- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Pflaster
Pflaster
Du nennst meine Mutter „Oma“, obwohl sie keine Enkel hat, nur weil sie in dem Alter ist, in dem alle Frauen Enkel haben sollten. Das sei normal so, sagst du, doch ich hasse es. Ich hasse es, wenn man Mutter „Oma“ nennt, und ich würde es auch hassen, wenn sie Enkel hätte. Dann fragst du mich, ob ich schwanger sei, und ich muss nicken, obwohl ich nicht nicken will, denn ich hasse es, Oma sagen zu müssen, doch das verstehst du nicht.
Als ich Mutter im Krankenhaus besuchte, redete sie das erste Mal vom Sterben. Das war eine Zäsur in ihrem Leben. Die Oma, die enkellose Oma... ich wollte ihr nicht von meiner Schwangerschaft erzählen. Schon gar nicht heute, schon gar nicht in diesem Zimmer, mit den weißen Tapeten und den flackernden, vergitterten Lampen. Ich saß auf dem Hocker neben dem Bett, mein Daumen rieb sich an dem gezackten Rad des Feuerzugs wund, denn das Benzin reichte nicht mehr bis zum Plastikschlauch hinauf. Deswegen schüttelte ich es hin und her, drehte es auf den Kopf, kippte den Inhalt des einen Teiltanks auf die andere Seite, bis mir eine der Schwestern sagte, hier dürfe man nicht rauchen, bis mir Mutter sagte, sie habe Angst vorm Sterben, bis ich dachte, ich bräuchte ein neues Feuerzeug, neue Kippen, einen neuen BH. Frische Luft. Hoffentlich würden meine Brüste auch größer werden., wenigstens das, wenigstens etwas. Und dieses Wort: Dieses Sterben. Nie wieder in meiner Gegenwart bitte. Außerdem: Ein neues Feuerzeug. Einen neuen BH.
Als ich drei Wochen zuvor von der Schwangerschaft erfuhr, rannte ich aufs Klo und musste kotzen. Kein körniges Kotzen, eher wässriges Kotzen, denn ich hatte nichts davor gegessen, und das Wort Abtreibung in einem Zug mit „Zu spät“, das stellte alle Organe in mir auf den Kopf.
Ich zündete fünf Zigaretten an und drückte alle in einer Teetasse aus. Dann rieb ich mir das Gesicht und seufzte und wiederholte „Mutter“ in meinem Kopf, die ich eigentlich nur aussprechen, aber nie sein wollte. „Mutter“ das klingt so alt. Das klingt nach: Falten, nach Augenringen, nach Schwangerschaftsstreifen... ein Bauchnabel, der sich nach außen wölbt, nach Hautfalten, nach: „Wer ist denn der Vater?“ und „Wohnt ihr zusammen?“
Mein Finger auf dem Rädchen, mein Gesicht hinter einer hohlen Hand verborgen, eine Pause in der ich nicht sprechen musste.
Es gibt keinen Vater, dachte ich. Es gibt nur einen Freund. Ich küsse ihn nicht mal. Weder auf den Mund, noch sonst wohin. Eigentlich ist er gar kein Freund. Vielleicht war er mal einer, aber jetzt nicht mehr. Wichtig ist das Kind und die Schwangerschaftsfalten und wie man sie wieder entfernen kann, oder zumindestens mit einem Pflaster überkleben. Oder das Kind mit einer Hutnadel erstehen. Das Unfertige. Der Auswurf. Mit einer Hutnadel in die Vagina, dachte ich mir, dann wars das mit der Mutter und Oma und Kinderzimmer.
Ein paar Takte zum Thema Mutterschaft:
In einem Holzveredelungswerk in der DDR standen die zur Strafarbeit abbeorderten Frauen draußen an den Zäunen, mit dem Rücken zum Zaun, und pfiffen zwischen den Fingern. Sie standen gebückt, den Po nach draußen, die Hose runter, die Schamlippen, wie ein Zelt über die Maschen gestülpt, die Zähne zusammengebissen, vielleicht einen Ast zwischen den Zähnen, etwas Hartes zum beißen, zum Aushalten, zum Ausstehen der Schmerzen. Die Zigarette davor, danach und währenddessen, um einen Vergleich zu bringen. Die Festangestellten Arbeiter, die sie von hinten beglückten brauchten kein Gesicht und keinen Namen, nur Samen, nur ein paar Spritzer, und ein gutes Gespür, und am nächsten Morgen blieb bloß das Blut, Blutmatsch, und der Kater, und irgendwann ein neuer Zaun mit engeren Maschen, zu eng für deren Schwänze. Der Grund für das alles: Die Frauen, die Mädchen, sie wussten, dass sie im Falle einer Schwangerschaft freigelassen werden würden. Lieblose Zaunempfängnis, sozusagen, wenn man so schon getrennt wurde. Aber einen Vater? Kann man da von einem Vater sprechen?
