Physiognomie des Schmerzes
Seelischer Schmerz ist das persönlichste aller Gefühle, finde ich.
Meist hat er ein Gesicht und trägt einen Namen.
Schmerz ist wie ein lebendiges Wesen.
Er hat Kraft und Dynamik.
Er wird zu einem engen Vertrauten, doch wird er niemals ein Freund.
Wäre ich ein Haus, so wüsste er alle Zugänge, auch die geheimen,
um unbemerkt einzutreten.
Tatsächlich öffne ich ihm aber, wenn auch selten, die Tür,
hinter der er schon wartet, wissend, dass er eintreten wird.
Zuweilen spüre ich ihn schon, bevor seine Wirkung einsetzt,
so wie man an manchen Gewittertagen von ferne leichtes Donnergrollen hört.
Ein Gewicht legt sich dann auf meine Brust und das Atmen fällt schwer.
Dann ist es auch schon so weit
und jedes Mal ist es wie das erste Mal.
Ich habe für mich erfahren, dass er schneller vorübergeht,
wenn ich einfach still halte, mich nicht wehre.
Zwar reißt der Schmerz mich jedes Mal mit der gleichen Gewalt in die Tiefe,
doch weiß ich, wenn ich ihn wüten lasse,
wird er irgendwann verebben.
Gehe ich dagegen an,
dann bleibt er scheinbar ewig, wie ein Schatten an mir kleben,
den Moment abwartend, um über mich herzufallen,
wenn ich auch nur einen Moment unachtsam bin.
Wenn möglich suche ich einen Ort,
wo ich mit dem Schmerz allein bin.
Als erstes er versetzt mir stets einen gewaltigen Schlag in den Magen,
schnürt ihn zusammen und füllt ihn mit beißender Lava.
Diese steigt unaufhaltsam weiter nach oben, bis sie das Herz erreicht
und verwandelt sich dort in ein stählernes Messer,
das immer wieder langsam und erbarmungslos zu sticht.
Der Schmerz schnürt mir mit einer schmalen Schnur gnadenlos die Kehle zu.
Das Rauschen und Dröhnen in den Ohren übertönt alles.
und ich nehme alles um mich herum nur noch wie durch Nebelschwaden wahr.
Lange, glühende Nadeln bohren sich durch die Schläfen in meinen Kopf.
Die Augen brennen und wenn die Kraft zum Weinen reicht,
schüttelt das Schluchzen mich wie einen Zweig hin und her.
Die Gedanken fangen an ohne Unterlass Kreise zu ziehen,
schreien kreischend WARUM, auf dass es keine Antwort gibt.
Meine Arme und Beine sind bleischwer und lassen kaum bewegen.
Körper, Geist und Seele sind gleichermaßen gelähmt,
ich bin zu einer Marionette des Schmerzes geworden.
So tobt er zum Finale an allen Stellen meines Körpers gleichermaßen ohne Erbarmen.
Und stets habe ich das Gefühl, ich würde es kein weiteres Mal überleben.
Doch dann, nach einer Weile,
die sich wie eine Ewigkeit hinzieht, ist es vorbei.
Der Schmerz tritt in immer schwächer werdenden Wellen
seinen Rückzug an.
Die schwere, doch erlösende Mattigkeit hüllt mich wie ein Daunenbett ein.
Ich bin erschöpft, ausgelaugt und
brauche einen Moment, bis ich die Umwelt wieder klar wahrnehmen kann.
Und jedes Mal bleibt die quälende Frage zurück:
Wie lange noch?