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Patchwork
Es lief wieder einmal alles anders und gar nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. In Martins Vorstellung waren die Dinge immer anders. Da war Familie ein idyllischer Ort, voll Verständnis und Liebe, da waren seine Söhne Musterbeispiele wohlerzogener Jungs und er jedes Jahr aufs Neue »Vater des Jahres«. Das wäre es, wieder »Vater des Jahres« sein. Das war man selbstverständlich, wenn man der einzige Vater war, aber seit Neuestem war da ja René, und der strengte sich bei Gott an, ihm den Rang abzulaufen.
Martin überschlug das rechte Bein, rutschte mit seinem knochigen Hintern auf dem harten Sitz. Wieso musste man in Kirchen immer so unbequem sitzen? Er verlagerte das Gewicht auf die rechte Gesäßhälfte, das war für den Moment die beste Sitzoption. Sein Blick wanderte zu dem großen Kreuz hinter dem Altar, zu dem nach Osten ausgerichteten Buntglasfenster. Allein das Tageslicht ließ das Fenster derart erstrahlen, dass es zu glühen schien. Ein architektonischer Trick. So etwas liebte Martin. Der Rest der Kirche war eher unauffällig gehalten, doch mit allem ausgestattet, was benötigt wurde: Lesepult, Altar, Tabernakel, mehrere harte, unbequeme Sitzbänke, natürlich. Die seitlich auf der Empore platzierte Orgel – fernab der akustisch idealen Mitte – erwies sich als klangliches Desaster. So viel zum Thema Loblieder an den Herrn. Aber Martin war längst nicht mehr gläubig. Früher ja, aber die Zeiten waren vorbei.
Er saß ganz am Rand in der dritten Reihe, zusammen mit den Nicht-Blutsverwandten, den Freunden, den Angeheirateten. Er selbst hatte sich dahin gesetzt, weil er sich nicht wohl gefühlt hätte neben seiner Ex-Frau, die mit ihrem neuen Partner zusammen saß, René. René mit Apostroph. So einer war das, einer, der sich sehr wichtig nahm. Martin starrte Renés Hinterkopf an, da war dichter Haarwuchs zu sehen. Automatisch fuhr er sich mit der Hand über den eigenen Hinterkopf, strich über das schütterer werdende Haar. Nein, Martin hatte keine kahlen Stellen, aber besonders dicht war das ergraute Haar nicht mehr, war bei Martin nie so dicht gewesen, wie jetzt bei René. René aus der Großstadt, René, der noch ordentlich anpacken konnte, der noch richtig Energie hatte. René, der lange Zeit Phantomfigur in Martins Leben gewesen war, dann Schreckgestalt und jetzt eben Sündenbock. Martin merkte, dass er das kleine Gesangsbuch fest umklammert hielt. Die Knöchel seiner alten Hände standen weiß hervor, die Haut war mittlerweile dünn geworden. Wie winzige Tupfer in Sepia, zeichneten sich Altersflecken auf den Handrücken ab. Wann war er so alt geworden?
Er legte das Gesangsbuch auf die Ablage, fuhr sich mit den Handflächen über die Oberschenkel, massierte die Knie. Die schmerzten ihm seit einiger Zeit. Vorne in der ersten Reihe saß sein Sohn Noah, der heute mit dreizehn Jahren seine Taufe feierte. Selbstbestimmt, so hatten er und Nella sich das damals für ihre Söhne gewünscht, und wie schön war es, dass Noah zum Glauben gefunden hatte, ohne viel Zutun. Bei Julius würde das sicher nicht so einfach werden, aber der hatte noch ein paar Jahre um da hineinzuwachsen.
Noah fing an, ein wenig zu zappeln, sein Blick ging suchend nach rechts zu Nella und dann nach links zu Nellas Schwester, die seine Taufpatin werden sollte. Beide mit diesen ausladenden Hochsteckfrisuren, sie nickten und lächelten ihm zu. Fast gleichzeitig standen sie auf, die zwei Hochsteckfrisuren, Noah und natürlich René, und bewegten sich in Richtung Altar.
Selbstverständlich hatte René eine Fürbitte vorbereitet. Er nutzte jede Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Martin rollte übertrieben mit den Augen, ihn sah ja eh gerade keiner an.
