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- 03.07.2004
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Petra und Nikolaus
Der erste Wintereinbruch war Vergangenheit, Dauerregen und dichter Nebel begleiteten die Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit. In der überfüllten und überheizten U-Bahn strömten Dampfschwaden aus den nassen Mänteln der dichtgedrängten Pendlermasse.
Ein lautes "Ho, ho, ho" durchbrach das Rascheln der Zeitungen und Hüsteln der wenigen Sitzplatzbesitzer. Alle Köpfe drehten sich erstaunt zu der Geräuschquelle - aber dort stand kein übernächtigter Zecher und auch kein studentischer Hilfsweihnachtsmann. Alleine schon der dichte und lange weiße Bart erschien ebenso echt wie die weißen Haare und in dem von Runzeln und Falten übersätem Gesicht schauten zwei tiefblaue Augen fröhlich über die stumpfsinnig vor sich hin dunstende Menge.
Da der Nikolaus nichts weiter sagte, wandten sich die Erwachsenen wieder ihrer morgendlichen Beschäftigung zu und dösten vor sich hin oder bildeten sich im großen Boulevardblatt fort. Ein kleines Mädchen in einem schweren Anorak, aus dessen Kapuze zwei dicke braune Zöpfe lugten, drängelte sich zu dem Nikolaus durch, schaute nach oben und fragte: "Bist du wirklich der Nikolaus?"
"Ho, ho, ho, heute ist doch der sechste Dezember?"
"Ja, heute ist Nikolaustag".
"Dann bin ich auch der Nikolaus", sagte der alte Mann, griff in seine rechte Manteltasche und gab dem Mädchen ein in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen: "Und ich habe für dich ein Nikolausgeschenk".
"Danke, vielen Dank", flüsterte das Mädchen. Es machte sogar einen Knicks und verschwand dann ganz schnell zu seiner Mutter. Beide stiegen an der nächsten Haltestelle aus. Das Mädchen war noch mit seinem Paket beschäftigt. Dann hatte sie den Deckel geöffnet und bevor sich die Türen schlossen, konnten die Fahrgäste noch ihr freudiges Erstaunen über den Inhalt hören und sehen.
Petra, Erzieherin in einer Kindertagesstätte, stand neben dem Nikolaus und hatte diese kleine Begebenheit hautnah miterlebt. Sie liebte den Nikolaustag gar nicht. Er bedeutete für sie doppelten Stress und eine extra Aspirin am Abend und so registrierte sie erstaunt, dass ihr vorsorglicher morgendlicher Mißmut leise entschwand.
An der nächsten Station stieg ein kleiner Junge mit seiner Mutter ein. Der Junge schaute etwa 30 Sekunden zu dem Nikolaus, dann hielt er seine Hand auf, ohne einen Ton zu sagen. Auch der Nikolaus sagte nichts und rührte sich nicht.
"Was ist los? Wo bleibt mein Geschenk?", motzte nun der Junge. Seine schrille Stimme war im ganzen Wagen zu hören und die Köpfe drehten sich wieder Richtung Nikolaus. Jetzt schien es doch interessant zu werden.
Der Nikolaus schaute den Jungen ruhig an und meinte dann: "Meine Geschenke sind für andere Menschen. Du hast doch bestimmt schon heute morgen einen vollen Stiefel gehabt."
"Na und?"
Jetzt mischte sich auch die Mutter ein: "Machen Sie doch keinen Terz und geben sie dem Kind sein Geschenk".
In diesem Moment hielt die U-Bahn an der nächsten Station. "Ho, ho, ho", rief der Nikolaus, griff in seine linke Manteltasche, gab dem Jungen ein recht großes Päckchen und verließ mit einem weiteren fröhlichen "Ho, ho ho" den Wagen.
Auch Petra musste aussteigen und zu ihrer Kindertagesstätte gehen.
"Warum haben Sie ihm denn ein Päckchen gegeben. Jetzt bekommt ein anderes Kind kein Geschenk."
"Ho, ho, ho", lachte der Nikolaus. "Ich habe für jeden eine Gabe."
Petra schaute ihn nur erstaunt an und bemerkte, dass er sie ernst ansah, aber seine Augen schienen ihr freundlich zu lächeln.
"Glauben Sie an den Nikolaus?"
Petra kam sich vor wie ein kleines Mädchen. „Doch, schon, ja“, piepste sie.
„Der kleine Ronald in der U-Bahn glaubte nicht an den Nikolaus. Ich denke, ihm wird sein Päckchen gar nicht gefallen."
Nikolaus griff in seine rechte Manteltasche, holte ein kleines, in Goldpapier eingewickeltes Päckchen hervor und gab es Petra. Noch bevor sie danke sagen konnte, war er verschwunden. Unschlüssig drehte Petra das Geschenk in ihren Händen. Sollte sie es öffnen? Glaubte sie genug an den Nikolaus? Sie ließ das Päckchen lieber in ihrer Handtasche verschwinden und eilte zu ihrer Arbeitsstelle.
Als Petra am Abend nach Hause kam, merkte sie erstaunt, dass sie nicht eine Kopfschmerztablette eingeworfen hatte und gar nicht abgespannt war, sondern erfüllt von einer erwartungsvollen Freudigkeit, die sie schon lange nicht mehr erfahren hatte. Sie öffente ihre Tasche und schaute lange auf das goldene Geschenk. Sollte sie es überhaupt auspacken oder lieber aufbewahren, wie manche andere Gaben, die jetzt in einer Schublade vor sich hinmoderten.
„Verkriech dich nicht immer,“ ermahnte sie sich selber und riß entschlossen das Päckchen auf.
„Einladung zu einem festlichen Abendessen zu zweit am 6.12. um 20.00 Uhr. Lassen Sie sich überraschen.“
„Ich habe mich schon lage nicht mehr überrraschen lassen“, wurde Petra klar und wie ein warmes Gefühl breitete sich in ihr die Gewissheit aus, dass dieses Nikolausgeschenk ihr Leben umkrempeln würde.