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Prager Horologion

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21.02.2010
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Prager Horologion

Prager Horologion

Die fasrige Oberfläche des gefalteten Taschentuchs saugt langsam die Feuchtigkeit meiner Hand auf. Rasch, um die Tinte der wertvollen Notiz nicht zu verwischen, stecke ich es in die Brusttasche meines Sakkos. Die Rolltreppe führt mich gemächlich, aus dem feuchten Untergrund der Prager U-Bahn, in das grell leuchtende Licht der kräftigen Sonnenstrahlen dieses Maitags. Ich lehne mich erschöpft, an die kühle Mauer der -wie mir das vergilbte Messingschild an der Hausmauer verrät- Karlova Universität der Künste und blicke gedankenverloren, über die rot-weiß-rot gestrichene Absperrung des gepflasterten Bürgersteins. Tosend zieht der Verkehr an mir vorbei.
Ich war sieben Jahre alt gewesen, als meine Mutter beschlossen hatte meinen Vater zu verlassen und nach Wien zu ziehen. Um mir jene Zukunft zu geben, die sie niemals hatte. Heute vermute ich, dass ich lediglich ein willkommener Vorwand gewesen war, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Er war geblieben. Zu sehr hatte er seine Heimat geliebt. Offenbar noch mehr als mich. Trotz allem stieg in mir jenes vollkommene Gefühl, der sehnsüchtig erwarteten Heimkehr in eine vertraute Umgebung hoch, als ich diese Stadt nach all der Zeit wieder betreten hatte. Mit dem Handrücken wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Ich ziehe behutsam das Taschentuch aus der Innentasche und konzentriere mich auf die mittlerweile doch leider schon in verschwommene Mitleidenschaft gezogene Schrift.

-Jan Hus / Alt. Rathaus 16:00-

Gestern erst, als ich noch wie jeden Abend in der Wiener U-Bahn saß und neidisch die umsitzenden Pärchen bei ihren banalen Unterhaltungen belauschte, hatte plötzlich mein Telefon geklingelt. Sofort erkannte ich die Stimme am anderen Ende der Leitung. Mein Magen verkrampfte sich schlagartig. Ich versuchte zu sprechen, doch brachte ich keinen Laut hervor. „Weißt du noch wer ich bin Petr? Geht es dir gut? Endlich habe ich dich gefunden!“ Seine Stimme klang warmherzig und erleichtert. Meine Gedanken rasten um die Wette mit dem Puls der in meinen Schläfen hämmerte. „Aber dennoch hast du es getan!“ war das Erste was ich meinem Vater nach vierundzwanzig Jahren ohne jeglichen Kontakt zu sagen hatte. Während ich es aussprach, schämte ich mich bereits dafür. „Wenn es auch zu spät ist Widergutzumachen, so möchte ich es dir doch zumindest erklären! Damit du nicht dieselben Fehler machst!“ Er bat mich ihn unbedingt, so rasch als irgend möglich, in Prag besuchen zu kommen. Warum er es gerade jetzt so eilig hatte, war mir seltsam erschienen doch gefragt hatte ich nicht. Überhaupt hatte ich während des gesamten Gesprächs nur wenige Worte von mir gegeben. Meine Mutter sagte immer er würde sein eigenes Leben in seiner eigenen Stadt brauchen. Ich hatte ihr vertraut. Und ihn gehasst. Eigentlich hasste ich ihn noch immer. Und plötzlich, wie es ihm beliebt, war er einfach wieder in mein Leben getreten. Warum hatte er nur niemals seine Stadt verlassen? Uns konnte er ziehen lassen, aber seine Stadt nicht für einen Tag? All das hätte ich ihm sagen können. Ich hätte ihm die Fragen der letzten Jahre entgegenschleudern können, wie kleine Geschosse der kindlichen Einsamkeit, die mich so lange verletzt hatten. Stattdessen hatte ich geschwiegen. Mit zittriger Hand hatte ich rasch die Adresse aufgeschrieben und versprochen ihn nachmittags um vier Uhr zu treffen.
Schon bei der Ankunft in Prag, eröffnete sich mir der imposante Anblick der antiquierten Empfangshalle, welche mit barocken Heiligenfiguren verziert ist, die in kleinen gotischen Erkern stehen. Gleichsam meiner eigenen Anwesenheit in dieser Stadt, war auch diese Halle wenig mehr als eine Reminiszenz an eine glückliche Vergangenheit.

