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Polnische Cola
Merkwürdig. Wenn ich überlege, auf welche Art und Weise diejenigen Menschen in mein Leben traten, die für jenes im Nachhinein von sehr großer Bedeutung waren, so ist es immer sehr subtil und unauffällig gewesen. Niemals hätte ich in diesen ersten Momenten gedacht, dass es jener Person gelingen könnte, mein Leben zu verändern, es sogar komplett umzuwerfen, mich zu paralysieren oder ganz im Gegenteil: wiederzubeleben, auf den richtigen Weg zu bringen oder mich fern davon abzuleiten. Mit einem dauerhaft solch großen Einfluß auf mich hätte ich nach diesen ersten Augenblicken nicht rechnen können.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie er an jenem Abend um mich herum tigerte und kläglich versuchte, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ich bin mir nich ganz sicher aber scheinbar hat er damals noch in keinster Weise anziehend auf mich gewirkt, sonst hätte ich ihn wohl nicht dermaßen ignoriert. Schließlich hielt er mir eine Dose Jim Beam - Cola vor die Nase. Ich hasse Jim Beam-Cola. Als ich ihn angewiedert fragend ansah, antwortete er: "Das ist polnische Cola, kennste?". Was soll man schon erwarten von jemandem, den man auf diese Weise kennenlernt? Nichts. Wie blauäugig.
Der besagte Abend liegt nun lange zurück. Nicht lange genug. Wenn ich könnte, würde ich alles erdenkliche tun, um ihn aus meinem Leben zu streichen. Jede Handlung, jede Tätigkeit, jedes Geschehen, jedes Zusammentreffen zweier Menschen ist nicht mehr als ein Gespann von Tausenden kleiner Fäden aus Zufällen. Hätte einer dieser Fäden gefehlt, hätte ich ihn niemals kennengelernt.
Hätte Raphaela mich an jenem Abend erreicht und fürs Kino eingeladen, wäre ich zwei Tage vorher ohne Jacke aus dem Haus gegangen und mir eine Erkältung eingefangen oder wäre für Montag eine wichtige Klausur angesetzt gewesen, die mich zum Lernen am Wochenende gezwungen hätte: Ein einziges dieser auf den ersten Blick nichtigen Ereignisse hätten mich davor bewahrt, von ihm angesprochen zu werden.
Heute ist Nikolaus und es gibt eine Studentenparty. Ich sitze im Bus und fahre dorthin. Wie oft ich seine Nummer bereits aus dem Telefon gelöscht habe, kann ich nicht mehr zählen. Es scheint immer ganz einfach: ""Flo" löschen?" fragt mich das Display jedes Mal von Neuem. "Ja".
Inkonsequenterweise frage ich mich jetzt schon, wen ich in zwei Wochen wieder nach seiner Nummer fragen werde, weil ich sie ja doch brauche. Ihn zu löschen geht nicht.
Der Mensch neigt dazu, sich zu überschätzen. Er legt sich Lasten auf und merkt erst spät, dass es unmöglich ist, diese auszutragen. Aber die Zeit, in der er noch problemlos aus allem hätte aussteigen können, die kurze Zeit in der die Ursache jener Last noch nicht von Bedeutung ist, noch nicht für immer in ihm verwurzelt, ist, proportional gesehen, geradezu nichtig.
Erst rückblickend erkennt er, wann der Punkt kam, an dem er sich verloren hatte, an dem es ihm nicht mehr möglich war, sich umzudrehen und zu gehen. Ohne Schmerzen. Zu spät ist es dann allemal.
Raphaela hält mir von hinten die Haare fest, damit sie nicht nass werden. Ich kann es nicht selbst, ich knie in der Studententoilette und muss mich übergeben. Als alles vorbei ist, sitze ich alleine drauen im Schnee, vielleicht auf einer Mauer.
Heute sind viele Leute da, die ich kenne. Manche setzen sich kurz zu mir. Niemand fragt nach ihm. Es fragt nie jemand nach ihm. Obwohl sie ihn alle kennen. Keiner von ihnen trägt das Bild von uns beiden zusammen im Kopf. Am Ende bin nur ich es.