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Patina
Als sie neu waren, standen sie funkelnd in einem Schuhgeschäft und zogen alle Blicke auf sich. Hätten Schuhe ein Bewusstsein, sie wären ohne Zweifel stolz gewesen. Stolz darauf, der Blickfang dieses kleinen Geschäftes zu sein, unter allen ausgewählt, auf dem kleinen Podest zu stehen, um immer wieder von Frauen fast jeden Alters betrachtet und mit einem Lächeln bedacht zu werden. Vielleicht hätten sie sich eines Tages gewundert, warum es so lange dauerte, bis jemand kam und sie mitnahm, und vermutlich hätten sie die ersten Selbstzweifel kennengelernt, aber da sie waren, was sie waren, zog all dies spurlos an ihnen vorüber. Tag und Nacht standen sie also in der Auslage, bis eines Tages ein junges Mädchen kam, sie anprobierte, nickte, lächelte, und sie mit sich nahm.
In den ersten Wochen trug das Mädchen die Schuhe jeden Tag. Sie war stolz, wenn sie darauf angesprochen wurde und liebte die bewundernden Blicke, die ihr auf Schritt und Tritt folgten. Die roten Schuhe wurden für sie zu einem Symbol des Lebens, zur Markierung eines Wendepunktes, eines Neuanfangs. Zufällig hatte sie wenige Tage zuvor einen Mann kennengelernt, dessen Aufmerksamkeit sie gerne erregen wollte, und als sie ihn nun wiedertraf, sprach er sie auf ihre außergewöhnliche Fußbekleidung an.
Es war ein Zeichen, oder zumindest wertete sie es so, und so erzählte sie ihm, wann und wo sie die Schuhe gefunden hatte und fand sich unversehens bei einem Kaffee mitten in einem angeregten Gespräch wieder. Er hieß Paul, was sie für ihre Generation ungewöhnlich fand, er wiederum hörte Sina zum ersten Mal. Aus einem Kaffee wurde schnell eine Kollektion leerer Becher, zu der sich zwei Teller und einige Gläser Wein gesellten. Als sie gingen, waren sie die letzten im Lokal, und der Wirt sperrte hinter ihnen die Tür ab.
Ihr erschien es zu früh für eine gemeinsame Nacht, sie wollte nichts überstürzen; und so gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und einen Termin für ein zweites Treffen mit auf den Weg und hüpfte beschwingt davon.
Auch ihr nächstes Treffen verlief harmonisch, angeregt; aufgeladen von einer Energie, die sie lange nicht mehr gespürt hatte. Stundenlang redeten sie, saßen erneut im gleichen Café und mochten auch weit nach Mitternacht nicht nach Hause gehen. Paul schlug einen Spaziergang vor, und schon zogen sie los, näherten sich dem Stadtrand, wo Sina die Arme ausbreitete, die Augen schloss und tief durchatmete.
„So fühlt sich Glück an“, sagte sie leise und voller Zufriedenheit in der Stimme. Paul strich ihr eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht und küsste sie.
Hand in Hand gingen sie weiter, umrundeten Pfützen, die vom letzten Regen zurückgeblieben waren, versuchten, zwischen fliegenden Wolkenfetzen einzelne Sternbilder auszumachen und lauschten den Grillen, die zu Hunderten im Verborgenen zirpten. Als sie weitergingen, kam eine neues Geräusch hinzu, das ferne Rauschen der Autobahn.
„Schließ deine Augen“, flüsterte Paul und stellte sich hinter sie, die Arme um sie gelegt. Sina folgte seiner Bitte.
„Stell dir vor, es wäre das Rauschen des Meeres.“
Nach und nach tauchten die Bilder vor ihrem inneren Auge auf und manifestierten sich mit jedem Atenzug. Die Brandung des Meeres rollte rhythmisch an den Strand, der Wind brachte den Strandhafer zum Singen, und sogar das Flirren des fortgetriebenen Sandes konnte sie vernehmen. Dann hörte sie den Schrei einer Möwe, und mit einem glücklichen Seufzen zog sie Pauls Arme enger um sich.
„Lass uns ans Meer fahren“, bat sie, und er brummte zustimmend in ihr Haar.
Die erste gemeinsame Nacht war stürmisch und doch gekennzeichnet von vorsichtigem Herantasten. Sie küssten sich hungrig, klammerten sich aneinander, und doch dauerte es lange, bis Kleidungsstücke fielen. Als die erste Morgensonne Sinas rote Schuhe zum Leuchten brachte, glühten auch endlich ihre Körper durch die Kraft der Vereinigung.
