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Paparazzi
Schon wieder Blut im Waschbecken. Scheiße. Egal. Weitermachen. Kotzen. Wie lange geht das jetzt schon? Jahre, was sind das? Zeit? Was ist das? Die Zeit vom letzten großen Erfolg bis heute? Welcher große Erfolg überhaupt? Ich taste in der Dunkelheit meiner Handtasche nach meiner Hauptbeschützerin und beruhige mich, als ich das kalte Metall fühle. Titelseite. Von was? Wasser aus dem goldenen Hahn des scheiß Clubs, in dem ich mich befinde kühlt mein Gesicht und verwischt mein Make-up. Love will tear us apart. Spiegel sind ein Graus, es sei denn es liegt etwas Pulvriges darauf. Ich betrachte die Narben an meinen Unterarmen. Zwei sind noch frisch. Ein bisschen mit den manikürten Nägeln darüber kratzen und schon würde ich mich spüren. Ein seltenes Vergnügen. Aber heute, an diesem scheiß bedeutenden Abend: unmöglich. Die Fotografen würden sich auf die frischen Wunden stürzen wie Aasgeier. Im Prinzip sind es auch keine Geier, die würden viel später kommen. Es sind Hyänen. Die stärksten Aasfresser überhaupt. Stattdessen zwei Tabletten, Agonisten des Revolvers in meiner Tasche. Nebenbeschützer gegen die Angst. Und immer wieder diese Liedzeile, nicht nur im Ohr, im ganzen Kopf, von Innen an die Schädeldecke hämmernd: Love will tear us apart.
Ja klar denke ich manchmal an Liebe, wenn es blitzt während meine Stilettos über den roten Teppich trippeln und dann das Kreischen überall. Doch jetzt? Raus aus dem Luxus-WC, in dem sich der Orchideengeruch eines Raumerfrischers mit meinem Erbrochenen zu einer Sinneswahrnehmungskakaphonie hochstilisiert hat und rein ins Getümmel der glamourösen Societymasse. Der Champagner prickelt mir die letzten Krümel Kotze aus dem Mund. Meine schöne teure Nase ist verstopft. Getrocknetes Blut verkrustet die angeschwollene Schleimhaut. Noch ist der Tunnel, durch den ich mich schwebend bewege schön geräumig. Noch. Love will tear us apart. Von allen Seiten aufflackernde Gesichter, in denen Geld und Einsamkeit schimmern wie Alchemistengold. Küsschen links. Küsschen rechts. Ich werde hier verehrt, schließlich bin ich nominiert. Preisträgerin. Bestgekleidete Frau des Jahres. Jetzt nur nicht den Überblick verlieren. Zum Glück hat mein Manager immer ein Auge auf mich. Eigentlich ist er der schlimmste von allen.
„Ladys und Gentleman, darf ich Sie bitten, ihre Plätze einzunehmen, in Kürze beginnt die Preisverleihung.“
Der Typ auf der Bühne, Smoking. Noch nie gesehen. Das Karussell in meinem Kopf setzt sich bimmelnd in Bewegung. Die Geräusche in meiner Umgebung liefern den Soundtrack dazu. Gelächter mischt sich mit Stimmengewirr, das zu einem einzigen gezischelten Getuschel anschwillt. Der Bass der Housemusik wummert wie der Herzschlag eines Rennpferds auf der Zielgeraden. Love will tear us apart.
„Hey Lindsay!“ von weit weg.
„Alles Gut bei dir? Lindsay?“ schon etwas näher, aber wo?
„Komm wir stoßen an, Süße!“ die Stimme kenne ich. Hinter mir.
Ruckartig bleibe ich stehen und drehe mich um. In Nebel gehüllt und von Sternen flankiert. Trotzdem erkenne ich das Botoxgesicht. Wie ich sie hasse! Schlimmer ist jedoch der ganze Mist mit der Preisverleihung, der mir gleich bevorsteht. Meine Eingeweide fühlen sich an, als würde eine Würgeschlange sie mit einem Kaninchen verwechseln. Diese scheiß Angst.
