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Painmaker

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20.10.2024
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Painmaker

Er saß auf dem Balkon, oberkörperfrei, und die kühle Abendluft ließ ihn frösteln. Trotzdem blieb er sitzen, ging nicht hinein, um sich einen Sweater zu holen oder eine Jacke. Durch den Innenhof drangen die gedämpften Stimmen der türkischen Familie von gegenüber zu ihm hinauf, und lateinamerikanische Musik. Am Himmel, der den ganzen Tag lang blau gewesen war und sich erst jetzt grau färbte, tanzte ein Vogelschwarm. Ohne dass er ein Muster erkennen konnte, flogen sie mal hierhin, mal dorthin, verschwanden für eine Weile und versammelten sich dann wieder über ihm. Auch in den Bäumen saßen Vögel. Er hörte sie leise zwitschern. Vermutlich gehörten sie einer anderen Art an. Es war ein guter Sonntag gewesen. Er hatte morgens ein wenig geschrieben, war dann gegen Mittag mit seiner Frau zu einer kleinen Fahrradtour aufgebrochen. Das Café, das sie anfuhren, war geschlossen, weswegen sie schließlich in einem Eiscafé einkehrten. Sie bestellte sich einen Becher mit Sahne, er einen Crepes. Danach tranken sie noch einen Kaffee. Geredet haben sie kaum, aber das war ok. Anschließend ging er ins Fitnessstudio. Er hatte keine Lust dazu gehabt, aber zwang sich. Nach ein paar Übungen dachte er nicht mehr über seine Unlust nach und absolvierte stur sein Programm. In den Pausen beobachtete er die Leute. Die meisten Männer waren breiter als er und wirkten trotzdem unsicher auf ihn, wie sie mit ernst-entschlossenen Gesichtern durch den Raum stolzierten oder grimmig die Gewichte stemmten. Die Frauen waren fast ausnahmslos aufreizend gekleidet. Manche sahen in ihren hautengen Elastankostümen geradezu nackt aus. Auch sie waren in bemerkenswerter Form. Nach dem Training fuhr er in seiner verschwitzten Kleidung nach Hause. Seine Frau hatte bereits mit dem Kochen begonnen. Die Hähnchenschenkel waren verdorben und sie musste sie wegschmeißen, ganz wie er es zuvor im Café schon befürchtet hatte. Stattdessen brieten sie vegane Nuggets. Er öffnete die Chilisauce, die er am Vortag gekauft hatte, obwohl sie fast fünf Euro gekostet hatte. Neugierig probierte er eine Messerspitze und freute sich, dass sie wirklich so scharf wie erhofft war. Sie machte ihrem Namen, “Painmaker”, alle Ehre. Er würde sie sicher wieder kaufen. Während des Essens sahen sie sich eine Folge einer amerikanischen Serie an. Beide hatten sie schon mehrfach gesehen, doch das machte ihnen nichts aus. Genau genommen war das der Grund dafür, dass sie sich beim Essen ansahen – sie mussten nicht besonders aufmerksam sein und wurden von nichts überrascht. Als sie aufgegessen hatten, blieben sie noch etwas sitzen, dann stand er auf und räumte die Teller weg. Danach setzte er sich auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Er hatte erst kürzlich wieder mit dem Rauchen begonnen, ironischerweise nachdem er von mehreren Krebsfällen im Familien- und Bekanntenkreis erfahren hatte. Seine Frau hieß sein Laster gar nicht gut, hielt sich mit Kritik aber zurück. Sie wusste mittlerweile, dass er nur aus einer Laune heraus handelte und es bald wieder sein lassen würde. Wie immer ging sie vor ihm ins Bett. Er blieb, mittlerweile geduscht und im Wohnzimmer auf dem Sofa liegend, noch wach. Erst jetzt kamen die Bilder in ihm hoch. Sie hatte am Baum gelehnt und mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts gestarrt, ihr geblümtes Höschen zerissen ein paar Meter neben ihr im gelben Heidegras. Ein dünnes Mädchen mit Sommersprossen, das den Sommer nie wieder genießen würde.

 
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Die letzten zwei Sätze reißen es raus - stark. Sie haben so einen Nachhalleffekt, kommen auch richtig, ganz gemein, und lassen einen dann alleine stehen. Der Twist ist sehr gut, ich schwanke zwischen Gefällt mir äußerst und Jetzt bist du uns aber noch eine Erklärung schuldig! Die Handlung zuvor ist so alltäglich, dass ich dachte, kommt da noch was? Da war das ein gut platzierter Hieb. Stellt sich halt die Frage, war er Täter oder Zeuge.

