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Plötzlich
Plötzlich…
Durch das Fenster sieht sie nach draußen. Sieht sie die Nacht, ganz dunkel, finster. Es liegt an ihrer Stimmung, ob sie die Nacht als dunkel oder als finster bezeichnet. Es liegt auch an ihrer Stimmung, ob sie die Nacht bedrohlich, oder als erlösend findet.
Diese eine Nacht, vor so vielen Jahren, ganz plötzlich…
Seit dem ist keine Nacht mehr wie vorher.
Sie geht vom Fenster weg, mit langsamen Schritten. Geht durch das Zimmer, bleibt dann vor dem Regal stehen. Heute ist einer dieser Tage, an denen sie sich erinnert. Oft macht sie das nicht.
Die Erinnerung, sie ist keine Schöne. Die Lichter, die Geräusche, die Stimmen, sie werden viel zu hell und zu laut, wenn sie die Gedanken zulässt. Also lässt sie es meistens.
Im Regal, steht ein altes Foto. Aus alten Zeiten, vor dieser Nacht. Die Zeit einfach zurück drehen, daran hat sie oft gedacht. Dann wäre es alles anders, nicht vielleicht besser, aber ein Stück weit anders.
Dieses Foto in diesem Regal, eine Erinnerung und das Buch daneben, eine weitere Erinnerung. Das Buch, das er ihr geschenkt hat. Ein Roman, der zu dieser Zeit im Trend war, er hat es ihr zum Geburtstag geschenkt.
Ein Griff an den Hals und sie hat die Finger um die kleine, schmale Kette gelegt. Weitere Erinnerungen an früher, an ihn, an sie. An sie zusammen. Vor dieser Nacht, die so plötzlich kam.
Danach, war alles anders. Feste Regeln wurden danach verschoben. Dinge, verloren an Wichtigkeit. Nicht langsam, sondern Schlag auf Schlag.
Ihre ganze Wohnung, besteht aus Erinnerungen. Teils neue, teils alte. Die neuen, wie zum Beispiel der Terminkalender. Aus schwarzem Leder. Er liegt auf dem Fußboden, zusammen mit den ganzen Blättern von der Arbeit. Es ist ein Vertrag, den sie noch durchsehen muss.
Neben dem Regal hängt an der Wand, ein kleiner Zeitungsausschnitt. Von dieser Nacht. Sie muss ihn nicht mehr lesen, sie kann ihn aus wendig. „Schwerer Unfall…“
Aber der Unfall war nicht Alles. Er war der Auslöser zu einer Kettenreaktion. Gewohnheiten, die keine mehr waren. Erinnerungen, die sie nicht mehr haben wollte. An diese Nacht. Träume, die sie nicht haben wollte. All das kann kein Zeitungsartikel beschreiben.
Sie waren Beide unterwegs in dieser Nacht, auf dem Weg nach hause. Ganz langsam waren sie unterwegs, weil die Nacht so schön anzusehen war. Damals hätte sie sie noch als dunkel bezeichnet.
Der Weg aus diesem Restaurant war nicht lang.
Der Weg aus dieser Nacht schon.
Zusammen gelacht haben sie, dass ist eine der Erinnerungen, die besonders weh tun.
Und dann das Fahrrad. Das Fahrrad, das ganz plötzlich aufgetaucht ist. Er ist dem Fahrrad ausgewichen, nach rechts. Nach rechts auf die Straße. Und dann war da das Licht, dieser Scheinwerfer. Das Geräusch der Bremsen. Dieses Geräusch wird in der Erinnerung niemals leiser.
Ihre Schreie, hallten immer noch nach, an manchen Tage. Seine nicht. Er hat nicht geschrieen. Er hat nur auf das Auto gestarrt. Und hat nicht mehr damit aufgehört.
Vielleicht der Schock, vielleicht etwas anders, das Plötzliche, hat sich in ihm geschlichen. Er hat nur noch auf eine Stelle gesehen.
Das Auto, ist weiter gefahren. Vielleicht hat der Fahrer sich gefreut, dass er Glück gehabt hatte.
Er hatte kein Glück. Er stand einfach nur da, starrte vor sich hin, die Augen aufgerissen, in der Erwartung einen Aufprall zu fühlen. Der Aufprall blieb aus, weil er Glück hatte.
