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Paternoster
Paternoster
© Daniel Krieg
Jeden Tag fahre ich diesen Paternoster im Süddeutschen Verlag morgens hinauf und abends herunter. Nur zur Erinnerung: ein Paternoster ist ein Fördermittel, eine Art Lift. Das Ding besteht aus einer endlosen Kette, die von zwei Umlenkrädern - eines im Dach, eines im Keller - angetrieben wird. In die Kette sind offene Tragkabinen eingehängt, eine unter der anderen. So daß man bloß in eines der gemächlich rauf- oder runterfahrenden Kabäuschen springen muß. Und schon geht's dahin. Mehr oder weniger zügig.
Gibt nicht mehr viel von der Sorte in Deutschland. Ungeeignet für Rollstühle, denk' ich mir. Obwohl man den Rollstuhlfahrern auch hin und wieder eine Herausforderung gönnen sollte. Irgendwo haben ein paar Irre sogar einen Verein zur Erhaltung der letzten überlebenden Paternoster gegründet. Schon ein seltsames Land, in dem wir da leben.
In den Kabinen sind Zettel mit Vorschriften für einen zweckmäßigen Gebrauch von "Personen-Umlaufzügen" aufgehängt. Man hat jede Menge Zeit, die Vorschriften zu studieren. Weil so eine Paternoster-Kabine ziemlich lange braucht, bis sie im vierten Stock oben ist. Oder vom vierten Stock wieder drunten im Erdgeschoß. Und weil ich den Paternoster vier Tage die Woche mindestens zweimal benutzte, morgens und abends. Das gelegentliche Wechseln in das Café an der Ecke nicht eingeschlossen.
Im Erdgeschoß steht immer, ganz gleich, um welche absurde Zeit oder in welcher abartigen Richtung man den Paternoster benutzt, eine Sekretärin der Wissenschaftsredaktion und raucht. Wohlverstanden: steht da in ihrem ziemlich blöden Kostüm samt ihrer ziemlich blöden Figur darin. Und ihren gefärbten Haaren. Die grosso modo aussehen, als erprobte sie eben ein besonders flatulenz-resistentes Rezept ihres protestantischen Ressortchefs. Und raucht. Letztlich auf unser aller Kosten, wenn ich nicht irre. Aber das ist eine andere Geschichte (und soll ein andermal erzählt werden).
Maximal zwei Personen ist es gestattet, eine Kabine gemeinsam zu benutzen. Sagt zumindest Paragraph Zwei der "Vorschriften über Personen-Umlaufzüge". Was das konkret bedeutet, muß man selbst erlebt haben. An einem heißen Tag. Wenn dem unsensiblen Mitfahrer das Deo ausgegangen ist.
Also: Ich passiere gerade Stockwerk Eins, als eine junge Frau zusteigt. Sie trägt einen Kübel roter und einen schwarzer Farbe mit einem Pinsel sowie eine verschmierte Schablone. Eine qualmende Gitane hängt ihr im Mundwinkel.
"Morgen", sagt sie. Bis halb zwölf sagt man "Morgen" in unserem Laden. Danach sagt man "Mahlzeit". Und abends sagt man, wenn man ehrlich ist, "Scheißtag, heute". Was in der Richtung jedenfalls. Jetzt ist es halb elf. Also sage ich "Morgen" und drück' mich an die Blechwand.
Das Mädel ist um die Zwanzig. Blonde Wuschellocken. Und trägt eine blaue Latzhose. Sie klatscht ihre Papptafel direkt neben die gerahmten Vorschriften. Und fängt an zu pinseln, was das Zeug hält. Die Farbe riecht schauerlich. Immerhin sind wir fast schon im dritten Stock.
Hinter der Schablone kommt ein Piktogramm zum Vorschein. Ein durchgestrichener, roter Kreis, hinter dem eine schwarze Zigarette lustig vor sich hinraucht. Na wundervoll, denk' ich bei mir. Da sind die Verwaltungstypen glatt auf eine Anweisung gestoßen, die durch die "Vorschriften über Personen-Umlaufzüge" noch nicht abgedeckt ist.
"Ist ein komischer Name, nicht?" sagt die Frau und springt aus der Kabine in den vierten Stock. Ich hinterher. Mein Büro liegt gleich um die Ecke. Aber was soll's. Derart unvermittelte Äußerungen kann ich einfach nicht auf sich beruhen lassen.
