Phryne vor dem Areopag
Phryne vor dem Areopag
Im selben Jahr, in dem Theophrastos als Archon in Athen regierte und sich die alliierten griechischen Städte auf die entscheidende Abwehrschlacht gegen den im Norden lauernden, ständig hungrigen makedonischen Löwen vorbereiteten, gefiel es dem obersten Aufseher über die öffentliche Moral in der Stadt der Eulen, Lykurgos, die bei Adel, Staatsmännern und Philosophen gleichermaßen begehrte Hetäre Phryne vor dem Areopag der Asebeia zu bezichtigen. Der für seine Sittenstrenge berüchtigte Basileus warf ihr vor, die Göttin Aphrodite gelästert zu haben, indem sie mehrmals vor Zeugen behauptet hatte, seit Menschengedenken die strahlendste Frau in Hellas zu sein. Phrynes Zurückhaltung in der Öffentlichkeit, in der sie zumeist verschleiert auftrat, die häufige Teilnahme bei den Mysterienspielen in Eleusis und die diskreten Vermittlungsversuche ihrer in Politik und Handel erfolgreichen Gönner nutzten ihr nicht, denn das Volk missgönnte der als junges Mädchen aus Thespiai zugezogenen ehemaligen Kapernpflückerin Einfluss und Reichtum. Auch ihr Ansinnen, den Thebanern eine neue Stadtmauer auf ihre Kosten errichten zu lassen, wenn diese im Gegenzug: Philipp hat sie zerstört, Phryne wieder aufgebaut, als Inschrift in die Außenwand meißelten, stellte in den Augen der Bürger eine Anmaßung dar, die ihr eher geschadet denn Vorteile gebracht hatte.
In ihrer Niedergeschlagenheit beauftragte die Krötenfarbene, wie sie von den Athener wegen ihres ins Oliv stechenden Hauttons genannt wurde, den Redner Demosthenes mit der Verteidigung. Im Falle der Verurteilung wegen Gottlosigkeit drohten der herrlichen Mätresse entweder die Verbannung oder gar der Tod.
»Ich bin verzweifelt, Demosthenes. Weiß mir keinen Ausweg. Wessen klagt man mich überhaupt an?«
»Deine Schönheit wird dir zum Verhängnis. Du beleidigst die anderen aufgrund deiner schieren Anwesenheit und erinnerst uns ständig an unsere eigene Unvollkommenheit.«
»Den Liebreiz hat mir die Schaumgeborene in die Wiege gelegt …«
»Schweig still! Mit solch törichtem Geschwätz würdest du die Geschworenen nur noch mehr gegen dich aufbringen. Überlasse mir die Erklärung deiner Taten und halte dich taktvoll im Hintergrund, wie es sich für eine ehemalige Sklavin geziemt, die morgen demütig vor den Großen Rat tritt.«
»Ich werde tun, was du mir vorschlägst, Demosthenes. Bevor ich ihnen allerdings erlaube, meinen Körper zu schänden, werde ich wie Sokrates den Giftbecher leeren.«
»Noch ist es nicht so weit, Phryne, Tochter einer Landarbeiterin aus der Provinz.«
Er zürnt mir immer noch, weil ich letztes Jahr einen zu hohen Preis für seinen Besuch gefordert habe.
In diesen für die Zukunft des freien Griechentums entscheidenden Monaten, in denen der Stratege Phokion sich händeringend darum bemühte, die Kräfte der einstmals mächtigen Stadt einzig zur Abwehr der makedonischen Gefahr zu bündeln, beschäftigten sich die Bürger Athens wochenlang mit nichts anderem als dem bevorstehenden Prozess gegen die gottlose Hetäre. Wie allen Hellenen war ihnen die Lust an Zank, Streit und Skandalen mit der Muttermilch eingeflößt worden.
***
»Auf welche Weise wirst du unsere Freundin im Angesicht der obersten Richter unserer Stadt vor den haltlosen Angriffen schützen, Demosthenes?«
»Sorge dich nicht um meine Redegewandtheit, Praxiteles. Und nun lass uns gemeinsam mit Tanz, hübschen Knaben und Wein den Abend genießen.«
Um nach dem Gastmahl, das bis in die frühen Morgenstunden gefeiert worden war, sicherzugehen, dass er am darauffolgenden Nachmittag die richtigen Sätze wählte, beschloss Demosthenes, seinen Vortrag ein weiteres Mal zu Hause einzuüben - mit einer Handvoll Kieselsteine im Mund, wie er es seit Jugend praktizierte, sodass es ihm mühelos gelang, selbst die ungewöhnlichsten Worte und schwierigsten Silben fehlerfrei auszusprechen und eindrucksvoll zu betonen. Eine Gabe, die ihm bereits zu Lebzeiten den Ruf als begnadetster Rhetor Griechenlands eingebracht hatte.
***
Die zweihundertfünfundzwanzig Mitglieder des Areopags nahmen die ihnen gestellte Aufgabe, die Schuld eines der Asebeia angeklagen Bürgers zu untersuchen, seit einigen Jahren überaus ernst. Zu lange waren die Aristokraten nach der Verfassungsreform des Ephialtes entmachtet gewesen. Erst vor kurzem hatte der Archon Demetrios dem uralten Staatsorgan wieder das Recht zugestanden, über die Pflege der heiligen Ölbäume zu wachen und den Gottesfrevel zu bestrafen. So versuchte der höchste Gerichtshof, mittels strikter Auslegung des Gesetzes das Wohlwollen des Volkes dauerhaft zu gewinnen und einer erneuten Ausschaltung vorzubeugen. Auf Phryne, die Kapernpflückerin aus Thespiai, wartete mithin ein heikles Verfahren vor strengen Ratsherren.
