Was ist neu

Painmaker

Mitglied
Beitritt
20.10.2024
Beiträge
158
Zuletzt bearbeitet:

Painmaker

Er saß auf dem Balkon, oberkörperfrei, und die kühle Abendluft ließ ihn frösteln. Trotzdem blieb er sitzen, ging nicht hinein, um sich einen Sweater zu holen oder eine Jacke. Durch den Innenhof drangen die gedämpften Stimmen der türkischen Familie von gegenüber zu ihm hinauf, und lateinamerikanische Musik. Am Himmel, der den ganzen Tag lang blau gewesen war und sich erst jetzt grau färbte, tanzte ein Vogelschwarm. Ohne dass er ein Muster erkennen konnte, flogen sie mal hierhin, mal dorthin, verschwanden für eine Weile und versammelten sich dann wieder über ihm. Auch in den Bäumen saßen Vögel. Er hörte sie leise zwitschern. Vermutlich gehörten sie einer anderen Art an. Es war ein guter Sonntag gewesen. Er hatte morgens ein wenig geschrieben, war dann gegen Mittag mit seiner Frau zu einer kleinen Fahrradtour aufgebrochen. Das Café, das sie anfuhren, war geschlossen, weswegen sie schließlich in einem Eiscafé einkehrten. Sie bestellte sich einen Becher mit Sahne, er einen Crepes. Danach tranken sie noch einen Kaffee. Geredet haben sie kaum, aber das war ok. Anschließend ging er ins Fitnessstudio. Er hatte keine Lust dazu gehabt, aber zwang sich. Nach ein paar Übungen dachte er nicht mehr über seine Unlust nach und absolvierte stur sein Programm. In den Pausen beobachtete er die Leute. Die meisten Männer waren breiter als er und wirkten trotzdem unsicher auf ihn, wie sie mit ernst-entschlossenen Gesichtern durch den Raum stolzierten oder grimmig die Gewichte stemmten. Die Frauen waren fast ausnahmslos aufreizend gekleidet. Manche sahen in ihren hautengen Elastankostümen geradezu nackt aus. Auch sie waren in bemerkenswerter Form. Nach dem Training fuhr er in seiner verschwitzten Kleidung nach Hause. Seine Frau hatte bereits mit dem Kochen begonnen. Die Hähnchenschenkel waren verdorben und sie musste sie wegschmeißen, ganz wie er es zuvor im Café schon befürchtet hatte. Stattdessen brieten sie vegane Nuggets. Er öffnete die Chilisauce, die er am Vortag gekauft hatte, obwohl sie fast fünf Euro gekostet hatte. Neugierig probierte er eine Messerspitze und freute sich, dass sie wirklich so scharf wie erhofft war. Sie machte ihrem Namen, “Painmaker”, alle Ehre. Er würde sie sicher wieder kaufen. Während des Essens sahen sie sich eine Folge einer amerikanischen Serie an. Beide hatten sie schon mehrfach gesehen, doch das machte ihnen nichts aus. Genau genommen war das der Grund dafür, dass sie sich beim Essen ansahen – sie mussten nicht besonders aufmerksam sein und wurden von nichts überrascht. Als sie aufgegessen hatten, blieben sie noch etwas sitzen, dann stand er auf und räumte die Teller weg. Danach setzte er sich auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Er hatte erst kürzlich wieder mit dem Rauchen begonnen, ironischerweise nachdem er von mehreren Krebsfällen im Familien- und Bekanntenkreis erfahren hatte. Seine Frau hieß seine Laster gar nicht gut, hielt sich mit Kritik aber zurück. Sie wusste mittlerweile, dass er nur aus einer Laune heraus handelte und es bald wieder sein lassen würde. Wie immer ging sie vor ihm ins Bett. Er blieb, mittlerweile geduscht und im Wohnzimmer auf dem Sofa liegend, noch wach. Erst jetzt kamen die Bilder in ihm hoch. Sie hatte am Baum gelehnt und mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts gestarrt, ihr geblümtes Höschen zerissen ein paar Meter neben ihr im gelben Heidegras. Ein dünnes Mädchen mit Sommersprossen, das den Sommer nie wieder genießen würde.

