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Professor Kuhnfisch und das Hühnerfrikassee
Professor Kuhnfisch hustete ausführlich, aber das änderte nichts an der wüstenhaften Beschaffenheit seines Halses. Mit einem staubigen Stöhnen erhob der greise Physiker sich, öffnete den obersten Knopf seines karierten Hemdes und nahm den Weg zum Kaffeeautomaten in Angriff. Er wollte gerade nach der Klinke seiner Bürotür greifen, als ihm diese energisch in die Rippen gerammt wurde. Mit aus den Höhlen tretenden Augen prallte der Professor zurück und taumelte, versuchte, sich am rieselnden Weihnachtsbaum festhalten, den seit zwei Monaten niemand weggeräumt hatte. Im letzten Moment griffen fünf rot lackierte Fingernägel kompromisslos nach seinem Arm und hielten ihn aufrecht. Die Schwerkraft zuckte die Achseln und wandte sich ein paar Schneeflocken draußen auf dem Campus zu, die vergessen hatten, in welche Richtung sie sich zu bewegen hatten.
»Aber Herr Professor, tun Sie sich doch nicht weh!«
Des Kuhnfischs Sekretärin, ein ewig 39-jähriger, rotblonder Kompromiss namens Maren Jamer, rückte den Weihnachtsbaum zurecht, versuchte einige Nadeln wieder an die Äste zu stecken und provisorisch mit Lametta festzubinden. Der Professor ächzte und versuchte erneut, sich einen Weg zur Kaffeemaschine zu bahnen. Allerdings hatte ihm das Schicksal noch einen weiteren Felsen in den Weg gelegt.
»Die Hühner sind da«, sagte Frau Jamer nämlich in diesem Moment.
Kuhnfisch wollte zuerst »wie schön« entgegnen, was er immer tat, wenn Frau Jamer ihm eine Nachricht überbrachte, aber er entschied sich dagegen, weil nur ein Krächzen heraus gekommen wäre. Also lächelte er nur unverbindlich, machte einen Schritt und noch einen zweiten. Dann prallte er – nein, nicht gegen eine weitere Tür, sondern gegen die seit einigen Sekunden im Raum schwebenden Wörter. Er fuhr herum und keuchte: »Hüh-kchrrrr?«
Beantwortet wurde diese kaum ausgesprochene Frage wenige Sekunden später von einem schüchternen Gackern, das aus den Armen des heran eilenden Doktor Rüdiger Züllmann kam, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter schon Großes für das Institut geleistet hatte, aber mit der Handhabung einer lebendigen Henne offenkundig völlig überfordert war.
»Herr Professor«, sagte Züllmann, »die Hühner, die wir offenbar bestellt haben, sind eingetroffen.«
Physikprofessoren sind weltweit bekannt für ihre Vorlieben für graue Struwwelfrisuren, karierte Hemden und haarsträubenden Selbstversuche, keineswegs aber schreibt man ihnen gewöhnlich große Geistesgegenwart zu. Nun, die Leser werden die folgende Reaktion von Professor Kuhnfisch schon korrekt einordnen. Der hielt es nämlich für vollkommen unangemessen, von einer Falschlieferung oder Ungenauigkeit in einer Labormaterialbestellung auszugehen, schließlich funktionierte die Schwerkraft ja auch nie versehentlich nach oben.
»Schön, Züllmann«, sagte der Professor daher mit einer freundlichen Geste, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, warum ihm Hühner geliefert wurden, »dann seien Sie so gut und kümmern sich um sie, ja?«
Damit ließ er den verdutzten Züllmann stehen, der zuerst hilflos Frau Jamer ansah und dann versuchte, seine Brille zurecht zu schieben, ohne das zufrieden gurrende Federvieh in seinen Armen loszulassen. Dabei rutschte eines der Hühnerfüßchen durch seine rechte Hand, der Federbalg verlagerte sich, das Huhn vermied sofortiges Hinunterfallen aber problemlos, indem es sich in Züllmanns Bizeps festbiss.
