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Professor Gott
Draußen war natürlich ein Wetter wie im Paradies. Den Staat sollte man dafür loben, denn er war es, der das Geld des Steuerzahlers in entsprechende Aufträge an inländische Wetterfirmen investierte, welche durch ihre Arbeit, als Bonus sozusagen, auch gleich das Ozonloch in das geschwächte Europa abschoben. Unsere Wirtschaft sollte gedeihen, sagte man sich, und das Wetter spielte da eine wichtige Rolle: Bei Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen schüttet das menschliche Gehirn verstärkt Glückshormone aus, und so verzeichnete sogar die Bundesbehörde für Statistik einen rapiden Anstieg an Konsum und Handel.
Bei einem Haus auf der kalifornischen Steilküste jedoch waren die schweren Vorhänge zugezogen. Sein Bewohner machte aber kein Ausflug, dafür hatte er keine Zeit und auch keine Lust. Es handelte sich nämlich um einen - indischen - Wissenschaftler, oder vielmehr um einen indischen gekündigten Havard-Professor, von dem nicht mal die Spione wissen, wo er die Mittel für seine zweifelhaften Experimente herbekommt.
Zweifelhaft war zum Beispiel das wandfüllende Plakat mit einem Periodensystem, das circa elfhundert Elemente kannte, oder der schwarze, durch ein Breitbandkabel mit einem Computer verbundene Kasten in einer Ecke des Labors, den man getrost mit einem Getränkekühlschrank verwechseln konnte. Zweifelhaft ebenfalls dieser eigenartige, gläserne Brutzylinder: Wollte der Professor ein Kind? Vielleicht ein Monster für eine Weltdiktatur?
An diesem Mann bissen sich die Geheimdienste die Zähne aus. Aber eigentlich war diese Metapher ungeeignet. Kein Agent hatte es zwar je geschafft, Licht in das Mysterium des Professors zu bringen, obwohl es ihm an Einbruchsmethoden nicht mangelte. Aber jeder Agent beteuerte, zurückgekommen, es wäre sowieso zwecklos und er hätte einfach keine Lust, einem harmlosen, zerstreuten Professortypen nachzustellen, mochte er am Anfang noch so erpicht auf diesen Auftrag gewesen sein. Bestechung vonseiten des Mannes durfte ausgeschlossen sein. Die Geheimagenten ließen sich wahrlich nicht bestechen, wurde ihnen doch ein Honorar in Aussicht gestellt, bei dem sogar Bill Gates blass geworden wäre.
Mit Karacho flog die Labortür auf und donnerte gegen ein Reagenzglasregal, dass dem Wissenschaftler daraufhin ein schönes Ständchen spielte. Im Türrahmen konnte man aus der Dunkelheit des Labors heraus die fäusteballende Silhouette eines etwas kleingebliebenen, schmächtigen Männchens ausmachen, welches still und stumm dastand, bis wieder Ruhe einkehrte. Dann schlich es am Lichtschalter vorbei zu einem Tischchen, das von bläulich klammen Neonstrahlen erleuchtet wurde. In dasselbe Licht tauchte sich auch das hagere Gesicht des bebrillten Professors. Ein Computerbildschirm erwachte aus dem Stromsparmodus und zeigte einen Fortschrittsbalken bei hundert Prozent. Ein geflüstertes "Super!" quälte sich durch die stickige, doch sauerstoffreiche Raumluft.
Der Professor ging vielleicht immer auf diese Weise, die durchaus seine unfreiwillige Abschottung, ja sogar die Kündigung, erklären könnte. Jetzt zum schwarzen Kasten in der Ecke, dessen Klappe er öffnete. Dann wieder zurück zum Tischchen, wo er eine kleine rechteckige Schale in den Sensor des Rasterelektronenmikroskops stellte. Der Bildschirm blendete ab und zeigte dann eine mattgraue Fläche der Langeweile. Die Hand des Mannes flog nur so über die Tastatur, um die Nano-Optik zu justieren. Dann prangte in der Mitte des Schirms ein Punkt, etwa in der Größe einer Vierteldollarmünze, und so tiefschwarz, als wäre sein Farbwert nicht etwa null, sondern negativ. Der Professor lächelte.