 
Zuletzt bearbeitet:

Die letzten zwei Sätze reißen es raus - stark. Sie haben so einen Nachhalleffekt, kommen auch richtig, ganz gemein, und lassen einen dann alleine stehen. Der Twist ist sehr gut, ich schwanke zwischen Gefällt mir äußerst und Jetzt bist du uns aber noch eine Erklärung schuldig! Die Handlung zuvor ist so alltäglich, dass ich dachte, kommt da noch was? Da war das ein gut platzierter Hieb. Stellt sich halt die Frage, war er Täter oder Zeuge.

Ich denke mir auch: Was will mir der Text sage? Dass es eine alltägliche Welt gibt, und die schlimmen Erinnerungen einen in der Stille des Abends einholen? An dem Punkt bleibt der Text stehen, wenn er jetzt nicht heißen soll, dass dein Erzähler ein Triebtäter ist, wovon ich gerade nicht ausgehe. Denn dann hätte mir eine gewisse Wolllust in der Beschreibung des Opfers gefehlt, so wirkt es wie eine schockierende Erinnerung.
Die Prämisse bleibt auf dem Level, der Kürze des Textes geschuldet, stehen und verbleibt damit auch in Banalität - wie gesagt, der Text ist auch sehr kurz, und da stellt sich immer die Frage, was kann ich erwarten bei einer gewissen Kürze. Spannend wäre natürlich jetzt, einen Schritt weiter zu gehen, gewissermaßen - in welcher Form auch immer - einen Dreiakter daraus zu machen: Alltag - schockierende Erinnerung - ? Das letzte Element fehlt hier.
So, und das ist meine Meinung, ist der Text sprachlich hoch angesiedelt, wie gewohnt von dir, er liest sich so von der Hand, man findet sich in den Prots wieder, und das ist eine Stärke von dir, dieser klare, lebendige Stil, und letztendlich gibt es den Knall am Ende. Ein gutes Ding für die Kürze, aber mir fehlt etwas, ein „dritter Akt“ dramaturgisch ausgedrückt, anders: Was macht das mit deinem Prot? So wirkt es wie ein saures Bonbon, BOOM, aber im Vergleich zu einem vollwertigen Gericht zieht es den Kürzeren.

Nachtrag: Wenn du mit der Erinnerung an die Tote darauf hinaus willst, dass dein Prot ein Vergewaltiger-Mörder ist, wäre ich nicht überzeugt vom Text. Dann wäre die Prämisse zu Holzschlaghammermäßig: Es gibt diese Normalos, die aber insgeheim knallharte Sexmörder sind. Das wäre irgendwo ein Klischee, das man aus Serien kennt, an das ich nicht wirklich glaube. In dieser Lesensartvariante würde mir auch Kontext und Fleisch fehlen - warum tut er das? Wie fühlt sich das für ihn an, wie sieht seine Welt für ihn aus? Sexkiller haben ja eine, würde ich sagen, andersartige Auffassung von sich und Recht und der Welt. Ich denke, sie haben keine oder kaum Empathiefähigkeit und bewegen sich hart auf dem Psycho-/Soziopathenspektrum. Da wäre mir der Text hier zu sehr auf den Knaller hingeschrieben, seht hier, ein Normaler, der ein Killer ist! Das müsstest du noch viel weiter ausführen, dass ich das glaube und mitgehe, tief in seinen Kopf rein. Dann könnte es sehr funktioniere än. Wohin der Text will, weiß ich nicht, ob er der Täter oder eine Art Ersthelfer ist, wahrscheinlich solltest du das klarer gestalten, und noch weiter reingehen in das Thema, was das mit ihn macht, wer er ist. Wäre meine Rangehensweise.

 

Ich kann mich dem Lob von @zigga nur bedingt anschließen.
Ein bisschen wirkt dieser Text für mich wie der Gegenentwurf zu deinem letzten. Hast du da nur angedeutet, nicht auserklärt und damit den Versuch unternommen, das Unbehagen durch die Fantasie des Lesers anzuregen, scheint es jetzt so, dass der ganze Text im Prinzip auf diesen letzten Punch hin geschrieben ist. Das kann man machen - ist aber immer auch ein wenig risikoreich, denn was, wenn dieser Punch nicht trifft? Jetzt hab ich mich bei deinem letzten Text ja weit aus dem Fenster gelehnt und bemängelt, dass mir das zu wenig war, zu wenig Effekt, zu wenig Schock. Hier jetzt genau das Gegenteil anzukreiden ist vielleicht nicht ganz fair. Ich muss aber selbstkritisch sagen, dass ich mit der Kritik zu deinem letzten Text vielleicht nicht ganz richtig lag. Ich merke zumindest, dass mir der im direkten Vergleich deutlich besser gefallen hat und (wie von dir beabsichtigt) auch nachhallt.