Laut Reiseführer, sind es nur noch wenige Minuten bis zu dem Alten Rathaus und dem berühmten Jan Hus Denkmal. Ich blicke auf die Uhr. Noch zwei Stunden. Langsam schlendernd, verlasse ich die Bequemlichkeit der kühlenden Hausmauer. Zuerst die Kaprova Str. entlang, bis ich beim Franz Kafka Hostel stehe. Dann nach links. So viel hatte ich mir von der kleinen Straßenkarte auf der Rückseite des Reiseführers gemerkt. Der erkaltete Schweiß läuft langsam meinen Rücken entlang bis er vom Bund meiner braunen Cordhose gestoppt wird, an der sich langsam ein nasser Fleck bildet. Vor dem Schaufenster eines modernen Thai Massage Salons halte ich inne. Aus meinem Spiegelbild im Schaufenster blickt mich ein müder alter Mann mit erschöpften Augen an, dessen Körper in altertümlichen Lederschuhen, Cordhose und Cordsakko steckt. Die Haare kinnlang und ungepflegt zur Seite geworfen. Das Gesicht unrasiert und faltig. Mit meinen einunddreißig Jahren, sehe ich aus wie die Karikatur eines altmodischen Rentners.

Ich hätte meine Kleidung sorgfältiger wählen müssen. Schließlich möchte ich nicht den Eindruck erwecken als wäre mir das Treffen gleichgültig. Das ist es definitiv nicht. Meine Hände zittern, mein Magen ist verkrampft als hielte er mit aller Kraft eine übergroße Bleikugel eng umschlungen, und mein rechtes Augenlid zuckt mittlerweile schon seit geraumer Zeit. Um mich ein wenig zu beruhigen, stecke ich meine Hand in die Hosentasche und versuche, unsichtbar für eventuelle Beobachter, mein Glied zu halten. Als ich damals mit meiner Mutter nach Wien gekommen war, hatte auch das Bettnässen begonnen. Die ständige Angst mich jederzeit nass zu machen, bekämpfte ich damals indem ich meinen Penis so fest quetschte, dass unmöglich auch nur ein einziger Tropfen seinen Weg in die Freiheit finden konnte. Das Bettnässen hatte es nicht aufgehalten, aber die Angewohnheit war geblieben.
Meine Hand schließt sich fester und ein leichter, wohliger Schmerz durchfährt meinen Körper. Details wie diese werde ich meinem fremden Vater wohl nicht erzählen. Ich biege nach links in eine schmale, gepflasterte Gasse ein. Alles hier erinnert mich an den ersten Wiener Gemeindebezirk. Die gemeinsame Geschichte dieser Städte lässt sich nicht leugnen. Bei all den Ähnlichkeiten, hätte mein Vater sich bestimmt auch in Wien, bei mir und meiner Mutter rasch zurechtgefunden. Aber warum hätte er alles aufgeben müssen? Der Gedanke, dass ja eigentlich meine Mutter ihn verlassen hatte, war mir nie gekommen. Sie hatte sich aus der Umklammerung dieser Stadt gelöst und meinen Vater zurückgelassen.

