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Paule
Unter der breiten steinernen Brücke ist kein Platz mehr für ihn. Selbst wenn er noch länger dasteht. Sein Mantel am Rücken wird immer nasser. Kein Platz, keinen Schlafstätte. So einfach ist das.
Der Regen prasselt nicht mehr. Er peitscht. Sucht wehrlose Opfer, um sie zu durchnässen. Hier länger zu stehen, denkt Paule, ist nicht von Nutzen. Noch ist ihm warm. Kein Wunder, er hat am Bahnhof eine Flasche Rotwein geschenkt bekommen. Von einem Typ, den er nicht weiter kennt. Der auf Durchreise und gerade bei Kasse war. Hat ein dickes, fettes Portemonnaie gefunden. Paule war es egal, woher das Geld stammt. Er hat längst sämtlichen Bezug dazu verloren.
Noch immer steht Paule unter der alten Brücke. Steht fassungslos vor einem Berg Müll, den jemand dort abgeladen hat. Welt und Menschen versteht er schon lange nicht mehr. Da ist ihm Rotwein lieber. Auch wenn er jetzt schon so benebelt ist, dass er nicht schnell denken kann. Paule ist darin ohnehin nicht mehr der Schnellste. Seit er beschlossen hat, sein Leben von Grund auf zu ändern.
Der Regen verwandelt sich in einen Wolkenbruch. Es wird ungemütlich. Paule geht zum nächstliegenden Kaufhaus. Stellt sich im Eingangsbereich unter. Will nachdenken. Ziellos umherlaufen bringt nichts. Und laufen und nachdenken gleichzeitig ist Paule in seinem derzeitigen Zustand nicht möglich.
Der Eingangsbereich ist fast komplett belegt. Drei ältere Männer liegen dösend auf ausgebreiteten Zeitungen, deren Ränder sich bereits wellen. Straßenseitig liegt der Größte von den dreien. Er wirkt wie eine Schutzmauer zu den beiden anderen. Als zusätzlichen Schutz ist er mit einer größeren Pappe zugedeckt. Mit ihr hebt und senkt sich ein abgedrucktes helles Pressspan-Regal, das sämtlichen Einzelteile vermutlich längst im Trockenen hat.
Die trockene kleine Ecke im hinteren rechten Bereich genügt Paule, um sich niederzuknien. Er spürt die Nässe seines durch-geweichten Mantels immer heftiger und beginnt zu frösteln. Das lässt ihn klarer denken. Wenn ihm jetzt eine Stelle zum Schlafen einfiele, wäre er wunschlos glücklich.
Paule könnte drei Ecken weiter gehen. Er bräuchte nur an einem zweistöckigen blauen, vornehm wirkenden Haus zu klingeln und es würde ihm geöffnet werden. Eine seiner Tochter wohnt dort. Seine Lieblingstochter. Die ihn vor Jahren nicht verurteilt hat, als er alles aufgab. Die ihn gehen ließ und trotzdem vorhatte, den Kontakt mit dem Vater aufrecht zu halten.
Es ist nicht ihre Schuld gewesen, dass sie sich nicht mehr sehen. Er selber hat es so gewollt. Obwohl er weiß, dass er mittlerweile Großvater geworden ist. Corinna schiebt seit einiger Zeit einen sonnenblumenfarbenen Kinderwagen durch die Gegend. Sie sieht zufrieden aus. Glücklich. Paule gäbe einiges, sofern er überhaupt etwas geben könnte, um selbst solche Zufriedenheit zu spüren. Mit nagender Unzufriedenheit ist er aus seinem immer gleich bleibenden Lebenstrott ausgeschert. Hat alles hinter sich gelassen, das nach Abhängigkeit oder Materiellem roch: auslaugende Karriere, Geld schluckendes Designer-Haus, teuer versicherte Münzsammlung, habgierige Kinder (bis auf Corinna) und eine extrem ehrgeizige und ständig nimmersatte Frau.
Paule weiß, Corinna würde ihm, wenn er käme, keine Fragen stellen. Es wäre nicht ihre Art. Paule unterscheidet die Menschen in Redende und Handelnde. Corinna ist von handelnder Natur. Die Entscheidung, sich mit ihr nicht mehr zu treffen, ist ihm schwerer gefallen als das Fortgehen von seiner Frau. Inge, die Redende. Bei ihrer letzten Auseinandersetzung ging es um rechtliche Dinge. Er hat keine Diskussion darüber haben wollen, warum er den gewohnten Lebensstil aufgab. Frau und Kinder wollte er allerdings abgesichert wissen.
Inge konnte und wollte ihn jedoch damals nicht verstehen. Sie fragte. Fragte. Und fragte. Fing dann mit Selbstvorwürfen an. Fuhr fort mit Verbesserungsvorschlägen. Und endete stets mit sich schrill überschlagender Stimme in hysterischer Gottesanbetung. Hoffte, er bliebe. Hoffte, nichts den Freundinnen und der Nachbarschaft sagen zu müssen. Wenn Paule darüber nachdenkt, hat er sie nur geliebt, wenn sie schwieg. Die restliche Zeit fühlte er sich, als sei er auf einem Abstellgleis. Auf die nächste Inge-Sendepause wartend. Das Schlimme war, dass die wenigen Inge-Monologe die kostbaren stillen Momente auffraßen.
Paule starrt noch eine Weile in den starke Regen. Die klare Luft und die Gedanken an Inge haben ihn ernüchtert. Plötzlich fällt ihm ein, wo er vielleicht einen Schlafplatz finden könnte. Er starrt gebannt zum Himmel, stellt fest, dass der Regen nachlässt. Nimmt es als ein gutes Zeichen. Ächzend steht er auf, verflucht zähneknirschend sein Rheuma, und schlurft mit gekrümmtem Rücken seinem möglichen Schlafplatz entgegen.