich.“ Die Frau ging in die Hocke, so dass er sie direkt anschauen konnte. Die beiden anderen glotzten weiter wie Schellfische beim Fischhändler.
„Könnten Sie, äh . . . also ich meine, äh . . . also, würden Sie äh auch bei mir, also äh einen Hausbesuch machen?“
Die Frau lächelte Pagel so lieb an, dass ihm ganz warm wurde. „Ich kann Sie gerne besuchen. Aber wenn Sie keine Verordnung haben, müssten Sie privat bezahlen.“
„Das ist überhaupt kein Problem“, strahlte Pagel seinerseits. Was das mit der Verordnung sollte, verstand er zwar nicht, aber er dachte an seinen 75. Geburtstag in zwei Wochen. Da er sich ohnehin Geld von seinen Kindern gewünscht hatte, blieb sicher was übrig.
Die Frau griff in ihre Hosentasche. „Hier haben Sie meine Karte. Rufen Sie doch an, dann machen wir Termine aus. Drei Behandlungen sind das Mindeste. Aber Sechs effektiver.“
Die Frau ging weiter. Pagel hatte nur noch ‚Sex‘ im Ohr. Er brauchte einige Zeit, bis er die Karte gelesen und dieses lange Wort auf ihr verstanden hatte. Dann begann er wiehernd zu lachen.
„Was ist denn jetzt los? Gib schon her.“ Hohenegger riss ihm fast die Karte aus der Hand, las sie und ließ sich auf die Bank fallen. „Wir Hornochsen“, stöhnte er.
„Wat denn, wieso denn?“ Franz hopste auf der Bank herum wie ein Teenager.
„Die Frau ist Masseuse“, prustete Pagel.
„Ja, wieso, das wussten wir doch.“
„Nein, eine echte, eine Physiotherapeutin.“
„Un‘ nu‘? Vielleicht sollten wir mal mit Herbert reden.“
Hohenegger hob seine Augenbrauen: „Ist Herbert jetzt auch Masseur?“
„Quatsch, aber da kommen doch immer mal junge Mädchen vorbei, um ihn zu umarmen.“
„Ach Franz. Die sind völlig angezogen und ab und an gibt’s mal ein Küsschen. Was soll daran denn erotisch sein?“ Hohenegger schaute verzweifelt in die Luft und schlurfte dann ins Heim zurück.
Abends saß Pagel in seinem Rollstuhl vor dem Fenster und wartete auf die Schwester. Eigentlich war er froh, dass aus ihrer Idee nichts geworden war. „Ich bin dir treu geblieben“, flüsterte er. „Aber nicht, weil ich es wollte.“
Schwester Rosita kam ins Zimmer. „Guten Abend, Herr Pagel. Na, hatten Sie einen schönen Tag?“
„Ich glaub nicht“, murrte Pagel.
„Oh, was ist denn geschehen?“ Schwester Rosita ging vor ihm in die Hocke, um seine Kompressionsstrümpfe auszuziehen. „Welche Laus ist Ihnen denn übers Herz gelaufen?“
Pagel musste lachen. „Ich denke an meine Gretha“, meinte er dann. Denn von dem Ereignis am Nachmittag wollte er der Schwester nicht erzählen. Lieber dachte er an seine Frau. Wie sie im Bett Löffelchen gespielt hatten. Gretha hatte hinter ihm gelegen und ihre Arme um ihn gelegt. Sanft streichelte sie seinen Oberkörper. Dann schmiegte sie ihren Kopf an seinen und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Pagel spürte die Wärme des Kusses. „Träum‘ ich oder?“
„Schlafen Sie gut.“ Schwester Rosita verließ sein Zimmer, bevor er antworten konnte. Aber was hätte er auch sagen sollen?