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PISA lässt grüßen - eine kleine Chemiestunde
„Sooo…“, ließ der Chemielehrer ein Stöhnen von sich, das dem eines Schwerathleten beim Gewichtheben oder dem eines zusammenbrechenden Elefanten ähnelte. Endlich, mit fünfzehnminütiger Verspätung, schob er schwer atmend ein mit Chemikalienfläschchen überfülltes Wägelchen ins Klassenzimmer. Na ja, eigentlich beförderte er nur die in Jahren harter, ehrlicher Lehrerarbeit angefutterte Wampe vor sich her, die wiederum das Wägenchen bei jedem Schritt anstieß, aber letztendlich spielte es keine Rolle. Ein strenges Buket aus Chemikalien und billigem Kaffee, die beide ihr Verfallsdatum schon seit Jahren überschritten hatten, füllte den Raum. Freundlich grinsend, aber etwas unsicher, starrte der Lehrer wortlos in den Raum, wartete vielleicht darauf, bis sich der Kaffeegeruch verflüchtigte, aber vergeblich – genauso wie die Riesenwampe, würde er den Geruch ein Leben lang mitschleppen müssen. Ich starrte ihn ebenfalls an. Unsere Blicke kreuzten sich zufällig.
„Was wollen die nur von mir?“, schienen mich seine blassgrüne Augen zu fragen, „Ich will nach Hause, sie wollen nach Hause – warum können wir kein Kompromiss finden? Typisch Schüler – tun alles, um mir das Leben schwer zu machen!“
So langsam wurde es still. Das heißt, die Gespräche wurden von Stufe „Schreie lauter als Hausmeisters Laubsauger“ auf Stufe „Übertöne den Lehrer“ heruntergeschraubt, das Käsekästchenchampionat zwischen meinen Nachbarn unter den Tisch verlagert, das Liebespärchen auf (oder unter) der hintersten Bank begann sich wieder anzuziehen und die Geräusche, die sie von sich gaben, ähnelten nicht mehr einem startenden Düsenjet, sondern nur noch dem Gestampfe eines Abflussreinigers.
Nun, wo die meisten Blicke auf ihn gerichtet waren, fühlte sich der Lehrer kalt erwischt und plötzlich in den Mittelpunkt des Geschehens geworfen. Er wurde unruhig. Er musste etwas sagen. Etwas richtig Wichtiges, Intelligentes, Selbstbewusstes, gewürzt mit einer Prise gutem Humor.
„Sooo…“, stieß er wieder von sich.
Warum starren die mich alle so an? Ich will hier raus! Ich brauche Kaffee!
Aber jetzt war es zu spät. Jetzt würden die ihn nicht mehr raus lassen. Es sei denn…
„Joo, dann werde ich mal die Chemikalien holen…“, sagte er in den Raum und machte einen schleichenden Schritt zur Tür, zur Rettung, zur Freiheit, zum Kaffee…
„Aber Herr Feldlinger, Sie haben sie doch bereits hergebracht!“, sagte ich. So leicht kommst du mir nicht davon!
Eine Sekunde lang starrte er mir in die Augen. Es waren die Augen eines in die Ecke getriebenen Tieres. Schachmatt! Er wurde rot. Seine Lungen, mit denen er protzte, in seiner Jugendzeit verschiedenste Schulsportrekorde gebrochen zu haben (diese Schüler waren aber auch wirklich dumm wie Scheiße, wenn sie so was glaubten!), bekamen nun keine Luft mehr. Er hatte einen fatalen strategischen Fehler gemacht. Dies würde ihm eine Stunde kosten. Eine Unterrichtsstunde. Unterricht. Mit Schülern. Brrrr!!!
Nach kurzer Zeit erholte er sich aber von dem Rückschlag. Bedächtig ging er um das Chemikalientischlein herum. Er musste schleunigst etwas unternehmen. Sonst würden die noch glauben, er hätte keinen Plan. Man konnte denen zwar vieles auftischen, aber Inkompetenz rochen sie wie die Geier. Gerade er konnte ein Lied davon singen.