Nella und ihre Schwester lasen als Erstes ihre Nullachtfünfzehn-Fürbitten vor, die Nella eine Stunde vorher schnell aus dem Internet herausgesucht hatte. Das wusste Martin, weil sie es ihm gesagt hatte, weil sie ihn gefragt hatte, ob er auch eine solche Fürbitten vorlesen wolle. Als ob.
Als nächstes kam Noah dran. Er bewegte sich schlaksig aber mit geradem Rücken zum Mikrophon.
Es war Martins Verantwortung gewesen, für Noah den Anzug zu besorgen. Wochen vorher hatte Nella ihn dazu verpflichtet. »Ich kümmere mich um alles andere«, hatte sie gesagt, »bitte, kauf du den Anzug und passende Schuhe.« Er hatte sich über die Aufgabe gefreut. Es sollte doch ein Leichtes sein, für den Jungen einen Anzug zu finden, einmal kurz in die Stadt fahren, zu C&A, einen klassischen Anzug raussuchen, fertig. Er würde dafür sorgen, dass Noah ordentlich aussah, erwachsen. Alle würden Noah Komplimente machen und Martin? Zack, wieder »Vater des Jahres«! So schön war das in seiner Vorstellung gewesen, so simpel.
Leider hatte er sich erst drei Tage vor der Taufe wieder daran erinnert. Nella hatte ihn danach gefragt, mit diesem wissenden Unterton, und als er nicht gleich reagiert hatte, kam das übliche »Kann man sich nicht einmal auf dich verlassen Martin?« Es hatte ewig gedauert, Nella davon zu überzeugen, dass er den Anzug längst besorgt hatte. Noch im Gespräch hatte er sich Notizen gemacht:
- Günni fragen
- Auf Amazon schauen (gibt es da Schuhe??)
Martin rutschte wieder auf der Holzbank herum, versuchte das Gewicht gleichmäßig zu verteilen, vielleicht war das die beste Option. Doch die harte Unterlage bohrte sich in seine Sitzhöcker, in beide, also doch wieder auf eine Seite lehnen, die linke diesmal, das rechte Bein übergeschlagen.
Ein lautes Klack ging durch den Raum. Noah hatte sein Handy auf dem Lesepult abgelegt, und das Mikrofon verstärkte das Geräusch, ließ es durch den Raum schallen. Noah schien das gar nicht zu bemerken, er sah sich in der kleinen Kirche um. Martin fing einen seiner Blicke auf und musste reflexartig lächeln und ein paarmal zwinkern, weil alles plötzlich unscharf wurde. Ihm wurde es ein wenig anders, wenn er Noah so da vorne sah. Es war einer dieser Momente, das spürte Martin, einer der Großen. Ein nervöses Flattern ging durch ihn durch, doch er mochte solche Gefühle nicht, gar nicht. Noah schob sich die Haare aus der Sicht, so wie er das immer tat, und dann las er eine Fürbitte herunter, irgendwas für einsame Kinder in dieser Welt.
Wenn Martin ihn so ansah, musste er feststellen, er hatte seine Aufgabe erfüllt: Der Junge trug einen Anzug. Gut, die Anzughose war zu lang, und das war Nella natürlich aufgefallen. Vor der Kirche hatte sie sich in ihrem zitronengelben Rock umständlich vor Noah hinunter gekniet und ihm die Hose auf eine akzeptable Länge gekrempelt. Sie hatte dann ein wenig auf Noahs Schuhen herumgedrückt und die Nase gerümpft. Noah hatte gelacht und etwas gesagt wie: »Eingeschmolzene alte Autoreifen.« Dafür hatte Martin einen bösen Blick von Nella kassiert. Doch Noah hatte überhaupt nicht verärgert ausgesehen, er schien sich pudelwohl zu fühlen. Er hatte grinsend die Fingerspitzen einer Hand zusammengenommen, die Hand locker vor und zurück pulsieren lassen und versucht, mit italienischem Dialekt zu sprechen: »Ike bin Mafiosi, capisci?« Martin hatte ihn lachend - allem Widerstand zum Trotz - in seine Arme gezogen und ihm einen Kuss auf den Kopf gedrückt. Die Erinnerung ließ ihn lächeln.