»Aaaaah! Aaaaah! Aaaaah!«
Züllmann fuchtelte mit dem Arm, das Huhn flatterte, erwischte den Weihnachtsbaum, warf ihn um, die Jamer sprang ihm zu Hilfe, verhedderte sich in einem Zeitschriftenstapel und hielt sich an Züllmann fest, als sie mit ihren High Heels umknickte.
Als Professor Kuhnfisch glücklich mit einer Kaffeetasse zurückkam, gab seine Sekretärin gerade nachdrücklich Züllmann die Schuld am zerstörten Weihnachtsbaum, ihrem abgebrochenen Absatz und dem Hühnerscheiß auf ihrer Bluse.
»Ich bin im Labor«, sagte Kuhnfisch und spazierte davon.
*
Selbstversuche – pah! Kuhnfisch hielt nichts von diesen Phantasmen. Ansonsten wäre er kaum 63 Jahre alt geworden. Zur Genialität eines Physikers gehörte es eben auch, die eigene Lebenszeit zu verlängern, indem man die gefährlichen Experimente den Studenten überließ. Selbstversuche – Unfug! Kuhnfisch fragte sich manchmal, was zuerst da gewesen war: Uninspirierte Science-Fiction-Autoren, in deren Geschichten geniale Physiker mit Selbstversuchen sich und manchmal auch den Rest des Universums auf Knopfdruck austilgten oder damit beschriebene, wirkliche Physiker. Wer hatte da bei wem abgeschaut? Was war zuerst da gewesen, die Henne oder das Ei?
Nun, Kuhnfisch legte Wert darauf, dass seine Person, seine Frisur und seine karierten Hemden unbeschädigt blieben. Da kam die irrtümliche Hühnerlieferung gerade zur rechten Zeit.
Der Professor trug seinen Kaffee ins Untergeschoss zum Labor, vor dem in mehreren Käfigen das gackernde Federvieh abgesetzt worden war. Kuhnfisch stellte seine Tasse auf den ersten Käfig und wurde dafür von den Insassen misstrauisch beäugt.
»63 Jahre«, sagte Kuhnfisch zu sich selbst, während er nicht ohne Mühe den Käfig samt Inhalt und Tasse anhob und ins Labor schaffte. Die vier Hühner, die in diesem Käfig hockten, hätten die Laboreinrichtung möglicherweise für eine besonders innovative Schlachtanlage gehalten, wenn sie gewusst hätten, wie eine solche ausschaut – gewöhnlich bekommen Hühner in dieser Hinsicht nicht die Gelegenheit für ein Déjà-Vu. Also gackerten sie nur etwas unsicher vor sich hin.
»Es wird Zeit für ein zweites Leben«, ergänzte Kuhnfisch. Er vergewisserte sich noch einmal, dass der Käfig an der richtigen Stelle stand, drehte sich um, erinnerte sich an etwas und nahm die Kaffeetasse an sich. Dann nahm er einige Einstellungen an Drehreglern und Schaltern vor. Eine Digitalanzeige leuchtete auf und begann, von 60 Sekunden rückwärts zu zählen, was James Bond sicher dazu gebracht hätte, in Ruhe nach einer hübschen Kollegin Ausschau zu halten, um sich später um die Bombe zu kümmern.
Kuhnfisch zog sich bis an die Tür des Labors zurück und beobachtete den Käfig, während er mit feuchten Händen seine Kaffeetasse festhielt. Als die Uhr bei 10 Sekunden angekommen war, fing sie an, im Sekundentakt zu piepsen, was die Hühner mit neugierigen Blicken und unsicherem Scharren erwiderten. Nach dem zehnten Piep ging eine ziemlich helle, blaue Lampe über dem Käfig an. Die Hühner fingen nervös zu gackern an. Ein Generator summte energisch. Professor Kuhnfisch sah angestrengt hin und suchte nach Anhaltspunkten für die Wirkung seines Experiments. Tatsächlich: Wenn man genau hinschaute, schien es, als würden die blau beleuchteten Hühner schrumpfen. Und zwar immer schneller. Nach kurzer Zeit hatten sie auch ihre Farbe geändert und sahen aus wie Küken. Der Professor fing an, glücklich zu strahlen. »Jetzt müsste eigentlich jeden Moment Schluss ...« Richtig, einen Augenblick später hatten sich die Küken in Eier verwandelt. Kurz erlosch die blaue Lampe, exakt zum eingestellten Zeitpunkt.
