Prinzessinnenwelt
Alleine und verlassen stand sie da, schaute in die dunkle Tiefe und hatte nur den einen Gedanken: Fliegen möchte sie, und sich frei fühlen, so frei wie ein Vogel. Springen möchte sie, sich weit in die Tiefe hinunterstürzen, sich den Wind ein letztes Mal durch die Haare wehen lassen und beim Aufprallen einfach sterben. Doch während sie fällt, möchte sie frei sein, frei wie ein Vogel.
Alles war immer so gewesen, wie ich es wollte. Alle haben gemacht, was ich wollte. Von allen hatte ich die Aufmerksamkeit. Das war es, was ich liebte, was ich brauchte. Ich war es einfach gewohnt, dass alles so lief, wie es mir gefiel. Wollte ich etwas, ging es nie lange, und ich hatte dieses Etwas. Es war normal für mich, dass ich alles bekam, was ich mir wünschte. Ich war ein reiches Kind und wurde von meinen Eltern geliebt und verhätschelt. Es war perfekt. Perfekt für mich. Doch dann kam sie. Sie, meine kleine Schwester. Kaum erblickte sie das Licht der Welt, richteten sich alle Augen nur noch auf sie. Sie war klein, süss und unschuldig. Aber ich war schon lange nicht mehr klein oder süss. Ich war grösser geworden, wurde langsam zu einer jungen Frau. Alle wollten bloss meine kleine Schwester sehen. Jeder wollte das kleine süsse Baby bewundern. Jetzt sass sie auf meinem Thron. Nur noch sie wurde mit vielen Geschenken überhäuft. Was war mit mir? Ich war doch auch noch da. Niemand aber nahm mich mehr richtig wahr.
Ich brauchte Aufmerksamkeit. Ich wollte auch verwöhnt werden. Das konnte man mir nicht einfach so wegnehmen. Ich bin so aufgewachsen mit dem ganzen Getue von allen um mich herum. Doch jetzt war alles anders, und ich war nichts mehr wert. Alle Privilegien, die ich hatte, genoss jetzt die Kleine. Ich hasste und liebte meine Schwester zugleich. Sie bestand zwar aus demselben Blut wie ich, aber sie hatte mir meinen Platz weggenommen, meine Welt. Ich fühlte mich gefangen wie in einem Kerker. Meine Prinzessinnenwelt war endgültig zerstört worden von meiner kleinen Schwester, die eigentlich gar nichts dafür konnte. Sie brauchte diese ganze Aufmerksamkeit um sich herum, sie war klein und zerbrechlich. Darum war sie auch auf die Hilfe von Erwachsenen, also diejenige meiner Eltern angewiesen. Weder trinken noch essen konnte sie selber oder sich selbst versorgen.
Ich wusste, dass jedes Neugeborene zu Beginn vollkommen umsorgt werden muss, sonst könnte es gar nicht überleben. Am Anfang verstand ich es noch einigermassen, dass ich nicht mehr so viel Beachtung erhielt wie früher. Ich glaubte wirklich, dass dieses Theater um meine Schwester wieder aufhören würde, sobald sie grösser wäre. Mit dieser Einstellung lag ich vollkommen falsch. Die Zuwendung und das Verhätscheln von meinen Eltern bekam ich endgültig nicht mehr. Sie halfen mir nicht einmal bei meinen Hausaufgaben. Das grösste Problem war für mich jedoch, dass ich älter und reifer werden sollte, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte. Ich lehnte mich dagegen auf. Lieber wollte ich wieder klein sein, von Aufmerksamkeit und Zuneigung umgeben. Doch in meiner Prinzessinnenwelt war jetzt meine Schwester, die von allen umsorgt und natürlich auch verwöhnt wurde. Sie stahl mir meinen Platz, den ich immer so liebte, und so veränderte sich mein ganzes Dasein.
Was sollte ich dagegen tun? Ich bekam zwar immer noch alle Dinge, die man kaufen konnte. Aber die nötige Aufmerksamkeit, die ich gebraucht hätte, war nicht mehr da. Niemand kümmerte sich mehr um mich. Nun konnte ich zwar tun und lassen, was ich wollte. Ich feierte auf jeglichen unseriösen Festen bis zum Umfallen, kam manchmal tagelang nicht nach Hause, schwänzte die Schule und bekam dadurch auch immer schlechtere Noten. Ich rauchte und kiffte und tat alles was, man eigentlich nicht tun sollte. Es schien mir die einzige Möglichkeit, von meinen Eltern wahrgenommen und beachtet zu werden. Aber es war nicht die Aufmerksamkeit, die ich mir zurück wünschte. Bei all diesem Selbstmitleid um meine verlorene Prinzessinnenwelt kamen langsam die Drogen ins Spiel. Ich konsumierte sie nun täglich. Das Geld, um sie zu bezahlen hatte ich ja. Doch anstatt zu helfen oder mir Grenzen zu setzen, schickten mich meine Eltern weg. Einfach weg. Sie wollten mich so nicht mehr als Tochter haben. Sie wollten mich nicht mehr. Niemand wollte mich mehr.
Nun stand sie alleine und verlassen am Abgrund und starrte in die Tiefe. Dachte nur daran: Fliegen möchte sie und sich frei fühlen, so frei wie ein Vogel. Springen möchte sie, sich weit in die Tiefe hinunterstürzen, sich den Wind ein letztes Mal durch die Haare wehen lassen und beim Aufprallen einfach sterben. Doch während sie fällt, möchte sie frei sein, frei wie ein Vogel.
Doch plötzlich kehrte sie dem Abgrund den Rücken zu und schritt davon.