"Was ist ein komischer Name?" frage ich. Die nächste Kabine trudelt in Reichweite, und das Mädel hopst hinein, ohne eine Antwort zu geben. Verstockt wie eine Zehnjährige, der man den Fernsehapparat ausgedreht hat. Also steige ich hinter ihr her und mach's mir wieder an der Blechwand gemütlich.
"So geht's nun auch nicht zu auf der Welt, Verehrteste", sage ich. "Wenn Sie nicht augenblicklich mit der Sprache herausrücken, was dieser Blödsinn mit dem Namen soll, verklag' ich Sie beim Chef wegen der Raucherei."
"Hat sich was, Klugscheißer", sagt sie pampig. "So lang ich das Verbot nicht angebracht habe, kann ich rauchen, bis die Backen dampfen."
"Ich hab jede Menge Zeit", sage ich. "Irgendwann ist Ihr Kunstwerk vollendet, und dann sind Sie fällig."
Sie zuckt die Schultern und fängt mit der Pinselei an. Ohne sich groß drum zu scheren, daß ich ihren Hintern in dieser viel zu weiten Latzjeans anglotze. Der sechste Stock liegt hinter uns. Man hört schon, wie das Umlenkrad im Dach knarzt. Ein Augenblick, der einem die Schauer über den Rücken jagt.
"Sie blicken nicht durch, Mann", sagt sie, als das gigantische Zahnrad in Sicht kommt. "Keine Ahnung, warum Sie's zum Redakteur gebracht haben, wenn ich bloß den Lehrling spielen darf. Sobald hier das Rauchen verboten ist, steig' ich aus und nehm' die nächste Kabine. Ist doch wohl klar, oder?"
Ich beiß' mir auf die Zunge, daß ich nicht gleich darauf gekommen bin. Naja, ist noch früh am Tag. Die Kabine ruckelt seitwärts über ihren höchsten Punkt und beginnt den Sinkflug.
"Also gut", sage ich. "Vergessen wir das Ganze. Hätt' mich eben nur interessiert, was für ein Namen Ihnen komisch vorkommt."
Sie betrachtet schweigend ihr eben vollendetes Werk. Durchgestrichene Zigarette, die Zweite. Es verschlägt einem schier den Atem.
"Bittel-Bettel ", füge ich probeweise hinzu.
"Nächster Durchgang", sagt das Mädchen und springt in den sechsten Stock hinaus. Sportredaktion. Ein paar Wichtigtuer lungern auf dem Flur herum und trinken Red Bull. "Morgen, Morgen". Ich bleib' ihr dicht auf den Fersen.
"Panta rhei", murmelt sie, während wir auf die Kabine warten. "Alles fließt. Heraklit von Ephesus. Vorsokratiker. 550 bis 480. Ante, versteht sich."
Was soll man darauf schon sagen. Zum Glück ist's bereits wieder an der Zeit, ein neues Kabäuschen zwecks Verschönerung zu entern. Panta rhei, in der Tat.
"Dann lesen Sie mal, was über den Vorschriften steht", sagt sie. Ein Aschetürmchen fällt von ihrer Gitane.
"Personen-Umlaufzüge", sage ich. "Irgendwelche Probleme damit?"
"Allerdings", sagt sie, während sie die Schablone ausmalt. Ich starr' auf ihren Hintern, dann wieder auf diese Vorschriften. Und grüble, wie krumm die Welt beschaffen ist. Wo sich ohne Warnung und ohne die geringste Not anscheinend Abgründe auftun, denen ich nicht gewachsen bin.
"Ich geb's auf", sage ich. Sie bläst abfällig eine Locke aus der Stirn. Knallt den Farbeimer auf den Boden. Und stemmt eine Faust in die Hüfte.
"Dann will ich Ihnen mal auf die Sprünge helfen, Herr Redakteur", sagt sie mit blitzender Brille. "Worum, würden Sie sagen, handelt es sich hier? Um einen Zug zum Umlauf nutzloser Journalisten, oder?"
"Genau", gebe ich zu.
"Folglich müßte das Ding Personenumlauf-Zug heißen", sagt sie. "Und nicht Personen-Umlaufzug."