Vor mir erscheint, in der Mitte des Altstädter Rings, das Jan Hus Denkmal. Rasch lockere ich Umklammerung in meiner Hose und ziehe die Hand aus der Tasche. Eingeschlossen von ausländischen Touristen, steht heute jener in Bronze gegossener Mann - Begründer der reformatorischen Bewegung-, dessen Leben brutal am Scheiterhaufen beendet wurde.
Ich nehme in einem kleinen Kaffee mit grüner Marquise Platz. Ein Bier wird mich beruhigen. Es ist kurz vor drei Uhr. Die Apostelfiguren der astronomischen Uhr gegenüber beginnen sich zu bewegen und die mystischen, steinernen Gestalten seitlich des Ziffernblatts erscheinen. Es sind der Tod, der bis in die Unendlichkeit seine Sanduhr bedient, und der so genannte „Türke“ als Sinnbild der sündigen Wollust. Ich bin froh, dass die Zeiten der Vorurteile und Verfolgung Andersdenkender in unserer Zeit der Vergangenheit angehören. Obgleich ich mir nicht ganz sicher bin. Das kalte Bier beruhigt mich tatsächlich. Eine Stunde noch. Ich beschließe, heute noch nichts von meiner Homosexualität zu erzählen. Die Angst vor seiner Reaktion ist sicherlich ebenfalls ein Grund, warum ich ihn nie aufgesucht hatte. Sprach ich meine Mutter auf ihn an, reagierte sie meist gereizt. Oft gab es Streit zwischen uns. Irgendwann hatte ich aufgehört zu fragen. Ich bestelle mir ein zweites Bier und stecke meine Hand wieder in die Hosentasche, um mit meiner ständig wachsenden Unruhe fertig zu werden. Prag ist also jene Stadt in der sich meine Zukunft verändern wird. Unveränderlich steht sie über Jahrhunderte wie ein Bollwerk und lässt die Menschen in ihren Gassen gewähren. All das Glück und die Tragik der Menschen, nimmt sie ungefiltert und unbeteiligt in sich auf. Ewig schon rotieren die Figuren um das Ziffernblatt. Der getrocknete Schweiß auf meinem Rücken beginnt zu jucken. Ich rieche bereits selbst den süßlichen Gestank, der meinen Achselhöhlen entweicht. Es ist mir peinlich, meinem Vater so zu begegnen, aber auf der anderen Seite wird dies nicht unser letztes Treffen bleiben, jetzt da wir uns endlich wieder gefunden haben. Am Tisch rechts von mir beobachte ich halb neugierig, halb aus purer Gewohnheit ein junges Touristenpärchen. Er küsst sie auf die Stirn direkt unterhalb ihres blonden Haaransatzes und streicht liebevoll über ihren geschwollenen Schwangerschaftsbauch.
Als Homosexueller werde ich meinem Vater wohl niemals einen Stammhalter bieten können! Er wird enttäuscht sein, wenn er es erfährt. Ich ziehe die Schachtel mit den Beruhigungspillen aus meiner achtlos über die Lehne geworfenen Sakkotasche und gönne mir zwei Kapseln, die ich gemeinsam mit einem weiteren kühlen Bier schwungvoll einnehme.

Plötzlich rüttelt etwas an meiner Schulter. Erschrocken zucke ich zusammen. „Ich freue mich so dich zu sehen!“ Ich erkenne ihn sofort. Er trägt braune Schuhe, eine graue Leinenhose und dazu ein verwaschenes, blaues Kurzarmhemd. Vertraute Geborgenheit durchflutet meinen Körper als er mich in die Arme nimmt. Ab heute wird alles gut. Nichts wird so bleiben wie es war. Ich werde nicht mehr der vaterlose Bettnässer meiner Kindheit sein. Dieser einsame, schwule Tablettenfresser zu dem ich geworden bin. Ich habe einen Vater.
Wir setzen uns seitlich, zueinander gewandt an meinen Tisch. Es ist kurz vor vier Uhr. „Wie geht es dir Petr? Hast du eine Freundin? Hast du vielleicht Kinde…“

Das durchdringende, ohrenbetäubende Krachen vom gegenüberliegenden Rathausturm lässt kein Gespräch mehr zu. Einzelne Ziegel aus der Spitze des Turms fallen zu Boden. Die Menschen unterhalb des bedrohlich schwankenden Turms kreischen und laufen durcheinander. Die Zeiger schiessen wie messerscharfe Pfeile in Richtung der aufgelösten Menschenmenge. Das Ziffernblatt zerplatzt mit einem ohrenbetäubenden Knall und schießt seine Splitter wie tödliche, gläserne Schrapnelle, über den gesamten Platz. Einige davon rasen laut zischend, dicht an meinem Gesicht vorbei. In meinem Schoß und entlang meiner Beine, spüre ich jenes verhasste, widerliche Gefühl von warmer Flüssigkeit, welches mich meine gesamte Kindheit hinweg begleitet hatte.