Zum aktuellen Text: Das Thema scheint mir zunächst mal ähnlich zu sein: Da ist eine Beziehung, die sich routiniert abspielt. Es gibt keine großen Krisen, aber wohl auch kein Prickeln. Es wird wenig geredet, die Sonntage werden mit typischen Paaraktivitäten verbracht, man isst und lebt so nebeneinander her. So wirkt es auf mich. Dann gibt es diesen Bruch - der Protagonist hat etwas getan (im letzten Text noch angedeutet hier schon sehr viel klarer aufgezeigt), was großes Unbehagen beim Leser verursachen soll. Bei mir hat das nicht gezündet und ich frage mich warum. Ich denke, dass es daran liegt, dass die Kürze da schon vermuten lässt, worauf das Ganze hinausläuft. Vielleicht, weil ich eben letzten Text noch im Kopf hatte und das dann meinen Leseeindruck verfälscht.
Ich könnte mir vorstellen, dass wenn du den Text noch länger ausgewalzt hättest (die Arbeit, noch eine Aktivität, wasweißich ...), dass dann dieser Punch besser gewirkt hätte. Damit meine ich nicht, dass du den Text um mehrere Seiten verlängern und unnötig aufblasen sollst, sondern vielleicht noch mal um 300 - 500 Wörter. Dann würde dieses Einlullen in eine Ungefährlichkeit der Welt und der dann folgende Schlag härter wirken - glaube ich. Ich weiß es aber nicht.
Vorausgesetzt natürlich, ich habe den Text nicht massiv falsch interpretiert und es geht schon darum, dass der Protagonist in der Vergangenheit eine Vergewaltigung begangen hat und nicht darum, dass er dieses Mädchen als eine Art Ersthelfer oder Polizist so gefunden hat und dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Da deutet im Text für mich aber nichts drauf hin. Ich denke also, dass ich richtig liege mit meiner Interpretation.

Schreibtechnisch brauche ich nicht viel zu sagen: Das ist routiniert und gut geschrieben!

Wobei so 1-2 Sätze von der Anordnung der Wörter her rausfallen. Ein Beispiel:

Durch den Innenhof drangen die gedämpften Stimmen der türkischen Familie von gegenüber zu ihm hinauf, und lateinamerikanische Musik.
Dieser Nachsatz ließ mich stolpern. Ich gehe aber davon aus, dass du es bewusst so gesetzt hast und da einen gewissen Stil fährst. Geschmackssache.

ganz wie er es zuvor im Café schon befürchtet hatte.
Wieso das?

Während des Essens sahen sie sich eine Folge einer amerikanischen Serie an.
Ist das wichtig? Bzw. ist das ungewöhnlich? Ich würde behaupten, dass 90% der Serien, die wir im Alltag konsumieren, doch US-amerikanisch sind? Warum also erwähnen?

sie mussten nicht besonders aufmerksam sein und wurden von nichts überrascht.
Kann man natürlich auf seine Handlung und ihr Übersehen, was ihr Partner ist, übertragen.

Gerne gelesen!
Beste Grüße
Habentus

 

Hallo @H. Kopper,
liest sich extrem flüssig. Das Ende sieht man irgendwie kommen. Aber das soll ja bestimmt nicht rüberkommen, dass in jedem normalen Ehemann ein Killer steckt. Zum Glück ist das nicht so. Ich wundere mich aber immer, wenn sie solche Leute verhaften, meist durch DNS, dass die doch tatsächlich Frau und Kinder haben. Wie kann es sein, dass die Frau nichts gemerkt hat? Oder wollte sie nichts sehen? Die Fernsehsender sind ja voll von True Crime Sendungen. Was wollen sie wohl damit bezwecken, dass sie die Leute zu nachtschlafener Zeit mit solchem Zeug berieseln? Gruselige Träume? Irgendwas steckt dahinter. Früher gab es ja auch nicht soviel davon. Das Gefährliche dabei ist, dabei könnten in manch einem versteckte Triebe erweckt werden.
Deine Texte handeln oft von Männern, die ihre Sexualität nicht richtig ausleben können, auch wenn sie in einer Beziehung sind. Das macht sie nicht ganz ungefährlich. Eigentlich ganz normale Spießer. Solche sind es auch, um die es in den Fernsehsendungen geht.
Gruß FK

