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Painmaker
Er saß auf dem Balkon, oberkörperfrei, und die kühle Abendluft ließ ihn frösteln. Trotzdem blieb er sitzen, ging nicht hinein, um sich einen Sweater zu holen oder eine Jacke. Durch den Innenhof drangen die gedämpften Stimmen der türkischen Familie von gegenüber zu ihm hinauf, und lateinamerikanische Musik. Am Himmel, der den ganzen Tag lang blau gewesen war und sich erst jetzt grau färbte, tanzte ein Vogelschwarm. Ohne dass er ein Muster erkennen konnte, flogen sie mal hierhin, mal dorthin, verschwanden für eine Weile und versammelten sich dann wieder über ihm. Auch in den Bäumen saßen Vögel. Er hörte sie leise zwitschern. Vermutlich gehörten sie einer anderen Art an. Es war ein guter Sonntag gewesen. Er hatte morgens ein wenig geschrieben, war dann gegen Mittag mit seiner Frau zu einer kleinen Fahrradtour aufgebrochen. Das Café, das sie anfuhren, war geschlossen, weswegen sie schließlich in einem Eiscafé einkehrten. Sie bestellte sich einen Becher mit Sahne, er einen Crepes. Danach tranken sie noch einen Kaffee. Geredet haben sie kaum, aber das war ok. Anschließend ging er ins Fitnessstudio. Er hatte keine Lust dazu gehabt, aber zwang sich. Nach ein paar Übungen dachte er nicht mehr über seine Unlust nach und absolvierte stur sein Programm. In den Pausen beobachtete er die Leute. Die meisten Männer waren breiter als er und wirkten trotzdem unsicher auf ihn, wie sie mit ernst-entschlossenen Gesichtern durch den Raum stolzierten oder grimmig die Gewichte stemmten. Die Frauen waren fast ausnahmslos aufreizend gekleidet. Manche sahen in ihren hautengen Elastankostümen geradezu nackt aus. Auch sie waren in bemerkenswerter Form. Nach dem Training fuhr er in seiner verschwitzten Kleidung nach Hause. Seine Frau hatte bereits mit dem Kochen begonnen. Die Hähnchenschenkel waren verdorben und sie musste sie wegschmeißen, ganz wie er es zuvor im Café schon befürchtet hatte. Stattdessen brieten sie vegane Nuggets. Er öffnete die Chilisauce, die er am Vortag gekauft hatte, obwohl sie fast fünf Euro gekostet hatte. Neugierig probierte er eine Messerspitze und freute sich, dass sie wirklich so scharf wie erhofft war. Sie machte ihrem Namen, “Painmaker”, alle Ehre. Er würde sie sicher wieder kaufen. Während des Essens sahen sie sich eine Folge einer amerikanischen Serie an. Beide hatten sie schon mehrfach gesehen, doch das machte ihnen nichts aus. Genau genommen war das der Grund dafür, dass sie sich beim Essen ansahen – sie mussten nicht besonders aufmerksam sein und wurden von nichts überrascht. Als sie aufgegessen hatten, blieben sie noch etwas sitzen, dann stand er auf und räumte die Teller weg. Danach setzte er sich auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Er hatte erst kürzlich wieder mit dem Rauchen begonnen, ironischerweise nachdem er von mehreren Krebsfällen im Familien- und Bekanntenkreis erfahren hatte. Seine Frau hieß sein Laster gar nicht gut, hielt sich mit Kritik aber zurück. Sie wusste mittlerweile, dass er nur aus einer Laune heraus handelte und es bald wieder sein lassen würde. Wie immer ging sie vor ihm ins Bett. Er blieb, mittlerweile geduscht und im Wohnzimmer auf dem Sofa liegend, noch wach. Erst jetzt kamen die Bilder in ihm hoch. Sie hatte am Baum gelehnt und mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts gestarrt, ihr geblümtes Höschen zerissen ein paar Meter neben ihr im gelben Heidegras. Ein dünnes Mädchen mit Sommersprossen, das den Sommer nie wieder genießen würde.