„Jetzt nicht Süße, es geht gleich los!“, höre ich mich sagen und stürze ein Glas Champagner in einem Zug herunter. Love will tear us apart.
„Ich drück` dir die Daumen, bis später“ säuselt sie mit hinterher. Lügnerin. Wo ist bloß mein Sitzplatz? Am liebsten würde ich weglaufen. Das Kopfkarussell hat mittlerweile richtig Fahrt aufgenommen. Ich suche meinen Platz, irre zwischen den Stuhlreihen umher, stolpere, werde beobachtet. Fotografiert. Die Paparazzi sind heute offiziell, mit Akkreditierung. Nur nicht auffallen. Ich darf mir keine Skandale mehr leisten. Zur Toilette schaffe ich es nicht mehr. Ein bisschen Koks. Ein paar Tabletten. Diese paranoide Angst bekämpfen, oder doch abhauen? Wo ist hier der Hinterausgang? Love will tear us apart. Ich zucke zusammen. Jemand hat mich am Arm gepackt.
„Lindsay, komm hier entlang. Reiß` dich verflucht noch mal zusammen!“ Die Stimme meines Managers. Er führt mich in die erste Reihe und nimmt neben mir Platz. Die Show beginnt. Wortfetzen. Bilder auf der Leinwand, die uns Nominierte in verschiedenen Stylings zeigen. Die Geräuschkulisse der Präsentation hallt in meinem Kopf wie eine gestörte Mobilfunkverbindung. Von allen Seiten Blitzlichter.
„Lächeln, Lindsay!“, droht mein Manager. Scheiß Zuhälter, denke ich und grinse in die Kameras. Ohne Tabletten schaffe ich das nicht. Zusammenbruch vor versammelter Mannschaft. Das Karussell bimmelt und dreht sich in irrwitziger Geschwindigkeit. Love will tear us apart. Mein Name. Von ganz weit weg. Manager schubst mich an. Mein Zustand gepaart mit 10 cm hohen Absätzen muss auf die Bühne. Blitzlichtgewitter. Schützend hebe ich die Hände, wie ein wegen Mordes Angeklagter, wenn er den Gerichtssaal betritt. Ich schaff das dieses Mal nicht. Der Typ im Smoking hält mir die Trophäe entgegen. Gratulation. Küsschen. Er zeigt auf`s Rednerpult. Eine unsichtbare Kraft zieht mich nach unten. Kalter Schweiß rinnt mir aus sämtlichen Poren. Ich stelle meine Handtasche hinter die kleine Umrandung des Stehpults. Zuschauer klatschen. Alles in Zeitlupe. Auch die Geräusche, als würde ein Tonband viel zu langsam laufen. Ganz im Gegensatz zum Karussell in meinem Hirn. Love will tear us apart. Bimmel,bimmel. Was sage ich bloß? Meine Hand verschwindet in der Tasche und tastet nach dem Tablettenröhrchen. Meine Finger stoßen an das kalte Metall. Auf beiden Ohren ein Summen, das Bimmelkarussell fast übertönend. Plötzlich beobachte ich mich aus einer Position circa einen Meter über mir. Ich halte die Automatik in der Hand. Die Bilder jetzt in Superzeitlupe. Keine Geräusche mehr, wie im Auge des Wirbelsturms. Und dann, als hätte jemand ein unsichtbares Zeichen gegeben: Stopp.
Weit aufgerissene Augen und Münder. Vereinzelndes Kreischen.
„Ruhe! Keiner bewegt sich!“
Meine Waffe zielt wie ferngesteuert zuerst unwillkürlich, dann bewusst. Sie verharrt bei einem Paparazzo. Dieses Schwein kenne ich. Hat mich nur allzu oft gejagt wie Großwild. Jetzt drehe ich den Spieß um. Mein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Alle Angst ist verflogen.