 

Hallo @H. Kopper,

erst mal der Kleinkram:

Er saß auf dem Balkon, oberkörperfrei, und die kühle Abendluft ließ ihn frösteln.
Es gibt genug "und". ;)

Trotzdem blieb er sitzen, ging nicht hinein, um sich einen Sweater zu holen oder eine Jacke.
Hier dachte ich - was will er noch aufzählen? Oder einen Mantel oder ein ...

Ich frage mich, welche Details für einen Text notwenig sind, für die Stimmung, die Beschreibung der Charaktere. Wahrscheinlich bin ich hier zu extrem für das Reduzieren.

Am Himmel, der den ganzen Tag lang blau gewesen war und sich erst jetzt grau färbte, tanzte ein Vogelschwarm.

Ohne dass er ein Muster erkennen konnte, flogen sie mal hierhin
Eigentlich flog 'er' (oder du erwähnst die Vögel).

einen Crepes
eine Crêpe

obwohl sie fast fünf Euro gekostet hatte.
Warum hat der Preis etwas mit der Nutzung zu tun?

Übrigens: Dieser Titel "Painmaker", das Ende der Geschichte und das banale Chillipulver - prima Idee!

Zum Inhalt:

Jetzt wird es für mich schwer, eine angemessene Einschätzung zu schreiben. Ich weiß nicht - schon wieder so ein Text in dem Banales erzählt wird, dann mit einer Art psychischen Holzhammer eine Reaktion des Lesers erzwungen werden soll (die auch in ihrer Art eigentlich schon vorprogrammiert ist).
Wobei du, immerhin, eine überraschende Wende (wenn auch mit oft bemühten Mitteln) konstruierst. Viele Texte (das bezieht sich nicht unbedingt auf das Forum) geben sich noch nicht mal diese Mühe.

Wahrscheinlich tue ich dir Unrecht, bin einfach mit zu vielen solcher Texte (s. o.) konfrontiert worden. (Ich schicke das jetzt mal trotzdem ab - vielleicht gibts doch Aspekte, die mich umdenken lassen.) :confused:

Nun, jedenfalls ist das Ganze flüssig geschrieben, mit nachvollziehbaren Szenerien.

LG,

Woltochinon

 

@zigga @Habentus @Frieda Kreuz @Woltochinon

Hallo zusammen,

ich bedanke mich für eure Rückmeldungen. Bei diesem Text ist es so, dass ich einfach mal in 30 Minuten eine Art Momentaufnahme geschrieben habe – ohne Absicht, daraus eine Geschichte zu machen. Beim Lesen ist mir dann der Schluss eingefallen, also die letzten beiden Sätze, die aus dem Ganzen dann doch irgendwie eine Geschichte formen, finde ich. Ich fand es spannend, wie sich, sobald der Schluss angehangen war, plötzlich in dem eigentlich ja sehr nüchternen Textteil davor Andeutungen für etwas Düsteres fanden. Ich habe mich dann gefragt, wie die Reihenfolge war: Waren die Andeutungen schon da, sodass der Schluss assoziativ entstanden ist. Oder hat der Schluss diese Andeutungen sozusagen rückwirkend erschaffen? Ich neige zu Variante eins.

Ausserdem ist meine eigene Lesart übrigens tendenziell die, dass der Protagonist hier ein Verbrechen begangen hat (es ist natürlich irgendwo kurios, zu seinem eigenen Text eine "Lesart" zu haben, denn ich müsste als Autor ja wissen, wie es ist. In diesem Fall tue ich das aber nicht, eben weil der Schluss sich willkürlich aus dem Text ergeben hat und beide Varianten – Täter oder "Zeuge" offen lässt). Er ist für mich sogar Serientäter.