Er nahm das Schälchen wieder aus dem Sensor heraus, und schritt zum Brutzylinder. Man konnte beinah das Echo seines heroischen, schelmischen Tapf-tapfs hören. Er öffnete ihn und stellte es auf die kleine Bare.
Dann wurde es still. Von irgendwoher kam das Tropf-tropf eines anderen Versuchs. Der Professor schien in sich versunken, oder vielmehr hadernd und angespannt, denn er atmete schnell und unregelmäßig. Er starrte auf einen bräunlich von innen erläuchteten Faustknopf. Nach einer Weile hatte er sich wohl etwas anders überlegt und schaltete das Deckenlicht ein. Seine Finger flogen wieder über die Tastatur, schienen dem Computer einen Befehl zu geben, denn der Getränkekühlschrank begann sanft zu surren. Wieder erschien ein Balken, der zügig in die Länge wuchs.
Abermals ging er zu dem schwarzen Kasten hinüber, brachte diesmal jedoch etwas Größeres zu Tage: ein Sandwich, belegt mit Ideal-Schinken. Der Professor setzte sich, umgriff es und biss hinein.
"Dies ist also mein Tag", sagte der Professor, kauend, langsam und beschwörend vor sich hin. "Was ist das nur für eine komische Natur, welche einen Fehler von solch einer Tragweite begehen konnte! Wir haben sie immer so verehrt. Während wir ihr ein Lied der Lüge in den Hintern flüsterten, sind wir doch, wir albernen Zwerge, bald sehr hoch aufgestiegen. Und irgendwann waren wir es, die Natur. Die Natur selbst ging unter.
Ich hoffe für sie, dass es schnell geht. Ich gönnte es ihr vom ganzen Herzen.
Doch was ist der Wissenschaftler? Was? Hast Du ihn nicht zum Sklaven seiner eigenen Neugier gemacht, liebe Natur?
Ich sehe, ich sehe schon: Du bist gar nicht da. Dich hat es nie gegeben, nie und nimmer. Der Mensch hält sein eigenes Schicksal in der Hand; schlägt es tot.
Niemand hat ihn erschaffen. Gott gibt es gar nicht. Er, der Mensch, ist aus Affen hervorgegangen, einem einfachen Tier. Und es, das Tier, findet seinen Urspung bald in einem Ursuppe saufenden Einzeller, der schlecht daran tat sich in ein solches zu verwandeln.
Der Einzeller wird zu Tier und Pflanze, das Tier wird zum Menschen. Und gerade ihm ward es überlassen, das Spiel im Nichts zu erfahren. Zu lernen, dass das Leben in seiner Stumpfheit am Ende nur eine Nullsummenspielerei der Chemie ist. Warum ist gerade der Mensch so klug, dass zu kapieren? Warum?!
Natürlich haben wir uns viel auf unsere Majestät eingebildet. Wir gruben nach Öl. Damit es uns die Kamele nicht wegsaufen, wie? Nein, freilich nicht, ich weiß ja. Vielmehr, damit wir 'reich' werden! Uns an dem glitzernden Anblick des Geldes erlaben können! Tja, das Geld: Gedeih und Verderb in Metall gegossen.
Sehr bald haben wir den Sinn unserer Existenz erfahren: In der Lage zu sein, allem Leben ein Ende zu setzen. Ein ganz unmoralischer Gedanke, nicht? Haben wir unser eigenes Grab geschaufelt, so müssen wir es auch gebrauchen dürfen! Ein wichtiger Grundsatz unserer eiernden Wirtschaft lautet nämlich: Produziere nur, was du auch verbrauchst.
Der Augenblick ist gekommen. So ich diesen Knopf drücke, wird dies die aller Dinge letzte Handlung sein. Der allerletzte Akt unserer Welt. Auf dass es mir gelinge!"
