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Prager Frühling
Die Luft an diesem Februarabend war kühl, ein leichter Wind blies durch die verwinkelten Gassen des Prager Burgviertels, doch sie fror nicht. In seiner Nähe fror sie nie. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und ließ ihre letzten Strahlen auf der ruhig dahin fließenden Moldau tanzen. Ein Abschiedsgruß, bevor sie für die lange Nacht hinter dem Horizont verschwinden und die Regentschaft dem Mond und den unzähligen Sternen überlassen würde. Schweigend liefen sie nebeneinander her. Manchmal zeigte sie ihm Gebäude oder Plätze an denen sie vorüber kamen und war froh, das Schweigen brechen zu können. Sie war überwältigt von der Schönheit dieser Stadt, von den alten Gebäuden, den imposanten Brücken, die sich über den Fluss spannten, den verwinkelten Nischen und Gassen und dem Gefühl, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Prag hatte bereits bei ihrem ersten Aufenthalt in dieser Stadt einen irrealen Reiz auf sie ausgeübt. Sie fühlte sich schon damals in eine andere Welt versetzt und ihr eigentliches Leben schien unendlich weit weg.
Nun war sie wieder hier. Mit ihm. Sie dankte dem Schicksal, denn sie hatten die anderen im Getümmel der U-Bahn-Station aus den Augen verloren und waren deshalb alleine weiter gefahren. Sie hatte ihn gefragt, ob sie ihm ein wenig die Stadt zeigen sollte, bevor sie die anderen einholten und war glücklich, dass er eingewilligt hatte.
Für einen Moment empfand sie das Gefühl der absoluten Perfektion eines Augenblicks. Diese Stadt. Er. Perfekt. Fast.
Langsam schlenderten sie über das Kopfsteinpflaster der Karlsbrücke, die bereits zu dieser Jahreszeit mit Portraitmalern, Souvenierhändlern und Kleinkünstlern bevölkert war.
Ein alter Mann mit lichtem grauem Haar und schief sitzender Mütze saß mit seiner Staffelei vor einer der Heiligenstatuen und zeichnete ein Pärchen, das verliebt an der Mauer der Brücke lehnte. Man sah ihm an, dass er im Laufe seines Lebens bereits viele solcher Paare gesehen und gemalt hatte. Doch deren Anblick schien ihm immer wieder ein Strahlen ins Gesicht zu zaubern, weil er an die Liebe glaubte. Sie lächelte und stellte sich vor, dass sie dieses Pärchen wären, dass er sie so in seinen Armen halten würde. Auch er hatte dieses Szenario bemerkt und sie konnte erkennen, dass es ihn ebenfalls zu berühren schien.
Sie warf ihm einen Seitenblick zu und wieder wurde ihr bewusst, warum er sie so faszinierte. Seine blauen Augen glänzten in der untergehenden Sonne, die Brauen und Wimpern bildeten den makellosen Rahmen um dieses lebendige Gemälde seines Gesichts. Für einen Moment schloss sie die Augen, atmete tief ein, als wolle sie die Zeit zum Stillstehen zwingen und spürte, dass sie nur hier, an diesem Ort – hier am anderen Ende ihres Lebens - das tun konnte und musste, worauf all die letzten Monate sie hingeführt hatten.
Sie fühlte, sie wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, all das Denken zu beenden und endlich zu handeln. Jetzt oder nie. Reden oder Schweigen. Gewinnen oder Verlieren.
Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Ihm war nicht entgangen, dass sie abwesend war und dass sie etwas beschäftigte. „Was ist los? Geht’s dir nicht gut?“ fragte er und sah sie mit besorgtem Blick an. Sie wich diesem Blick aus, zögerte, doch dann sah sie ihn an. In ihren Augen funkelte der Mut der Entschlossenheit und wie sie fürchtete, ihres Untergangs. Sie erhob leise und zitternd die Stimme. „Ich liebe dich.“ Unzählige Male hatte sie ihm diese Worte bereits in ihren Gedanken gesagt, wann immer sie in seiner Nähe war. Unzählige Male hatte sie versucht, vor diesen Worten zu fliehen, wenn sie unerträglich wurden. Jetzt da sie sie ausgesprochen hatte, wurde ihr beinahe schwindelig. In diesen drei Worten lag alles, was in den letzten Monaten an Gefühlen über sie hereingestürzt war. Ja, sie liebte ihn und endlich hatte sie es gesagt. Nun war sie bereit, seine Antwort zu empfangen, wie auch immer diese lauten würde. Sie hatte sich aus der Sicherheit des Nicht-Wissens heraus gewagt und musste sich nun der Wirklichkeit stellen. So stand sie nun vor ihm. Zitternd. Nicht vor Kälte, aber zitternd aus Angst vor seiner Antwort, vor seiner Reaktion. Ihr Blick glitt hinab auf die Moldau, die weiterhin ruhig vor sich hinfloss und nichts von dem Sturm, der gerade in ihrem Herzen tobte, wusste. Die Welt befand sich im Dämmerzustand. Der Himmel um sie herum bäumte sich noch ein letztes Mal in leuchtendem Rot auf, bevor er sich der Nacht ergab. Die Sekunden vergingen und erschienen ihr wie Jahre. Nichts geschah. Er sagte kein Wort. Alles was sie hörte, war der Schlag ihres Herzens und das leise, beständige Rauschen des Wassers. Sie spürte mit jeder Sekunde die verstrich, wie ihre Kehle trockener wurde, sich ihr Hals weiter zuschnürte, wie sich ihre Hände an der Brückenbrüstung verkrampften und wie ihr Blick verschwamm.
Dann spürte sie eine Berührung. Seine Berührung. Behutsam löste er ihre Hände von der Mauer, nahm sie in seine und zog sie näher zu sich. Schweigend sah er sie an. Sie schloss die Augen, um ihren Tränen Einhalt zu gebieten. Im gleichen Augenblick fühlte sie seine Lippen auf ihren. Vorsichtig, als könne sie etwas beschädigen, als könne sie diesen Moment zerstören, gab sie sich der Unglaublichkeit dieses Moments hin. Jetzt wusste sie, wie es war, wenn die Zeit wirklich still steht. Nach einer scheinbaren Ewigkeit lösten sie sich voneinander. Lächelnd und glücklich sah sie ihn an. Aus ihren Augenwinkeln entdeckte sie den alten Mann, der eben das Pärchen gezeichnet hatte. „Láska…“ sagte er und lächelte. Er streckte ihr seine Hand entgegen, in der er ein zusammengerolltes Blatt Papier hielt. Vorsichtig nahm sie es in die Hand, rollte es auseinander und sah, dass der alte Mann für sie die Zeit angehalten hatte…