Mussten die Scheißnamen auf den Fläschchen auch so verdammt kompliziert sein!
Langsam hob der Chemielehrer ein Fläschchen auf die Augenhöhe und betrachtete nachdenklich die mulmige, flockige Flüssigkeit da drin. Verfallsdatum 1978. Nicht gut. Was es auch war. Und auch so ein langer Name! Lange Formeln bedeuteten meistens Ärger, das wusste er. Im Laufe seiner pädagogischen Laufbahn hatte er einige empirische Grundsätze zur Klassifizierung von Stoffen aufgestellt. Lange Formeln – gefährlich. Farbig – gefährlich. Stinkend – lieber nicht saufen. Und so weiter. Man lernt eben dazu, wenn man schlau ist.
Er stellte das Fläschchen wieder dorthin, wo es war (in eine bunte fröhliche Lache aus verschiedenen im Laufe des Schuljahres verschüttelten Flüssigkeiten) und wiederholte den Vorgang mit einem halben Dutzend weiterer Fläschchen. Schließlich, eine wichtigtuerische Geschäftigkeit vortäuschend, scheinbar tief in den Vorgang versunken, wählte er einige davon aus. Seine Lippen bewegten sich und schienen ein kleines Gebet zu murmeln. Endlich sprach er:
„Sooo…“, und dann, nach einer längeren, spannungsaufbauenden Pause: „Jetzt machen wir eine Verdünnungsreihe…“
Gespannt schlug ich mein Chemieheft auf. Meine Finger, den Kugelschreiber fest umschlungen, waren bereit, blitzschnell übers Papier zu gleiten um die hohe Kunst des Verdünnens zu notieren. Meine Sinne geschärft, meine Ohren trainiert auf Empfang prüfungsrelevanter akustischer Reize… Als ich die Etiketten der Fläschchen sah, legte ich meinen Stift beiseite. „H20“ stand auf dem ersten, „H20dest.“ Auf dem zweiten und „H20doppeldest.“ auf dem dritten Fläschchen. Was würde sich wohl beim Verdünnen ergeben?
Nach heftigem Rütteln und Mischen – ich sah ihn schon als Barkeeper in einem bunten, lässig aufgeknöpften Hawaii-Hemd – betrachtete der Lehrer das Resultat. Zu seinem Erstaunen und zu meiner Befriedigung war natürlich nichts verändert.
„Komisch“, murmelte er verlegen, wie ein Nachwuchsmagier, dem ein Trick misslang, „eigentlich sollte das ganze so schön farbig werden…“
Farbig wie das Hawaii-Hemd? Wärst du doch nur Barkeeper geworden!
„Na ja, was soll man machen, wenn die uns seit Konrad Adenauer keine neuen Chemikalien zur Verfügung gestellt hatten…“
Die Masche kannte ich schon. Nun würde er über das deutsche Bildungssystem diskutieren, die Bürokratie, die Geldknappheit, den Welthunger, die CIA, die letzte Sonnenfinsternis…
Ein stechender Schmerz zwischen den Rippen riss mich aus der Abwesenheit. Mein Banknachbar rammte mir einen Bleistift in die linke Flanke.
„Frag ihn!“, zischte er mir zu.
„Was?“
„Frag ihn, du Depp, sonst vertrödelt er auch diese Stunde!“
Jetzt fiel es mir wieder ein. Und es traf mich wie ein Blitz. Entschlossen zuckte ich die Hand in die Höhe.
Er hatte mich gesehen. Ich weiß, er hatte mich gesehen. Ich sah deutlich den flüchtigen Blick auf meine Hand gerichtet. Ein kurzer Moment der Furcht vor einer Schülerfrage verzerrte sein Gesicht. Dann verlor ich ihn. Er wandte sich ab zu den Fläschchen und setzte wieder diese falsche Maske der simulierten Geschäftigkeit auf.
„Herr Feldlinger!“, rief ich ihm etwas entmutigt zu, als meine Hand einzuschlafen begann. Summend bewegte er die Fläschchen auf dem Tablett im Kreis.