Warum glaube ich das? Weil der Titel der Sauce und dann auch des Textes schon ein starkes Signal ist und auf eine aktive Rolle hinweist: Painmaker – jemand, der Schmerz erzeugt. Klar, könnte theoretisch auch eine Sache der Auslöser von Schmerz sein; in diesem Fall der reine Anblick des Mädchens o. Ä. Aber da der Text so kurz ist und von einem Mann handelt, liegt es für mich nahe, dass er der Painmaker ist.

Entscheidend ist für mich also wie bei meinen letzten Texten der Subtext. Ich finde das momentan sehr spannend, mich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Der Titel schafft Subtext, aber auch andere Elemente. Etwa die Tatsache, dass der Fitnessstudiobesuch letztlich grundlos sexuell konnotiert erzählt wird. Das sagt etwas über den Blick des Mannes aus. Oder, dass der Mann bewusst weiterfröstelt, also einen unguten Zustand proaktiv und willentlich hinnimmt. Auch das Wiederrauchen trotz Wissen um die Gefahren spielt hier rein.

In meiner Lesart ist die Frau Mitwisserin in irgendeiner Form. Das ergibt sich für mich aus dem Subtext, vor allem aus dieser Stelle:

Seine Frau hieß sein Laster gar nicht gut, hielt sich mit Kritik aber zurück. Sie wusste mittlerweile, dass er nur aus einer Laune heraus handelte und es bald wieder sein lassen würde.

Das ist für mich bitterböse zu verstehen: Hier wird von "Laster" gesprochen, wo es in Wahrheit um schwere Verbrechen geht.

Für mich ist die Vorstellung faszinierend, dass Verbrecher einerseits von ihren Verbrechen beherrscht werden müssen – gerade Triebtäter. Aber andererseits nimmt auch sie das Leben ein, zumal sie ja oft einen Schein wahren und sich ganz normal durch die Gesellschaft bewegen. In meinen Augen ist es also kein Widerspruch, dass der Text erst im Alltäglich dahinzuplätschern scheint, dann aber am Ende etwas Grausames enthüllt. Im Gegenteil: Das scheint mir eher den Normalfall abzubilden. Und dass die Frau irgendwie um die Sache weiß oder es ahnt, scheint mir mittlerweile auch nicht mehr unplausibel. Man denke nur an Jeffrey Epstein und Ghislaine Maxwell.

Naja, ich habe jetzt mal untypischerweise meine eigene Interpretation und Gedanken zu dem Text enthüllt, was nicht heißt, dass ich eure Rückmeldungen nicht wertschätze. Es ist nur einfach so, dass ich bei so einem "schnellen Text" jetzt auch nicht im Nachgang mit Kanonen auf Spatzen schießen und mehr daraus machen will, als es ist. Es ist wirklich nur eine Skizze, ein schneller Versuch ohne große Ambitionen gewesen, zu der mich Feedback natürlich dennoch interessiert hat.

Womit ihr indes recht habt, ist, dass ich gerade nach einem etwas neuen Anpack im Schreiben suche:

Das Thema scheint mir zunächst mal ähnlich zu sein: Da ist eine Beziehung, die sich routiniert abspielt. Es gibt keine großen Krisen, aber wohl auch kein Prickeln. Es wird wenig geredet, die Sonntage werden mit typischen Paaraktivitäten verbracht, man isst und lebt so nebeneinander her. So wirkt es auf mich. Dann gibt es diesen Bruch - der Protagonist hat etwas getan

Deine Texte handeln oft von Männern, die ihre Sexualität nicht richtig ausleben können, auch wenn sie in einer Beziehung sind. Das macht sie nicht ganz ungefährlich. Eigentlich ganz normale Spießer. Solche sind es auch, um die es in den Fernsehsendungen geht.

Neulich hat mir jemand gesagt, dass die Protagonisten in meinen Texten oft wütend sind oder werden. Das hat mir zu denken gegeben und ich habe mir vorgenommen, nun auf die Suche nach anderen Emotionen zu gehen. So gesehen sind wir jetzt vielleicht einen Schritt zurückgetreten und schauen mehr auf die Auslöser von Wut. Ich weiß auch nicht.

