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Parkbank-Ökonomie
Der Mann setzte sich auf die Bank zu ihm, obwohl es die einzige besetzte war. Gut, dies war Köln, nicht Bielefeld. Mark hatte mittlerweile drei Semester Zeit gehabt, sich an die unnatürliche Freundlichkeit der Domstadt-Bewohner und andere persönliche Macken der Rheinmetropole zu gewöhnen. Die Wildfremden, die einen in der U-Bahn plötzlich ansprachen und in ein Gespräch zu verwickeln suchten. In OWL die halbe Miete auf dem Weg zu einer Prügelei. Hier so alltäglich wie Schnitzel mit Senf.
Und die Schwulen. Diese unglaubliche Dichte an Männern, die CSU-Politiker auf die Knie sinken lassen, den Himmel beschwörend um ein reinigendes Feuer zur heilenden Auszehrung Gomorras. Natürlich hatte auch Bielefeld eine Szene. Aber sicher nicht eine so potente, dass man auf Partys Gesprächsfetzen hören konnte wie: „Ach, der hat ’ne Freundin? Da wäre ich nie drauf gekommen! Ich meine, so sieht er ja echt völlig normal aus ...“ In Köln ... Schnitzel.
Mark schielte nach links. Er war oft von Männern angebaggert worden, seit er hierher gezogen war. Das erste Mal war er noch regelrecht schockiert gewesen. Er hatte Blut in seinen Kopf fließen spüren, war von einheimischen Kommilitonen ausgelacht worden und hatte „Düsseldorf“ und noch mehr Gelächter als Antwort auf die Frage bekommen, wo der nächste tuntenfreie Laden sei, in den man gehen könne. Mittlerweile hatte er sich an die mal mehr, mal weniger gefühlvollen Angebote gleichgeschlechtlichen Verkehrs („Hättest du vielleicht Bock auf blasen?“) gewöhnt wie an die Kölner U-Bahn mit ihren spontanen Kaffeekränzchen.
Bis vor kurzem hatte Mark sich Verehrer mit karikaturhaft maskulinem Verhalten vom Hals gehalten. Viele von Ihnen brachen den Flirt ab, wenn der Gegenüber sich sekundenlang im Hintern kratzte, nach langem Hochziehen einen dicken gelben Ball platschend auf den Asphalt spuckte oder sich in die bloße Hand schnäuzte, um das Ergebnis dann an der Hose abzuwischen. Dann hatte er sich an nasale Stimmen, Schlangenlederkostüme und „Winke Winke“ machende Männer gewöhnt wie ein Bundeswehrrekrut an den Morgenappell. Und schließlich hatte er gelernt, die Angebote höflich abzulehnen, um die Erkenntnis reicher, dass begehrt zu werden unabhängig vom Geschlecht des Begehrenden doch eigentlich immer eine Massage für das Selbstbewusstsein ist.
„Mmmmnh, was liest’n da?“, fragte sein Banknachbar. Mark sah auf und fühlte sich unangenehm berührt, als ihm klar wurde, dass er die angewiderte Überraschung in seinem Blick nicht hatte verbergen können.
Ein Obdachloser. Einer von denen, die nicht von einer Wolke aus Urin und günstigem Alkohol umgeben waren und den man daher nicht am Geruch erkannt hatte. Die Kleidung aber ließ keinen Zweifel am sozialen Stand des Mannes: Eine verschlissene, braune Cordhose, ein Bundeswehrparka mit einem zerrissenen Ärmel, Adidas-Turnschuhe, die zu ausgelatscht waren, um als Retrolook durchzugehen. Ein ungepflegter Bart, ein Urwald, von dem Mark sich einbildete, Ungeziefer darin herumwuseln zu sehen.
Er hielt das Buch hoch. Der Obdachlose las: „Komm ... petitiewe ...“
„Competitive. Competive Strategy: Techniques for analyzing industries and competitors. Das ist Englisch.“
„Mach Sachen.“
„Es geht um Wettbewerbsstrategien.“
„Was denn für’n Wettbewerb?“
„Der Markt. Wettbewerb halt ... zwischen Unternehmen.“
„Oh. Bist du so’n Jungunternehmer?“
„Vielleicht werd’ ich mal einer“, sagte Mark. „Ich studiere hier in Köln BWL.“
„Und da geht’s um Wettbewerb?“
„Betriebswirtschaftslehre. Es geht um ... alles halt. Kaufen, verkaufen, Angebot, Nachfrage-“
„Kohle?“
Mark dachte einen Moment nach. Bisher hatten weder laienhafte noch professionelle Definitionen dessen, was er in seinem Studium tat, ihn zu überzeugen vermocht. Einiges war zu speziell, fast alles zu allgemein. Aber dieses eine Wort ... doch, da steckte eigentlich alles drin. Der Student lächelte und nickte. Der Obdachlose lächelte zurück und entblößte unerwartet gut situierte Zähne. Er sagte: „Ja, Kohle. Ist schön, wenn man `se hat.“
Und noch eine Weisheit, wie man sie so in Ihrer simplen Wahrheit nicht in Vorlesungen zu hören kriegte. Mark zog in Betracht, die philosophische Dienstleistung mit einem Euro zu entlohnen.
„Wirst du mal viel Kohle haben?“, fragte der Obdachlose.
Das Gespräch drohte eine unangenehme Wendung zu nehmen. Wie sollte man mit jemandem, dessen Einkaufsmeile die Müllkörbe der Stadtparks waren, über die eigene Arbeit am Traum vom großen Geld reden? Wie sollte man das tun, ohne sich anschließend schlecht zu fühlen?
Mark holte sein Portemonaie hervor und kramte im Kleingeldfach.
„Hohoho, klingt, als hättest du das Studium gar nicht mehr nötig, mein Freund“, sagte der Obdachlose, beugte sich zu Mark rüber und schielte nach dem Geld. Etwas im Atem des Zerlumpten roch nach Hundefutter. Mark stand auf.
„Hören Sie, ich muss weg. Das war’n nettes Gespräch. Hier. Ich habe etwas Geld-“
„Etwas? Hey, ich denke, du studierst, äh, Wettwerbungsstatistik, da kannst du doch mit dem Geld rechnen, dass du in fünf Jahren verdienst, vorauswirkend sozusagen ...“
Mark spürte jede Sympathie für den Mann in sich schwinden. Der Sozialschmarotzer, das heiß diskutierte Feindbild Nr.1 auf jeder BWLer-Party, die er jemals besucht hatte, hatte den Schlüssel zur Kammer seines eigenen Erfahrungsschatzes gefunden. Faules ... Pack. Auch das war kein akademisches Vokabular, aber in seiner Einfachheit genau so entlarvend nah an der Wahrheit wie „Kohle“. Mark hatte den kleinen Finger gereicht. Jetzt drohte der Verlust des Arms.
„Hier.“ Er warf einen Euro in den Kies vor der Bank. „Ich muss weg.“
„Junge?“ Mark blieb stehen, einer inneren Stimme sagend, sie solle sich zum Teufel scheren.
„Ich hab nicht mehr“, log er, ohne sich umzudrehen.
„Das mein ich nicht“, sagte der Obdachlose.
„Sondern?“
Das unverkennbare Geräusch eines sich öffnenden Hosenreißverschlusses erklang.
„Hättest du vielleicht Bock auf blasen?“