Ich kann noch beobachten, wie der herabstürzende wollüstige Prager Türke, mit steinerner Wucht der jungen, blonden Frau den Schädel spaltet, bevor ich mich verängstigt zu meinem Vater wende. Zusammengesunken liegt sein Oberkörper quer über den Tisch und droht in meine Richtung abzurutschen. Sein Kopf hängt leicht vornüber geneigt, leblos über der Tischkante. Das Blut quillt pulsierend aus der klaffenden Öffnung seines Schädels und sammelt sich warm und feucht im Schritt meiner Cordhose. Entsetzt springe ich auf. Mein Vater ist tot. Getötet von dem Wahrzeichen jener Stadt, der er schon vor Jahrzehnten sein Leben und seine Familie geopfert hatte. Prag.

 

Hallo reinhard

Beim Einstieg war mir, ich stiege in eine muffig vergangene Zeit ab, aber es waren wohl nur die Assoziationen, welche mir Prag und Jan Hus aufkommen liessen. Ab der Wiener U-Bahn, als ich dort war gab es diese noch nicht, stellte sich mir eine Spannung ein. Der Knäuel gab seinen roten Faden her, eine mehr oder weniger ungewollte Identitätssuche des Protagonisten eröffnete sich da.

Aus meinem Spiegelbild im Schaufenster blickt mich ein müder alter Mann mit erschöpften Augen an, dessen Körper in altertümlichen Lederschuhen, Cordhose und Cordsakko steckt. Die Haare kinnlang und ungepflegt zur Seite geworfen. Das Gesicht unrasiert und faltig. Mit meinen einunddreißig Jahren, sehe ich aus wie die Karikatur eines altmodischen Rentners.

Sehr Sympathisch, diese Karikatur des Prot. Es rückt das Bild, welches ich mir von ihm machte in ein präziseres Umfeld.

In den letzten zwei Abschnitten dann der dramatische Stilbruch, eine abstrakte Wende. Die Unfähigkeit zu Lieben, war mein erster Gedanke. Absurd diese Buchtitelassoziation, und doch drückt es damit das aus, was beim Protagonisten seine nicht zugelassenen Zweifel sein könnten. Ist die Geschichte zu Ende? Oder ist es der Fantasie des Lesers überlassen, ob die Wahrnehmung dem Prot. hier nicht einen Streich spielte? Ich denke mir Letzteres, ansonsten wäre es zu krass, die Horror-Pointe zu konstruiert.

Gern gelesen.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

Vielen Dank für dein Feedback! Finde es immer sehr spannend zu sehen wie eine Geschichte auf andere Menschen wirkt. Insofern ist auch sicherlich deine Assoziation völlig legitim. (Und nicht unbeabsichtg :-) ). Daher auch innerhalb der geschichte der versuchte Aufbau einer Person die von sich selbst immer mehr die Selbstzweifel preisgibt. Bettnässen als Tabu, Homosexualität als erlebte Ausgrenzung, Verlust des Vaters, Selbstwahrnehmung seines Erscheinungsbildes...

Um deine Frage zu beantworten: Ja, die Geschichte ist zu Ende. Und ja, es ist der Phantasie überlassen ob die Szenerie sich so zuträgt. Die Intention meinerseits war es allerdings zu versuchen die interne Zerissenheit des Moments -also lediglich die Gefühlswelt des Augenblicks- für den Leser empfindbar zu machen. Die Situation verbreitet Schrecken und Panik. Am Ende verliert er abermals seinen Vater. Eventuell alles Zweifel und Gefühle die ihn zu diesem Zeitpunkt berühren.

Nochmals vielen lieben Dank,
reinhard

 

Hallo reinhard

Deine Deutung der Apokalypse des Protagonisten setzt mir den roten Faden abschliessend und plausibel fort. Danke für die Erläuterung.

Amüsanter Weise hatte ich beim Lesen einen freudschen Versprecher als Gedanke, den ich als Unfähigkeit zu Lieben formulierte. Tatsächlich lautet der Buchtitel von Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu Trauern. An sich ist es jedoch wieder stimmig, mit dem was du aussagst.

Gruss

Anakreon

 

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