Der Professor steckte den letzten Bissen seiner aus Energie kompilierten Mahlzeit in den Mund. Er schob die Schublade unter seinem Tisch hervor, brachte einen Colt zum Vorschein und legte ihn neben sich, sozusagen als zweites Eisen im Feuer. Ehe er aber auf den Pilz schlug, blickte er noch ein letztes Mal auf das Foto an seiner digitalen Pinnwand. Es zeigte ihn, gerade geboren.
Das Licht des Knopfes erlosch, es wurde von nun an nicht mehr gebraucht. Im Brutzylinder begann ein kleines Pünktchen rot zu erglimmen. Es schwebte frei herum und wurde immer größer, fetter. Das Glimmen war am Ende nur seine Korona, der Punkt selbst war schwarz. Tiefschwarz. Sein Wachstum beschleunigte sich, wurde immer schneller. In ihm begann es zu kräuseln. Die Korona zog Fäden.
Der Punkt war hungrig: Er verschlang den Professor, aber satt war er noch nicht. Er verschlang sein Labor, aber satt war er noch nicht. Er verschlang sein Haus, aber satt war er noch nicht. Er verschlang seine Heimat, aber diese genügte ihm nicht. Er verschlang den Pazifik, doch genug war es noch immer nicht.
In ihm bildeten sich schon unendlich kleine Energieteilchen.
Auch die Erde genügte ihm nicht. In ihm bildeten sich schon erste Wasserstoffatome. Die Sonne genügte ihm nicht. Die Milchstraße genügte ihm nicht. In ihm bildeten sich schon kleine Gravitationsfelder. Der Galaxien genügten ihm nicht.
Das Universum war ihm genug.
Myriaden von Zeitaltern ist des Professors Universum alt, zählt schon Milliarden von Galaxien, Billiarden Sterne. Und irgendwo in einem seiner hintersten Winkel gibt es eine Spiralgalaxie. Und diese Spiralgalaxie beherbergt irgendwo in einem ihrer äußeren Arme einen Stern, der im Kern eine Temperatur von etwa sechs Millionen Grad Celsius aufweist. Dieser Stern sammelt allmählich neun stattliche Brocken um sich herum an. Einer von ihnen eiert noch ungeschickt auf seiner Bahn herum, wird aber bald ruhiger und auch auf seiner Oberfläche erlöschen allmählich die Vulkane. Doch was diesen Planeten so besonders im Umkreis von etwa fünf Milliarden Lichtjahren macht, ist, dass seine Athmosphäre sauerstoffhaltig ist und über Wasser verfügt, das sich bald an seiner Oberfläche ansammelt. Moleküle bauen sich langsam auf, werden immer komplizierter, aber kommen nicht aus diesen einengenden Ursuppentropfen heraus. Bleiben eingeschlossen; müssen sich arrangieren. Verbinden sich zu mikroskopisch kleinen Maschinchen, weil sie nichts anderes zu tun haben. Diese Maschinchen organisieren sich. Eine hat gelernt, dass Wissen der anderen zu speichern, damit man für Notfälle auf die Informationen zurückgreifen kann. Wieder andere kleine Dinger können aus diesen Informationen neue Sachen bauen. Irgendwann wird man müde und sagt sich: Verteilen wir die Arbeit doch auf zwei. Man teilt sich.
Mit der Zeit entsteht ein wahrer Konkurrenzkampf zwischen den Tröpfchen. Man selbst will besser sein als alle anderen, denn man muss schließlich überleben. Doch bald kommt man auf die Idee, Verbände zu bilden. So verteilen die Ursuppentröpfchen schließlich die Arbeit auf mehrere von ihnen. Man verteilt auf zweiunddreißig. Man verteilt auf vierundsechzig. Man verteilt auf eintausendfünfhundertzweiundneunzig.
Am Ende gelingen sogar Verbünde von zwölf Billiarden Mitgliedern. Da haben sich allerdings schon längst Untereinheiten gebildet, schließlich kann ein einziges Mitglied schlecht eine ganze gebratene Schweinehaxe verdauen.