Ich denke mir auch: Was will mir der Text sage? Dass es eine alltägliche Welt gibt, und die schlimmen Erinnerungen einen in der Stille des Abends einholen? An dem Punkt bleibt der Text stehen, wenn er jetzt nicht heißen soll, dass dein Erzähler ein Triebtäter ist, wovon ich gerade nicht ausgehe. Denn dann hätte mir eine gewisse Wolllust in der Beschreibung des Opfers gefehlt, so wirkt es wie eine schockierende Erinnerung.
Die Prämisse bleibt auf dem Level, der Kürze des Textes geschuldet, stehen und verbleibt damit auch in Banalität - wie gesagt, der Text ist auch sehr kurz, und da stellt sich immer die Frage, was kann ich erwarten bei einer gewissen Kürze. Spannend wäre natürlich jetzt, einen Schritt weiter zu gehen, gewissermaßen - in welcher Form auch immer - einen Dreiakter daraus zu machen: Alltag - schockierende Erinnerung - ? Das letzte Element fehlt hier.
So, und das ist meine Meinung, ist der Text sprachlich hoch angesiedelt, wie gewohnt von dir, er liest sich so von der Hand, man findet sich in den Prots wieder, und das ist eine Stärke von dir, dieser klare, lebendige Stil, und letztendlich gibt es den Knall am Ende. Ein gutes Ding für die Kürze, aber mir fehlt etwas, ein „dritter Akt“ dramaturgisch ausgedrückt, anders: Was macht das mit deinem Prot? So wirkt es wie ein saures Bonbon, BOOM, aber im Vergleich zu einem vollwertigen Gericht zieht es den Kürzeren.

Nachtrag: Wenn du mit der Erinnerung an die Tote darauf hinaus willst, dass dein Prot ein Vergewaltiger-Mörder ist, wäre ich nicht überzeugt vom Text. Dann wäre die Prämisse zu Holzschlaghammermäßig: Es gibt diese Normalos, die aber insgeheim knallharte Sexmörder sind. Das wäre irgendwo ein Klischee, das man aus Serien kennt, an das ich nicht wirklich glaube. In dieser Lesensartvariante würde mir auch Kontext und Fleisch fehlen - warum tut er das? Wie fühlt sich das für ihn an, wie sieht seine Welt für ihn aus? Sexkiller haben ja eine, würde ich sagen, andersartige Auffassung von sich und Recht und der Welt. Ich denke, sie haben keine oder kaum Empathiefähigkeit und bewegen sich hart auf dem Psycho-/Soziopathenspektrum. Da wäre mir der Text hier zu sehr auf den Knaller hingeschrieben, seht hier, ein Normaler, der ein Killer ist! Das müsstest du noch viel weiter ausführen, dass ich das glaube und mitgehe, tief in seinen Kopf rein. Dann könnte es sehr funktioniere än. Wohin der Text will, weiß ich nicht, ob er der Täter oder eine Art Ersthelfer ist, wahrscheinlich solltest du das klarer gestalten, und noch weiter reingehen in das Thema, was das mit ihn macht, wer er ist. Wäre meine Rangehensweise.

 

Ich kann mich dem Lob von @zigga nur bedingt anschließen.
Ein bisschen wirkt dieser Text für mich wie der Gegenentwurf zu deinem letzten. Hast du da nur angedeutet, nicht auserklärt und damit den Versuch unternommen, das Unbehagen durch die Fantasie des Lesers anzuregen, scheint es jetzt so, dass der ganze Text im Prinzip auf diesen letzten Punch hin geschrieben ist. Das kann man machen - ist aber immer auch ein wenig risikoreich, denn was, wenn dieser Punch nicht trifft? Jetzt hab ich mich bei deinem letzten Text ja weit aus dem Fenster gelehnt und bemängelt, dass mir das zu wenig war, zu wenig Effekt, zu wenig Schock. Hier jetzt genau das Gegenteil anzukreiden ist vielleicht nicht ganz fair. Ich muss aber selbstkritisch sagen, dass ich mit der Kritik zu deinem letzten Text vielleicht nicht ganz richtig lag. Ich merke zumindest, dass mir der im direkten Vergleich deutlich besser gefallen hat und (wie von dir beabsichtigt) auch nachhallt.