„Erzähl mir doch von meinem Vater, meinem richtigen Vater!“
Mutters Mund war trocken, ein trockener gewellter Brotkanten.
„Vater ist nur ein Schwanz zwischen Zaunmaschen“, verschwieg sie mir, also verschwieg ich ihr.
Das erzähle ich dir jetzt, drei Wochen später. Drei Zigarettenschachteln von heute morgen, zu heute Abend. Irgendwie rauche ich ja für zwei. Für mich und die Kleine, das Kleine, der Kleine, irgendwas eben. Und er soll ja wissen, mit wem er es zu tun hat. Die Mutter, die keine genannt werden will, die Tochter, der Oma, die sich so sehr auf Enkel freuen würde.
„Du solltest sie anrufen, du solltest es ihr sagen. Wie lange willst du noch warten?“
Ich klopfe die Asche über meiner Handtasche aus, schlage die Beine übereinander und lehne meinen Wasserbauch faul gegen die Polster. Ich kann sie nicht anrufen. Mutter ist wie ein Zimmer, das nicht hell wurde, auch wenn man das Licht anmachte. Sie war schon immer so. Als Vater vor ein paar Tagen bei mir anrief, ging es so, als wollte er eine Pizza bestellen. Herr soundso will mit Frau soundso sprechen. Auch wenn er mir tausende persönliche Fragen stellte, wollte er mich nur nach ihr aushorchen, denn jeder Satz endete mit: „Übrigens, wie geht es deiner Mutter?“ „Liegt sie schon lange im Krankenhaus?“ „Fragt sie noch manchmal nach mir?“
Ja, nein, vielleicht. Ich sagte ihm, dass ich ihn hassen würde, dann schwieg er, er schwieg wie jemand, der gerade auf den Hinterkopf geschlagen wurde, der ohnmächtig wurde, dem gerade einfiel, dass er ja den Herd angelassen, oder eine Kerze unbeaufsichtigt im Wohnzimmer stehen hatte. Dem Schweigen folgte nur noch das Freizeichen, oder ein verschmitztes: „Entschuldigung, verwählt!“ Dann legte er auf und ich brüllte noch das Telefon an, von wegen schwanzloser Idiot. Der Ersatzpapa hatte uns alleine gelassen, als du kamst. Mich mit dir, mir und ihr. Tochter mit Mutter, mit Sohn... doch eigentlich ist sie eher mein Kind und nicht umgekehrt. Ein Gedanke, der so stark ist, dass er mich zum heulen bringt, doch du sagst, heulen macht dich nur angreifbar, dann legst du deine Hand auf meine Schulter, und ich schlage sie weg.
Mutters Zustand verschlechtert sich, von Tag zu Tag. Sie sagte, sie hätte ihren Mann gesehen, im Zimmer, in der Klinik, ihr Mann, ganz in weiß gekleidet, wie ein Engel, ohne Flügel, und als sie merkte, dass er es nicht wahr, dass es wohl nur das Flimmern einer Lampe war, fing sie an zu schreien, um sich zu schlagen... Fünf Schwestern waren nötig, um sie zu beruhigen, um sie ans Bett zu fesseln. Heute hat ihr Bett Holzstreben wie ein Laufgitter. Von wegen, „Meine Mutter“ Ich gehe zu ihr, lege ihr Zigaretten auf den Tisch. „Wann kommt er wieder?“, fragt sie mich. Ich versuche auszuweichen. Sie abzulenken von den Themen: Vater, Sterben und Kind... Da bleibt nicht viel übrig, stelle ich fest, durch die Gitterstäbe, durch die Luftlücken zwischen den Stäben, von meiner Mutter, dem Rest meiner Mutter, also wechsle ich noch ihre Blumen und gehe wieder nach hause. Und setze mich vor den Fernseher, streichle über meinen Bauch und zwicke mir in die Haut. Und irgendwann später liegen gefaltete Kippen im Aschenbecher.
Wie das wohl sein wird... mit einer scharfen Nadel, was da passieren wird? Was da nicht passieren wird, was passieren kann... Als ich wieder von meiner Mutter erfahre, redet man mit mir, wie mit einem Kind, dem man nicht sagen will, dass sein Haustier gestorben ist. Aber ich bin doch kein Kind mehr! Ich könnte welche haben. Selbst der Augenkontakt fehlte ihnen, als sie redeten. Und dann die Gewissheit, dass alles zu spät sei, und ein leeres, gemachtes Bett mit einem Handtuch auf dem Kopfkissen, und das Holzgitter drumherum.
Auf die Wunde von der Nadel gehört ein Pflaster, so sieht man einem die Abtreibung nicht an, doch wohin das verdammte Pflaster kleben, frage ich mich, und wische erstmal das Blut weg.