Trotzdem gibt man sich immer noch nicht zufrieden. Man will nämlich immer noch gewinnen. Ganz klar, die eigenen Mittel reichen dazu nicht aus. Das Feuer muss entdeckt werden, um die anderen zu blenden. Das Rad muss erfunden werden, um den anderen davonzufahren. Das Wort muss gesprochen werden, um Geheimnisse zu schmieden.
Zu all diesen Sachen ist allerdings nur eine einzige Art Verband in der Lage. Sonst wäre es ja nicht gerecht, denn diese eine kann weder besonders schnell rennen, noch sich unter Wasser unterhalten, noch kann sie außerordentlichen Bedingungen standhalten.
Diese Art Ursuppentröpfchen-Verband nennt sich übrigens "Mensch" und stellt sich ihrer Natur getreu über alle anderen Arten, trennt sich ab von den "Tieren".
Das "Mensch" wird schnell von der Langeweile geplagt, denn das "Tier" stellt keine nennenswerte Herausforderung für es mehr dar. Darum sagt es sich: "Ich will besser sein als alle anderen Menschen."
Gesagt, getan. Zäune werden gebaut, Waffen geschmiedet, Gifte gebräut. Lügen ersonnen, Kriege ausgerufen, Sklaven eingekeschert. Um die kleinen Fehler, die nebenbei gemacht werden, kümmert es sich nicht weiter.
Dann besinnt es sich. Es staunt sogar selbst darüber.
Es findet zunehmend Freude daran, anderen seiner Art die Hand zu reichen. Und siehe da, diese anderen geben die Hand zurück! - Was tut es? Es gewöhnt sich dran. Doch wehe dem, der dieser Gewohnheit trotzt. Was tut es dann? Es zahlt's mit selber Münze heim.
Übrigens ist diese, die Münze, bald der wahre Liebling von "Mensch". Es sagt sich nämlich, was arbeitet, verdient sein Glück. Und ja, es soll auch keine Rolle spielen, worin die Arbeit besteht. Hauptsache, es bekommt sein Geld, in Metall gegossenes Glück. Am Ende ist es gewiss gleich, ob es als Arbeiter am Band steht, oder ob es sich einen Jux daraus macht einen solchen hin und wieder selbst auf die Straße zu setzen. Am Abend darf es sich beidenfalls an den fraulich gedeckten Dinnertisch begeben.
Noch etwas kann es mit dem Gelde anstellen: Es kann es zur Bank bringen und "sparen". Zum Beispiel für eine Hologrammkamera, denn auch Bilder berühmter Persönlichkeiten bringen viel Geld, das es wiederum in eine zweite Hologrammkamera investieren kann.
Um Bilder von berühmten Menschen zu bekommen, kann es sich zweier Methoden bedienen: Die erste: Es knipst aus dem Hinterhalt. Die zweite: Es gibt ein Interview. Dazu sollte es freilich ein hochdotiertes Objekt kennen, zum Beispiel die erste schwangere Mutter seit hundertfünfzig Jahren. Wenn das kleine Naturschlupfmensch groß ist, es sich selbst in der Zeitung aus dem Archiv wiederfindet, als ein ganz kleines süßes Ding, zumal ein ganz besonderes unter den 23,6 Milliarden Brutmenschen von anderthalb Jahrhunderten, wie großartig müssen seine Freude und sein Stolz dann sein. Außerdem stellen intime Fotoalben doch einen konservativen Vorenthalt gegen das Weltwissen dar!
Völlig außer Atem fragt das Fotojournalist erst einmal bei der Rezeption nach, wo sich das Objekt seiner Begierde befindet. Die Fotolizenz wurde schon im Voraus erworben. Es hat kaum das ID-Ticket für Zimmer 1636 in die Hand bekommen, da hastet es schon zum Fahrstuhl.
Als es eintritt, ist leider schon alles vorbei. Doch für ein Foto ist die indische Mutter und ihr indisches Baby gewiss bereit.