Zum aktuellen Text: Das Thema scheint mir zunächst mal ähnlich zu sein: Da ist eine Beziehung, die sich routiniert abspielt. Es gibt keine großen Krisen, aber wohl auch kein Prickeln. Es wird wenig geredet, die Sonntage werden mit typischen Paaraktivitäten verbracht, man isst und lebt so nebeneinander her. So wirkt es auf mich. Dann gibt es diesen Bruch - der Protagonist hat etwas getan (im letzten Text noch angedeutet hier schon sehr viel klarer aufgezeigt), was großes Unbehagen beim Leser verursachen soll. Bei mir hat das nicht gezündet und ich frage mich warum. Ich denke, dass es daran liegt, dass die Kürze da schon vermuten lässt, worauf das Ganze hinausläuft. Vielleicht, weil ich eben letzten Text noch im Kopf hatte und das dann meinen Leseeindruck verfälscht.
Ich könnte mir vorstellen, dass wenn du den Text noch länger ausgewalzt hättest (die Arbeit, noch eine Aktivität, wasweißich ...), dass dann dieser Punch besser gewirkt hätte. Damit meine ich nicht, dass du den Text um mehrere Seiten verlängern und unnötig aufblasen sollst, sondern vielleicht noch mal um 300 - 500 Wörter. Dann würde dieses Einlullen in eine Ungefährlichkeit der Welt und der dann folgende Schlag härter wirken - glaube ich. Ich weiß es aber nicht.
Vorausgesetzt natürlich, ich habe den Text nicht massiv falsch interpretiert und es geht schon darum, dass der Protagonist in der Vergangenheit eine Vergewaltigung begangen hat und nicht darum, dass er dieses Mädchen als eine Art Ersthelfer oder Polizist so gefunden hat und dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Da deutet im Text für mich aber nichts drauf hin. Ich denke also, dass ich richtig liege mit meiner Interpretation.

Schreibtechnisch brauche ich nicht viel zu sagen: Das ist routiniert und gut geschrieben!

Wobei so 1-2 Sätze von der Anordnung der Wörter her rausfallen. Ein Beispiel:

Durch den Innenhof drangen die gedämpften Stimmen der türkischen Familie von gegenüber zu ihm hinauf, und lateinamerikanische Musik.
Dieser Nachsatz ließ mich stolpern. Ich gehe aber davon aus, dass du es bewusst so gesetzt hast und da einen gewissen Stil fährst. Geschmackssache.

ganz wie er es zuvor im Café schon befürchtet hatte.
Wieso das?

Während des Essens sahen sie sich eine Folge einer amerikanischen Serie an.
Ist das wichtig? Bzw. ist das ungewöhnlich? Ich würde behaupten, dass 90% der Serien, die wir im Alltag konsumieren, doch US-amerikanisch sind? Warum also erwähnen?

sie mussten nicht besonders aufmerksam sein und wurden von nichts überrascht.
Kann man natürlich auf seine Handlung und ihr Übersehen, was ihr Partner ist, übertragen.

Gerne gelesen!
Beste Grüße
Habentus

 

Hallo @H. Kopper,
liest sich extrem flüssig. Das Ende sieht man irgendwie kommen. Aber das soll ja bestimmt nicht rüberkommen, dass in jedem normalen Ehemann ein Killer steckt. Zum Glück ist das nicht so. Ich wundere mich aber immer, wenn sie solche Leute verhaften, meist durch DNS, dass die doch tatsächlich Frau und Kinder haben. Wie kann es sein, dass die Frau nichts gemerkt hat? Oder wollte sie nichts sehen? Die Fernsehsender sind ja voll von True Crime Sendungen. Was wollen sie wohl damit bezwecken, dass sie die Leute zu nachtschlafener Zeit mit solchem Zeug berieseln? Gruselige Träume? Irgendwas steckt dahinter. Früher gab es ja auch nicht soviel davon. Das Gefährliche dabei ist, dabei könnten in manch einem versteckte Triebe erweckt werden.
Deine Texte handeln oft von Männern, die ihre Sexualität nicht richtig ausleben können, auch wenn sie in einer Beziehung sind. Das macht sie nicht ganz ungefährlich. Eigentlich ganz normale Spießer. Solche sind es auch, um die es in den Fernsehsendungen geht.
Gruß FK

 

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