Die subtile Pause, mit der sie die Bindestriche akustisch zum Ausdruck bringt, macht mich derart sprachlos, daß ich nur nicken kann.
"Andererseits", fährt sie unerbittlich fort, "dient dieses Förderungsmittel in allererster Linie als Aufzug für alles, was hineinstampft. Und müßte insoweit als Personenuml-Aufzug angesprochen werden."
Mir schwirrt der Kopf. Beinahe verpass' ich den Absprung im zweiten Stock.
"Einen Augenblick, bitte", sprudle ich hervor. "Es ist noch früh am Tag, und da bin ich irrtumsanfällig. Wollen Sie wirklich allen Ernstes behaupten, daß hier Personenumls befördert werden sollen?"
"Jetzt haben Sie's langsam geschnallt", sagt das Mädchen und steigt in die nächste Kabine. Ich hinterher. Was bleibt mir groß übrig.
"Das Ganze läuft also auf folgende zwei Möglichkeiten hinaus", sagt sie. "Entweder ist das hier ein Personenumlauf-Aufzug oder ein Personen-Umlaufaufzug."
Sie kraust das Näschen, während sie versucht, die subtilen Unterschiede hörbar zu machen. Gekrauste Näschen reißen mich gewöhnlich hin. Aber nicht, wenn ich dermaßen verwirrt bin, daß ich nur nicken kann. Am liebsten würde ich jetzt bei einem Glas Weißbier unter den Kastanien sitzen. Und die ganze, vertrackte Angelegenheit in aller Seelenruhe Revue passieren lassen. Doch dieses Miststück von einem Verlagslehrling denkt nicht daran, mir eine Atempause zu gönnen.
"So weit, so gut", sagt sie. "Der Haken dabei bleibt, daß ein Umlaufen von Personen eine Tätigkeit dieser Personen ist. Ein willentlich gesteuertes Tun, begreifen Sie? Personen, denen nichts besseres einfällt, als umzulaufen. Heut lauf' ich um, denken die sich. Ist nichts dabei, denken die. Ich brauch's nur zu tun. Von wegen."
Im Erdgeschoß steht die Sekretärin der Wissenschaftsredaktion. Starrt uns mit Kuhaugen an. Und raucht. Während wir den Pforten der Hölle entgegensinken. Vorbei an diesem Schild mit dem tröstlichen "Letztes Stockwerk. Weiterfahrt ungefährlich". Dem ich noch nie über den Weg getraut habe.
"Ich verstehe kein Wort", sage ich.
"Das glaub' ich gern", sagt das Mädchen frech und pinselt. "Der Witz ist doch, daß dieser Zug oder Aufzug oder Umlaufzug die ganze Angelegenheit fest im Griff behält. Es liegt überhaupt nicht in Ihrer Macht, ob Sie umlaufen oder nicht. Umlaufen ist keine Tätigkeit wie Ihre Schreiberei. Dieser Bafög-Kommentar von gestern. Immer das gleiche Gesülze. Schauderhaft. Sie sind ein Sklave dieses Paternosters. Sie können mir nur leid tun."
Das stampfende Umlenkzahnrad befördert uns durch den Tiefpunkt des semantischen Ungetüms. Im wörtlichen wie übertragenen Sinne.
"Sie sollten zum Feuilleton gehen", sage ich lahm. "Ich glaube nicht, daß ich schon einmal etwas derart Schwachsinniges gehört habe."
"Ihr Problem", sagt sie. "Sie hätten ja nicht zu fragen brauchen."
Und steigt im Erdgeschoß aus. Wo sie die kuhäugige Sekretärin mit einem herzlichen "Morgen" begrüßt. Bis zum vierten Stock ist's eine Weile hin. Die frische Farbe riecht widerlich. Keine Ahnung, warum ich sie nicht nach ihrem Namen gefragt habe. Redakteure und Verlagsleute wollen wenig miteinander zu schaffen haben.
Eigentlich schade, denk' ich mir. Und die Jahre vergehen, ohne daß einer das geringste dagegen unternehmen kann. Während dieser Paternoster jeden lieben Tag so umläuft. Und mit den allfälligen Personen tut, was er will. Panta rhei. Wer hätte das gedacht.