Sie war erleichtert, froh, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm nach hause. Sie hat sich gesagt, dass es ihm gut geht. Dass sich das legen würde.
Aber nach drei Tagen, hat er immer noch vor sich hingestarrt. Auf eine Stelle, die nicht da war. Auf Lichter, die längst weiter gezogen waren.
Sie hat ihn angeschrieen, aber nichts. Sie hat ihn geschüttelt, nichts.
Nach zwei Wochen, hat sie die Hoffnung verloren. Niemand, der ihr sagen konnte, was er hatte. Ob es besser werden würde. Keine Antworten auf ihre Fragen. Nur Schulterzucken und das zu genüge.
Gewartet, hat sie. Lange. Stunde um Stunde. Mit ihm geredet, ihm gesagt, dass sie da ist. Seine Hand gehalten, aber nie wieder einen Widerstand gefühlt.
Und dann kam dieser kleine Zeitungsartikel, in dem der Unfall beschrieben wurde. In dem geschrieben wurde, dass der Unfall „schlimm“ war, aber niemand konnte das beurteilen, weil niemand dabei war. Sie schrieben, dass er sich in einem Wach-Koma befinde, ausgelöst durch diesen Schock.
Worte auf Papier, die nichts sagten. Die keine Wirkung hatten, wenn man sie lass.
Dieses Gefühl, dass sie hatte, wenn sie ihn ansah, wurde nicht beschrieben. Aber dieser Knoten im Hals war jedes Mal da. Und jedes Mal, wurde er enger, wenn sein Blick immer noch auf eine Stelle sah.
Der schwarze Terminkalender auf dem Boden. Termine, Uhrzeiten für den nächsten Tag. Ein Vertrag, für einen anderen Job. Ein Vertrag für einen Job in einem anderen Land. Und vielleicht eine andere Zukunft.
„Du musst gehen“, hat ihre Mutter gesagt. „Nicht nur er geht kaputt, sondern auch du. Geh, du kannst immer wieder kommen.“
Und die Hoffnung, dass sich sein Zustand ändern, sie ist auch gegangen. Leise, schleichend. Sie wollte sie festhalten, die Hoffnung, aber Gefühle lassen sich nicht festhalten. Und so ist sie eines Morgens aufgewacht, hat ihn angesehen, und die Hoffnung war weg. Zuerst war es ein Schock. Später nur noch ein Zustand, über den sie dankbar war. Weil der Schmerz nicht mehr so groß war.
Die eine Nacht, die plötzlich kam. Die Alles mit sich genommen hat.
Sie sieht in die Nacht, reißt sich dann los, nimmt ihre Tasche, den Terminkalender, den Vertrag vom Boden. Sie wird gehen. Nach Frankreich. In eine Stadt, in der sie keine Erinnerungen hat.
Sie wird alles hier lassen, die Fotos, das Buch, einfach alles. Weil die Nacht heute wieder schwarz ist.
Ein letzter Besuch bei ihrer Mutter. Eine letzte Umarmung. „Viel Glück“, wünscht sie ihr. „Du machst das Richtige.“ Wenigstens eine Person, die Hoffnung in der Stimme hat.
Und dann ein letzter Blick auf ihn. Aber der Blick wird nicht erwidert. Er ist immer noch in die Ferne gerichtet.
Zwei Jahre, ist es her. Dieser beinahe Unfall, der so plötzlich kam. Seit dem hat er nie wieder gesprochen, hat er nie wieder etwas gesehen.
„Ich passe auf ihn auf“, sagt ihre Mutter. Weist dann auf das Taxi hin, das vor der Tür steht.
Weil es an der Zeit ist, loszulassen.
Weil es an der Zeit ist, die Hoffnung ganz sterben zu lassen. Das haben die Ärzte gesagt. Er wird nicht mehr aufwachen.
Eine letzte Erinnerung an diese Nacht. Ihre Schreie, das Licht, die Erleichterung, dann das Entsetzen.
Ein letzter Blick auf ihn, ihren Sohn, der sie nicht mehr erkennt. Vielleicht nie wieder.
Ein letzter Blick, ein letztes Stechen in ihrem Herzen, dann geht sie…