Professor Kuhnfisch entspannte sich. Dabei stellte er fest, dass er die Kaffeetasse versehentlich schief gehalten und auf den Boden entleert hatte.
»Das kann später jemand wegmachen«, murmelte er. Zufrieden ging der Professor in die Mittagspause. Ironischerweise gab es in der Mensa heute Hühnerfrikassee.
*
Frau Jamer und Rüdiger Züllmann suchten den Professor im Labor, fanden einen Klecks Kaffee auf dem Boden, die noch fröhlich vor sich hin summende Maschine und die Eier im Käfig. Doktor Züllmann setzte sein Huhn auf den Boden. Das schlief dort zufrieden ein. Die Jamer war nicht auf den Kopf gefallen und sah sich den Aufbau neugierig an. »Rüdiger, wissen Sie eigentlich, woran der Professor hier arbeitet?«
Züllmann rückte nervös seine Brille zurecht. »Ja, sicher. Er versucht, ein stabiles Rückwärts-Zeitfeld aufzubauen.«
Die Jamer dachte an die Hühner in den vor dem Labor stehenden Käfigen, dann sah sie zu den eingesperrten Eiern unter der großen, seltsamen Lampe. Dann wendete sie sich an Züllmann. »Sie kennen sich doch damit aus. Stellen Sie für mich zehn Jahre ein. Nein, warten Sie – elf. Noch einmal 29 sein ...«
»Sie sind erst 40 Jahre?«, staunte Züllmann.
»Das geht Sie gar nichts an«, keifte die Sekretärin.
»Wollen Sie wirklich ...«
»Fangen Sie schon an«, befahl Jamer, schob den Eierkäfig beiseite und setzte sich im Schneidersitz an dessen vorherigen Platz.
Züllmann, der sich mit fatalistischen Science-Fiction-Geschichten offenbar wenig auskannte, zuckte mit den Schultern, nahm einige Einstellungen vor und ging in Deckung. Vermutlich würde überhaupt nichts geschehen. Die Uhr lief rückwärts, piepte zehnmal, dann ging das blaue Licht an. Züllmann zwang sich, genau hin zu sehen, fummelte nervös an seiner Brille herum, machte einen Schritt nach vorn und trat dabei dem vor ihm schlafenden Huhn in den Hintern. Das flatterte empört kreischend hoch und landete auf der Bedientafel des Rückwärts-Zeitfeld-Generators und hielt sich an einem Einstellregler fest. Dabei wurde es von Ausläufern des Feldes erfasst, quiekte, flatterte verzweifelt Richtung Tür und verwandelte sich unterwegs rasant in ein Küken, das direkt vor Züllmann landete und ihn fröhlich anpiepste, in der Hoffnung, von ihm bemuttert zu werden. Züllmann riss verzweifelt die Augen auf. Die Maschine hätte sich längst abschalten müssen. Frau Jamer hatte sich mittlerweile in eine ziemlich unattraktive, gedankenlos glotzende Teenagerin verwandelt. Erst jetzt reagierte Züllmann und sprang vor. Die Jamer war jetzt ein kleines Mädchen, das schrumpfte wie ein altersschwacher Luftballon. Züllmann war an der Bedientafel angekommen, hantierte zitternd an einem Regler, spürte ein sonderbares Prickeln, fummelte bibbernd an einem Schalter, legte ihn endlich um, das blaue Licht flackerte noch einmal kurz und erlosch. Frau Jamer war verschwunden. Und Züllmann schob seine Brille zurecht und beschloss, die Sache positiv zu sehen. Er war jetzt ein vorlauter Elfjähriger, der in Kürze die Onanie entdecken würde.