Power
Ich laufe durch die Halle. Schweiss rinnt meinen Nacken hinab und wird kaum mehr vom tropfnassen T-Shirt aufgesogen. Keuchend bleibe ich hinter einem Steinpfeiler stehen. Ob sie mich wohl sehen kann?
Ich greife in meine Tasche. Ein kleiner Taschenspiegel kommt zum Vorschein. Langsam richte ich in aus, bis ich den Thron in der Mitte der Halle im Blickfeld habe. Dort ist sie: aufgedunsen und fett. Diesmal sieht sie aus wie ein Wurm, trotzdem habe ich keine Mühe sie zu erkennen.
„Weshalb hasst du mich?“ Ihre anklagende Stimme lässt meine Beine zittern.
„Weil du nicht gut bist für mich!“ Meine eigene Stimme erscheint mir unecht, unwahr. Weshalb hasse ich sie? Ist sie nicht immer bei mir gewesen, als mir langweilig war? Habe ich nicht mit ihr vor dem Fernseher gelacht? Ist es nicht normal, in der heutigen Zeit zwanzig, dreissig Stunden die Woche vor dem Computer zu sitzen?
„Es ist vollkommen normal, alle deine Kollegen tun dasselbe. Gönn dir was, du hast einen anstrengenden Schultag hinter dir.“
Ja, weshalb sich dagegen Sträuben? Ich freue mich schon auf meine Freunde im MSN.
„Deine Freunde werden sich auch darüber freuen, von dir zu hören, und Markus will eine Revanche im Counter Strike.“
Nein. Ich will nicht schon wieder den ganzen Tag vor dem Computer sitzen. Aber was soll ich sonst tun, in dem gottverlassenen Kaff, in dem ich wohne? Meine Freunde leben in Amerika, Frankreich, England. Omg! Habe ich tatsächlich keine Real-life Freunde mehr? Das muss ich im Jugendforum erzählen! Total aus der Realität abgedriftet. Die werden sich wundern!
Ich gehe auf den riesigen Monitor zu. Darunter befindet sich verschwindend klein der Rechner. POWER.
„Sag mal, weißt du eigentlich, dass du soeben wieder auf die fette Zecke hereingefallen bist?“ Die anklagende, aber gutmütige Stimme lässt mich nach oben Blicken. Silbern glänzend schwebt sie herunter, blendet mich in ihrem reinigenden Schein. Über dem weiss glühenden Gewand lächelt mir das Gesicht meiner Mutter entgegen.
„Du bist süchtig, und das weißt du. Warum hörst du bloss auf deine Sucht?“
„Hör nicht auf sie!“ zischt die Sucht. „Sie will nur, dass du den ganzen tag lernst und lernst, sie gönnt dir keinen Spass.“
Doch ich beachte ihre Stimme kaum, in der Anwesenheit des Engels fällt es mir unendlich leicht, die Sucht zu ignorieren.
„Doch was kann ich sonst tun?“ ich schäme mich. Ich fühle kein Bedürfnis mehr an den Computer zu sitzen, und weiss dennoch nicht, was ich machen könnte.
Der Engel sieht mich bloss an.
Ich wende mich von ihm ab und gehe zum Hallenausgang. Draussen bläst ein frischer Wind. Ich drehe mich noch einmal um, um dem Engel zu winken.
„Danke! Danke vielmals!“ schreie ich, dann drehe ich mich um und beginne langsam den Hügel runter zu joggen. Zufrieden lächle ich. Das war das letzte Mal, dass ich mich von der Sucht beherrschen liess!
„Aufstehen, Schlafmütze!“
Mit einem Schlag bin ich wach.
„Habe ich verschlafen?“
„Nein, heute ist Samstag, du brauchst nicht zur Schule zu gehen.“
Ich drehe mich um und schlafe weiter.
Der Sucht entronnen! Ich bin zwar noch etwas verschlafen, dennoch ist mir die Bedeutung des Traumes sonnenklar. Breit grinsend löffle ich meine Cornflakes. Ich habe es endlich geschafft.
„Dir scheint’s gut zu gehen, Paul!“
„Aber immer, Dad.“
„Schön zu hören!“
Das muss ich unbedingt meinen Freunden erzählen. Ich gehe nach oben zum Computer.
POWER.