Generell ist es ja so, dass es nicht so viele interessante Grundkonflikte gibt, die man in alltagsnahe Geschichten aus der Mittelschicht packen kann. Scheint mir jedenfalls in meiner eigenen Beschränktheit so.

Freundliche Grüsse und schönen Sonntag noch

Henry

PS: @zigga

Deinen Nachtrag sehe ich erst jetzt und er argumentiert genau gegen meine Lesart und damit auch Intention. Habe meine Argumente ja schon platziert. Ich gebe dir recht, dass der Kontrast "Normalo vs. Verbrecher" nicht neu ist. Indes glaube ich schon, dass das vielleicht nicht der Normalfall, wohl aber ein häufiges Phänomen ist. Erst neulich war das in einer True-Crime-Doku wieder der Fall: Erfolgreicher Immobilienmakler mit eigener Firma, der auf seinem Anwesen Leute in einem Baucontainer gefangen gehalten hat, um sie wie andere früher oder später umzubringen.

Jetzt muss ich dir wieder Recht geben, dass dieser Typ sich bei genauerer Betrachtung alles andere als normal verhalten hat. Aber ohne das Wissen um seine Taten fiel das eben überhaupt nicht auf. Das heißt, es ist doch eine Frage der Perspektive: Geht ein Text personal vor, dann muss er die Abgründe früh enthüllen. Doch mit der Distanz zur Figur steigt auch das Nichtwissen um die Wahrheit und die Täuschung.

Das andere Argument gegen deinen Einwand wäre für mich: Egal, wie krank oder kaputt jemand ist, er bleibt Mensch und muss menschliche Bedürfnisse abdecken. Das erfordert Aufwand, Routinen und Abläufe, die nicht anders aussehen als bei uns allen. Ich meine, auch ein Serienmörder wird höchstwahrscheinlich sein Essen im Supermarkt kaufen und nicht erjagen oder aus Mülltonnen sammeln. Dafür braucht er Geld, das muss verdient werden usw. Und schon sind wir doch bei der berühmten Fassade, die aus rein praktischen Gründen errichtet wird und zu der eine Frau oder Partnerin gut passt, weil diese Arbeiten übernehmen kann und für Schatten sorgt.

 

Hey @H. Kopper

Entscheidend ist für mich also wie bei meinen letzten Texten der Subtext.
Der Text wirkt auf mich so ein bisschen wie eine Skulptur mit einem aufgepropften Lehmklumpen als Kopf. Mich hat daher der Einblick in den Entstehungsprozess wenig überrascht.
Wenn dich Subtext interessiert, wäre es aus meiner Sicht zwingend, das gesamte Ende zu streichen und dafür den Text feiner zu ziselieren, also einen Subtext zu schaffen, der allein ausreicht, um ein gewisses Unbehagen zu generieren, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt und zwar massiv nicht stimmt. Du könntest zum Beispiel (nur so schnell daher gedacht) einen Einblick in den Auswahlprozess bezüglich des nächsten Opfers geben, natürlich ohne das zu benennen. Ich fände, das wäre eine reizvolle Aufgabe, den Holzhammer aus dem Text zu nehmen und dennoch eine gewisse (in meinen Augen: grössere) Wirkung zu erzielen.

Es stimmt schon, dass - wenn man den Text noch einmal liest - klar wird, dass da schon einige Andeutungen gestreut wurden. Aber so wie der Text jetzt daherkommt, ist er auf den expliziten Shocker am Ende angewiesen, denn bis zu diesem Ende fand ich den Typen zwar eigentümlich, aber nicht wirklich schräg/gefährlich.

Das ist für mich bitterböse zu verstehen: Hier wird von "Laster" gesprochen, wo es in Wahrheit um schwere Verbrechen geht.
Da gehe ich überhaupt nicht mit. Als Leser beziehe ich "Laster" eindeutig und nur auf das Rauchen. Ich gehe jede Wette ein, dass das allen anderen Lesern auch so geht. Wenn du also etwas andeuten willst, dann müsstest du wohl "seine Laster" schreiben.

Das Ende kommt mir auch deshalb so aufgepropft vor, weil ich es unplausibel finde.