»Leugnest du, Mnēsaretē, die du deinem Geburtsnamen Die Tugendsame Schande bereitest, dass du dich häufig mit der Liebesgöttin verglichen; ja, dich sogar als schöner als sie bezeichnet hast?«
»Das sind Lügen ihrer Neider. Nie hat sie dergleichen in vertrautem oder gar öffentlichem Gespräch von sich behauptet. Der Basileus gibt hier bösartige Gerüchte wieder, die jeglicher Wahrheit entbehren.«
»So ist es nicht zutreffend, dass der Bíldhauer Praxiteles beim Rat der 500 beantragt hat, sämtliche Statuen der Aphrodite nach dem Abbild der Phryne zu fertigen?
»Falls das so sein sollte, wäre es ein Vorschlag des Praxiteles, dem meine Mandantin tagelang Modell saß, ohne ein Honorar dafür zu fordern. Dermaßen ehrt sie die Götter und die Gebräuche der Stadt.«
»Muss solch diabolische Ausstrahlung nicht das Ergebnis von Hexerei sein?«
Demosthenes lutschte gedankenverloren und in Vorbereitung einer überzeugenden Gegenrede an einem kleinen Kieselstein, den er unversehens verschluckte. Der große Rhetoriker brachte keinen Ton mehr hervor, seine Lippen verfärbten sich blau. Lykurg lächelte spöttisch: »Ihr seht, meine Brüder, auf den Vorwurf der Zauberei weiß mein alter Freund keine Antwort.«
Da sprang Praxiteles, dem die Szene nicht entgangen war, von seiner Bank auf, eilte nach vorne und zerrte Phryne mitten in den hellerleuchteten Saal hinein. Mit einer einzigen Bewegung riss er der angstzitternden Prostituierten den Chiton vom Leib, die nun gänzlich entblößt vor den Areopagiten stand. Schlagartig verebbte das Gemurmel der Versammlung, kein Laut war zu hören, nur vereinzelte Seufzer oder gar ein verstohlenes Aufschluchzen ließen sich vernehmen, als die Geschworenen die Makellosigkeit der Frau bewunderten.
Der Bildhauer fasste Phryne an Schulter und Becken und drehte sie langsam zweimal im Kreis. Welch eine Schönheit bot sich den Augen der Richter dar. Die Reinheit der Haut, die stattlichen, aber festen Brüste, ihre langen Beine, das straffe Gesäß, die weißen Arme, schlanken Fesseln und zierlichen Füße zogen die, das Ebenmaß anbetenden, Griechen magisch in ihren Bann.
Jetzt griff Praxiteles mit beiden Händen den Kopf der Hetäre und zeigte ihn schweigend den Herren über Leben und Tod. Ovale grüne Augen, die unter einer hohen Stirn lagen, die in fast gerader Linie in eine leicht geschwungene Nase auslief. Der große Mund mit den vollen Lippen thronte über einem kurzen, mädchenhaften Kinn. Enganliegende Ohren und braungelocktes Haar vervollständigten den Liebreiz ihrer Erscheinung. Die perfekte Symmetrie von Phrynes Antlitz wirkte beinahe – aber eben nur beinahe – langweilig.
Die zweihundertfünfundzwanzig Ratsmitglieder erhoben sich von ihren Sitzen und schritten in feierlicher Prozession zu den zwei in einem kleinen Nebenraum aufgestellten Urnen, in die sie ihre kleinen Bronzescheiben hineinwarfen. Als die Gerichtsdiener die Anzahl der Metallstücke in den beiden Vasen kontrollierten, war die Arbeit schnell getan: man zählte zweihundertvierundzwanzig Münzen bei Unschuldig und nur ein einsames Plättchen im anderen Gefäß, bei dem vermutet wurde, dass es sich um das Urteil des Basileus gehandelt habe. Wenngleich Lykurg in späteren Jahren zu seiner Rechtfertigung vorgebracht haben soll, er habe eher aus Staatsräson denn aus persönlicher Überzeugung für die Schuld der Hetäre plädiert. Auch ihm sei damals ihre göttliche Aura nicht verborgen geblieben.
Zwei Wochen darauf verloren die griechischen Poleis bei Chaironeia das letzte Gefecht gegen den gierigen Löwen aus dem Norden. Athens Demokratie starb auf dem Schlachtfeld; der makedonische Herrscher und seine tyrannischen Statthalter übernahmen nun die Macht in Hellas. Die Zeit, als man in Attika, Böotien oder auf dem Peloponnes noch Göttern und Nymphen auf den Bergen, bei einer dunklen Quelle oder an einem Flussufer begegnen konnte, neigte sich dem Ende zu.
Phryne schlug das Angebot Philipps aus, ihn als Konkubine an seinen Hof in Pella zu begleiten, auch weil sie um die tödliche Eifersucht der Königsgattin Olympias wusste, und zog es stattdessen vor, in ihre Geburtsstadt Thespiai zurückzukehren, um dort junge hübsche Mädchen in den Künsten der Liebesgöttin auszubilden.
Kurze Anmerkung: hier fehlt jetzt noch ein Gemälde (19-tes Jhrd.), auf dem zu sehen ist, wie Praxiteles vor den Augen der erstaunten Areopagiten der Phryne das Gewand vom Leib reißt. Keine Ahnung, ob es möglich ist, Bilder in einen Text zu integrieren. Könnte ich ersatzweise verlinken.