„Herr Feldlinger!“, rief ich nun lauter und entschlossener immer wieder, so laut, dass ich nun sogar das Abflussreinigergestampfe von hinten übertönte. In die Ecke gedrängt, wandte er sich endlich zu mir.
„Jaa?“, seine Stimme klang zittrig wie die eines verängstigten Lämmchens.
„Wir schreiben ja nächste Stunde die Kursarbeit. Könnten Sie uns sagen, was dran kommt?“
Es traf ihn mitten ins Herz. Er wurde blass und schien umzukippen. In seinem Gesicht – blankes Entsetzen.
„K-K-K-Kursarbeit?“
Hatte er etwa als Lehrer versagt? Ist seine seit Jahrzehnten gepflegte Tarnung des Allwissens und der Weisheit aufgeflogen? Nein, es brauchte schon mehr als einer dämmlichen Frage, um den alten Feldlinger zu beeindrucken… auch wenn er einen schrecklichen Kater hatte… und sich nach Kaffee sehnte.
„Ach die Kursarbeit, ja, sicher“
Eine künstliche Gelassenheit kehrte wieder in seine Stimme zurück. Ich wusste, dass ich nur wenig Chancen hatte in diesem falschen Spiel. Er war zu gut darin.
„Die ist ja schon nächsten Donnerstag.“
Jetzt hatte er mir doch einen kleinen Trumpf in die Hände gespielt.
„Nein, die Kursarbeit ist morgen.“
„Ja sicher, das weiß ich doch“, sagte er und entblößte seine vom Kaffee gelb gefärbten Zähne in einem selbstzufriedenen Grinsen, „Ich wollte euch doch nur testen.“
Dann gönnte er sich eine kleine Denkpause. Von ca. 15 Minuten. Er brauchte einen Plan, einen guten Plan. Er musste dringend neue Aufgaben bestellen. Er musste sich wohl mal wieder an seinen polnischen Chatfreund wenden, der ihm schon seit neun Jahren den Stoff beschaffte. Den Lehrstoff.
Langsam wurde es still, so still wie es noch nie war. Kein matschiges Knutschgestampfe. Keine Käsekästchenturniere. Wie er es doch hasste, wenn sie ihn alle so anstarrten!
Mit einem dezenten Hüsteln versuchte ich ihn wieder zurückzuholen.
„Ja, die Kursarbeit. Alles, was wir seit der letzten Kursarbeit zusammen durchgenommen haben.“, nun strahlte er richtig vor Selbstbewusstsein.
Hmm… Lasst mich mal nachdenken. Was haben wir alles durchgenommen?... Einen Film über Neutrinos mit versteckter Joghurtwerbung mittendrin und lustiger, irgendwie anregender Titelmusik. Seine gescheiterte sportliche Kariere. Eine Menge 0815-Witze. Erneut den Film über Neutrinos. Das Buch der 100 besten Käsekästchentricks. Den Sinn des Lebens und des Lebens danach. Die Löslichkeit von Wasser in Wasser…
„Na, alles klar?“, fragte er freundlich grínsend in den Raum. Dann warf er einen hoffnungsvollen Blick auf seine Armbanduhr – noch 14 Sekunden, „Falls ihr noch irgendwelche Fragen habt, könnt ihr sie jetzt gerne stellen!“
Ein Dutzend Finger ragten in die Höhe. Es läutete. Er packte seinen Kram und war sofort weg. Der polnische Kursarbeitendealer verkaufte ihm für 10 Euro die Aufgaben. Für 50 Euro verkaufte er dann die Lösungen an uns, die Schüler. Für 75 Euro verkaufte er dann die Lösungen an Herrn Feldlinger, unseren Chemielehrer. Die Kursarbeit ist gut ausgefallen. Der Direktor lobte Herrn Feldlinger für seine erfolgreichen Unterrichtsmethoden. Weitere dreißig Abiturienten verließen die Schule mit solidem Chemiewissen auf Kindergartenniveau.