Erst jetzt kamen die Bilder in ihm hoch.
Ich bin kein Experte, aber ich kann mich noch gut an ein langes Interview mit einem Triebtäter erinnern, das ich mal gelesen habe. Der hat nicht am Abend mal ein wenig an seine Taten gedacht, sondern unablässig den ganzen Tag hindurch. Und es war auch nicht so, dass die Erinnerung "hochkam", was passiv und unangenehm erscheint (und @zigga wohl dazu veranlasst hat, ihn als Zeugen und nicht als Täter zu sehen), sondern die Erinnerungen hat er aktiv gepflegt, damit sie ihm immer wieder Befriedigung verschaffen können.
das den Sommer nie wieder genießen würde.
Autorenkommentar, an den Leser gerichtet. Der Täter im Interview wurde gefragt, ob er etwas bedaure, und er hat geantwortet, ja, dass die Erinnerung an die Tat verblasst. Dass der Täter hier im Text die Opferperspektive einnimmt, erscheint mir wenig plausibel. Auch das hat wohl zigga dazu gebracht, ihn nicht als Täter zu lesen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo @Peeperkorn,

danke für deine Replik. Ich sagte in den Kommentaren ja schon, dass der Text ein kurzes Experiment war, weswegen ich ihn momentan nicht weiterverfolgen werde, schätze ich. Dein Urteil bestätigt mich darin, das Experiment als ganz bzw. semi-gescheitert anzusehen.

Zu einer Sache möchte ich aber noch etwas anmerken. Und zwar hierzu:

Das Ende kommt mir auch deshalb so aufgepropft vor, weil ich es unplausibel finde.
Erst jetzt kamen die Bilder in ihm hoch.
Ich bin kein Experte, aber ich kann mich noch gut an ein langes Interview mit einem Triebtäter erinnern, das ich mal gelesen habe. Der hat nicht am Abend mal ein wenig an seine Taten gedacht, sondern unablässig den ganzen Tag hindurch. Und es war auch nicht so, dass die Erinnerung "hochkam", was passiv und unangenehm erscheint (und @zigga wohl dazu veranlasst hat, ihn als Zeugen und nicht als Täter zu sehen), sondern die Erinnerungen hat er aktiv gepflegt, damit sie ihm immer wieder Befriedigung verschaffen können.

Ich stelle überhaupt nicht in Abrede, dass es Leute gibt, wie du sie hier beschreibst. Ich bin aber überzeugt, dass es auch Leute gibt, die gegen ihre eigene Grundmoral, gegen ihr Gewissen handeln und Verbrechen begehen, die sie eigentlich nicht begehen wollen – oder zumindest will ein Teil von ihnen das nicht.

Ein Beispiel, um meine These zu untermauern, wäre das präventive Hilfsangebot an Pädophile. Es gibt da eine Stelle (oder Stellen), wo sich Menschen melden können, die sich zu Kindern hingezogen fühlen, was ja aus psychologischer Sicht eine Neigung ist, die sich ohne Schuld dieser Menschen bei ihnen gebildet hat. Bei dieser Stelle werden sie dann beraten, damit sie nicht kriminell werden bzw. damit sie ihren Trieb nicht auf kriminelle Weise ausleben.

Es wird da aber sicher Leute geben, wo dieser Ansatz scheitert. Das wäre doch dann genau so eine Person, wie sie in meinem Text skizziert sein könnte: Es gibt ein Problembewusstsein, den Wunsch, sich gut und richtig zu verhalten, aber es gibt auch diesen düsteren Trieb, der zumindest punktuell übermächtig wird. So eine Person würde Erinnerungen an Taten weitgehend proaktiv von sich fernhalten wollen, bis diese sich ihr wieder bemächtigen.

Hierbei gebe ich dir indes aus erzähltaktischer Sicht völlig recht – werde das direkt ändern:

Das ist für mich bitterböse zu verstehen: Hier wird von "Laster" gesprochen, wo es in Wahrheit um schwere Verbrechen geht.
Da gehe ich überhaupt nicht mit. Als Leser beziehe ich "Laster" eindeutig und nur auf das Rauchen. Ich gehe jede Wette ein, dass das allen anderen Lesern auch so geht. Wenn du also etwas andeuten willst, dann müsstest du wohl "seine Laster" schreiben.

Freundliche Grüsse

Henry

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom