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Perfide Freiheit

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24.10.2025
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Perfide Freiheit

Das Erste, was auf einer stationären Entgiftungsstation passiert, ist, dass sie deine Taschen umkrempeln, dein Zeug durchsuchen und dir alles abnehmen, womit du dir theoretisch etwas antun könntest – Ladegerät, Gürtel, Schnürsenkel.

„Reine Vorsichtsmaßnahme“, sagen sie.
Sie wissen, was auf dich zukommt.

Ich rede nicht vom Zittern, Schwitzen, der peinigenden Unruhe oder der ständigen Übelkeit.
Ich rede von Zeit.
So viel Zeit.

Zeit, darüber nachzudenken, was im Leben alles schiefgelaufen sein muss, um an einem Ort wie diesem zu landen.

Ein Ort, der nach billigem Desinfektionsmittel und abgestandenem Kaffee riecht.
Wie ein Knast. Nur schlimmer.
Dieselbe Sorte Menschen – nur abgefuckter, ausgehungerter, aufgepeitschter.

Therapien, Gruppensitzungen, Einzelgespräche – ein paar Minuten am Tag.
Dazwischen: warten.

Der Internetempfang ist miserabel.
Der Fernseher im Gemeinschaftsraum läuft nur abends, und dann kommt nur Schrott.
Man spielt langweilige Brettspiele, redet aus Höflichkeit, nicht aus Interesse.

Ausgang gibt es keinen.
Ich halte mich gerade so über Wasser, indem ich jede Stunde eine rauche.

Mein Mitbewohner Roland liegt den ganzen Tag wimmernd im Bett – ausgeknockt von Doxepin.
Wenn er anfängt, von seiner Ex, der hässlichen Frau oder den verzogenen Kindern zu erzählen, blocke ich ab.
Ein-Wort-Antworten. Kein Mitgefühl.

Mein eigener Schmerz sitzt zu tief.
Ich kann und will ihn nicht aussprechen.

In den Gruppensitzungen reiht sich eine traurige Geschichte an die nächste.
Alle unterschiedlich – und doch gleich.
Immer ist jemand anderes schuld: die Ex, der Vater, der Stress, Gott.
Nie jemand selbst.

Ich weiß, dass ich auch dazu gehöre.
Aber diesen Gedanken drücke ich weg.
So wie alles andere.

Ich will hier raus.
Ich will nicht reflektieren, mich öffnen oder bessern.
Entschlüsse fassen, die ich draußen sowieso nie einhalten würde.

Also fliehe ich.

Es ist dunkel, die Pfleger machen Übergabe.
Ich stehe draußen auf der Terrasse, tue so, als würde ich mir eine Kippe anstecken.
Schaue mich um – niemand da.

Leise gehe ich zum Eisenzaun. Drei Meter hoch, kalt, feucht vom Regen.
Ich werfe zuerst meine Tasche rüber.
Dann klettere ich.
Das Metall schneidet in die Handflächen, quietscht, knarzt, aber ich komme hoch.

Gerade will ich mich rüberschwingen, da ruft jemand hinter mir:
„Hey! Was machst du da?“

Shit.
Beeil dich, verdammt.

Schritte. Stimmen. Lichtkegel flackern auf.
Keine Zeit mehr.

Ich lasse los.
Springe.

Der Aufprall reißt mir die Luft aus der Lunge.
Für einen Moment liege ich still – der Boden hart, der Himmel schwarz, mein Herz hämmert wie wild.
Dann rapple ich mich auf, greife die Tasche und renne.
So schnell und so weit, wie ich kann.

Irgendwann brennen meine Lungen.
Ich bleibe stehen, drehe mich um – keiner da.
Gut so.

Langsam gehe ich weiter, versuche mich zu orientieren.
Mein Herz rast, der Wind schmeckt nach Regen und Rauch.
Und nach einer Weile finde ich den Weg – hinein in die Stadt.

In der Luft liegt Freiheit.
Diese perfide Freiheit, mich wieder selbst hinzurichten.

 

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