Ein lautes Rascheln holte ihn zurück in die Gegenwart. René hatte mehrere Seiten Papier auf dem Lesepult abgelegt. Dann wurde es ruhig in der Kirche. René starrte wortlos an die Decke. Martin meinte zu sehen, dass sich seine Lippen bewegten, als würde er tatsächlich noch ein Wort mit dem Allmächtigen wechseln. Da schlug René die Augen nieder, machte eine weitere dramatische Pause und begann endlich zu lesen. Martin verdrehte die Augen und wandte sich ab, betrachtete die Wand zu seiner Linken. Vielleicht konnte er Bilder in der groben Struktur des Putzes erkennen? Er kniff ein wenig die Augen zusammen und wirklich, da schien sich ein Bild aufzutun, zwei spitz zulaufende Hörner auf einem kleinen Kopf, auf einem großen Körper, Stierkampf. Er schloss die Augen, öffnete sie und wiederholte die Prozedur, nun sah er andere Punkte, die sich verbanden, zu einem Ding wurden, das spitz zulief, ein Berg, ein großer Berg, der oben etwas ausspuckte, Vulkan.
Renés Worte sickerten zu Martin durch, brannten sich in sein Hirn wie glühende Lava, jedes Mal, wenn er hörte, wie René den Namen seines Sohnes aussprach. Martin sah wieder zum Altar. René hatte den Zeigefinger erhoben, als er ablas: „Der Herr aber ist treu; der wird euch stärken und euch bewahren vor dem Bösen. So heißt es in der Bibel und das wünsche ich dir, mein lieber Noah ...“
Etwas pulsierte in Martins Kopf, brannte im Hals, in der Brust, im Bauch. Er sollte da vorne stehen, er, Martin, er war Noahs Vater und nicht dieser Gottgesandte für Arme. Martin fuhr sich fest mit der Hand übers Gesicht, von der Stirn bis hinunter zum Mund, da ließ er die Hand, damit nicht aus Versehen etwas aus ihm herausbrach. Er schloss die Augen, zog einmal tief Luft durch die Nase ein, ließ sie durch die Nase wieder heraus. Das wiederholte er ein paarmal.
Martin hatte eigentlich zum Anlass der Taufe in der Kirche singen wollen. Er hatte in seiner Jugend im Knabenchor gesungen, später im Männerchor, daran erinnerte er sich gerne zurück. Sie waren damals viel gereist mit dem Chor, einmal sogar bis nach Moskau. Manchmal überkam es ihn auch heute noch und er trällerte im Tenor durchs Haus. Ihm wäre nie in den Sinn gekommen, dass seine Jungs von seinem Gesang alles andere als begeistert waren, doch Nella hatte es ihm deutlich gesagt: »Bitte, sing nicht in der Kirche. Versuch mal einen Tag, die Jungs nicht damit zu quälen.« Treffer. Und versenkt. Das hatte gesessen.
Er rutschte wieder auf der Sitzbank herum, fand einfach keine bequeme Sitzposition und stütze sich auf den Beinen ab, lehnte sich nach vorne. René hielt immer noch seinen Monolog über den Glauben als Wegbereiter, langsam wurde es anstrengend.
Martins sah zu Noah, dessen Gesichtsausdruck wirkte verzweifelt, die Augen waren seltsam weit aufgerissen, die Brauen hochgezogen, aber auch amüsiert, mit nach oben gezogenen Mundwinkeln. Martin meinte eine Dringlichkeit zu sehen, ohne das er sie hätte zuordnen können. Was war ...? Da erkannte Martin: Noah versuchte, nicht zu Julius zu schauen, der mit bebenden Schultern, lautlos lachte. Selbst Nella hatte die Lippen ungewöhnlich zusammengepresst und schien ein Lachen zu unterdrücken, während René zum wieder nächsten Punkt seiner nicht-enden-wollenden Ansprache kam.
Ach. So was.
Ein wohlig-weiches Gefühl breitete sich in Martins Bauch aus, strahlte in den Rest seines Körpers, bis zur Scheitelspitze, die angenehm kribbelte.
Sollte René nur lesen, sollte er nur weiter lesen. Mit einem leisen Seufzer ließ sich Martin zurücksinken, die Holzbank bot seinem Rücken eine willkommene Stütze. Endlich eine Position, in der er bequem sitzen konnte.