In den folgenden Wochen sahen sie sich in jeder freien Minute. Sie philosophierten über den Sinn ihres Lebens über die Zufälle, die zwei Menschen zusammenbringen und über die Zerbrechlickeit des Glücks. Natürlich glaubten sie, ihre Liebe würde ewig halten, wie es zu Beginn immer ist, doch waren sie beide nicht naiv genug, um dies als unumstößliche Wahrheit anzusehen, vielmehr nahmen sie die gemeinsame Zeit als ein Geschenk, das zu pflegen sie einander versprochen hatten.
Im Sommer fuhren sie nach Dänemark und genossen das unbekümmerte Leben am Strand. Zwischen Baden und Sonnen lasen sie einander vor, Fröhliches, Nachdenkliches und Verwirrendes. Und während neben ihnen das Bier in der Sonne warm wurde, Kindern ihr Eis in den Sand tropfte und das ferne Pingpong eines Strandtennis spielenden Paares zu ihnen herüber wehte, setzten Sinas Schuhe eine erste Patina aus Staub an.
Der Herbst kam, und mit ihm die ersten Stürme. Paul und Sina sahen einander seltener, zu viel hatte jeder zu tun, zu viele Freunde hatten sich vernachlässigt gefühlt. Nun kamen auch diese wieder zu ihrem Recht, und mehr als einmal kam es vor, dass Paul Sina absagte, um mit Freunden im Pub zu sitzen, dass Sina zuhause blieb, um sich diversen Hobbies zu widmen. Und doch genossen sie nach wie vor die Zeit, die sie miteinander hatten, freuten sich aneinander und nutzten jeden Augenblick. Noch immer lasen sie einander vor und diskutierten stundenlang den Gehalt der gehörten Worte, noch immer kam es vor, dass sie auf dem Balkon standen und nach Sternen suchten, die sie einst gemeinsam entdeckt hatten.
Unmerklich hatte das Leuchten von Sinas Schuhen abgenommen, wurde überstrahlt von den Farben des Herbstlaubes, welches immer schneller zu Boden fiel. Aber noch immer waren sie etwas Besonderes, ein Blickfang durch Farbe und Form. Als alle Blätter von den Bäumen gefallen waren, die Tage kurz und die Nächte kalt wurden, rückten Paul und Sina wieder enger zusammen, suchten und fanden Geborgenheit beieinander. Die anfängliche Leichtigkeit und der Zauber der beginnenden Beziehung waren der weichen Annehmlichkeit der Beständigkeit gewichen. So manches Ritual hatte sich gefestigt, gemeinsames Kochen, Lesen und Zärtlichkeiten, die nur füreinander bestimmt und für andere undurchschaubar waren.
Der erste Schnee fiel, und als er eine weiche, weiße Decke bildete, nahm Sina Pauls Hand und zog ihn mit sich nach draußen. Lange wanderten sie durch den Schleier der fallenden Flocken, fingen sie mit ihren Zungen auf und schmeckten die reine, kalte Köstlichkeit des Winters. Paul zog Sina nah an sich heran, legte seine Wange an ihre und flüsterte „ich habe Angst.“ Doch als sie nicht verstand, gab er keine Erklärung, küsste sie nur und zog sie dann weiter mit sich fort. Nach außen hin blieb alles unverändert, doch auch in Sinas Herz nistete nun die Angst, dunkel, kalt, namenlos.
Der Winter hinterließ Schneeränder auf Sinas roten Schuhen und veränderte ihren Blick auf die Dinge. Als sie ein Jahr zusammen waren, gingen sie den Weg ihres ersten Abends, und als sie an die Stelle kamen, an der sie sich zum ersten Mal geküsst hatten, deutete Paul auf ihre Schuhe und sagte: „Sieh nur, die Gewohnheit hat sie farblos gemacht.“ Als Sina in sein Gesicht blickte, erkannte sie, dass er nicht ihre Schuhe gemeint hatte, und die namenlose Angst in ihr zog ihr Inneres zu einem harten, kalten Ball aus Eis zusammen. Sie wollte seine Worte nicht hören und schaffte es dennoch nicht, ihre Ohren zu verschließen.
Zuhause angekommen zog sie ihre Schuhe aus und stellte sie zuunterst in den Schrank. Vielleicht würde sie eines Tages aus ihrer Patina die schönen Momente des vergangenen Jahres herauslesen können, doch für den Augenblick blieben ihr nur Trauer und Schmerz.
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03.03.-10.03.2006