Prolog
Juli 1988
Die Straßen stanken nach abgestandenen Essensresten. Hier und da verschwand ein Kind, während der immerzu lärmende Verkehr unaufhaltsam seine Kontinuität wahrte.
Auf den großen Plätzen wimmelte es von Menschen. Einige hatten ein Eis in der Hand, weil das Wetter zum Schwitzen anregte, andere wiederum lagerten sich um den kleinen Stadtbrunnen und ließen hechelnd ihre Zungen über dem Wasser hängen.
Es war ein gewöhnlicher Tag in einer gewöhnlichen Stadt, umringt von den gewöhnlichen Geräuschen und dem Chaos des gewöhnlichen Lebens.
Nichts deutete darauf hin, dass Veränderungen drohten.
Magdalena Peters stand vor dem offenen Fenster und sah herab auf den dröhnenden Verkehr, in dem sie auch ihren Mann vermutete. Es war kurz vor zwölf Uhr und zwanzig Minuten, bevor die Kinder von der Schule kommen sollten, was wiederum bedeutete, dass noch zwanzig Minuten blieben, um das Essen fertig zu stellen. Für eine geübte Hausfrau und Mutter, wie sie es war, würde der Zeitdruck allerdings kein Problem darstellen.
Sie wendete sich vom Fenster ab und band sich ihre karierte Schürze um, steckte das Haar zu einem Zopf zusammen und wusch sorgfältig ihre Hände.
Begleitet von dem leisen Ticken der Küchenuhr machte sie sich schließlich an die Arbeit.
Die Zeit verstrich und das Gemüse lag in ordentlichen Päckchen zu mundgerechten Stücken geschnitten an der Seite, während auf dem Herd das Fleisch in seinen letzen rohen Zügen vor sich hin schmorte.
Der Tisch war längst gedeckt. Auf ihm stapelten sich saubere, weiße Keramikteller, an jeder Seite eine Gabel auf einer bunten Serviette und vier leere Gläser, die später gefüllt werden sollte.
An der Tür hatte es noch nicht geklingelt, obwohl es längst Zeit war, dass die Kinder heim kamen. Unbestreitbar verfiel Magdalena in Sorge, auch wenn nur fünf Minuten Verzögerung sie zu dieser Unruhe bewegten. Begleitet von dem Ticken der Küchenuhr lauschte sie ihrem ansteigenden Herzschlag, während aus fünf Minuten zehn wurden und sich ihre Wartezeit in ansteigendem, regelmäßigem Takt, immerfort verlängerte. Ebenso stärker, wie ihr Puls, wurde ihre steigende Panik. Die Panik einer Mutter, deren gewöhnlicher Zeitplan aus den Fugen geriet. Sie hatte das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Sollte sie zum Telefon greifen? Ihren Mann anrufen? Fast hätte sie sich selbst ausgelacht. Vermutlich war die Panik lächerlich, er würde über ihre überspitzte Sorge nur grinsen, wenn sie am Abend mit den Kindern gemeinsam am Küchentisch sitzen würden.
Sie musste noch den Kuchen backen. Zwanzig Minuten und kein Klopfen an der Tür, kein Klingeln. Die Stille im Raum machte sie schier verrückt. Auf dem Herd verbrannte das letzte Steak, das sie zuvor aufgelegt hatte. Sie roch den durchdringenden Duft von verkohltem Fleisch, der sie für einen Moment aus ihrem tranceartigen Zustand holte, schaltete rasch den Herd aus und verfiel erneut in Sorge. Und wenn nun etwas passiert war?
Draußen sangen die Vögel, ganz leise und kaum zu vernehmen, durch den rasenden Motorenlärm und das Geschrei der schwitzenden Menschen auf der Straße.
Eine zirpende Melodie, die etwas Unheilvolles an diesem gewöhnlichen Tag versprach. Sie passte einfach nicht hinein, in das gewohnte Schema, in die gewohnte Geräuschkulisse.
Nun konnte Magdalena nicht leugnen, dass etwas nicht stimmte. Etwas lief gewaltig falsch und die Ungewissheit nagte an ihr, während ihre Sorge wuchs und sie sich ständig dabei ertappte, wie sie abwechselnd zur Tür und zum Fenster schritt.
Gefangen in den vier Wänden ihres Zuhauses, umringt von den häuslichen Pflichten einer Mutter, fühlte sie sich plötzlich zum ersten Mal seit langem wieder verloren und hilflos.
Als das Telefon erklang und endlich ein Loch in die beklemmende Stille riss, sprang sie auf und folgte der nervig-fröhlichen Melodie.
„Hallo?“ Ihre Worte hallten zittrig und unverständlich durch den Hörer.
Am anderen Ende meldete sich grüßend die Stimme eines fremden Mannes. Er sprach sie beim Namen an, vergewisserte sich, ob er richtig verbunden war. Sie bestätigte.
Dann begann er höflich und einfühlsam zu erzählen. Sie folgte seinen Worten, versuchte sie zu begreifen und zu behalten, aber wann immer sie das Vernommene zu fassen versuchte, entfloh es aus ihrem Kopf. Es war zu surreal, zu grotesk, um es wirklich zu glauben, doch sie glaubte es. Niemals hatte sie gedacht, dass so etwas passieren würde, nicht in ihrer Familie. Doch es war geschehen. Jegliches Blut wich ihr aus dem Gesicht, als der Fremde am anderen Ende der Leitung den Namen ihrer kleinen Tochter erwähnte. Vorsichtig, gewählt, in Verbindung mit den richtigen Worten.
Sie hörte nur ihren Namen zwischen all den hässlichen Wortfetzen, zwischen den Beileidswünschen und Aufforderungen. Stumm hörte sie zu, notierte, was man ihr zu notieren befahl und versuchte das Atmen nicht zu vergessen, während das Herz in ihrer Brust vor Schmerzen zu zerspringen drohte.
Nachdem sich der Mann verabschiedet hatte, legte sie auf. Vorsichtig platzierte sie den Hörer auf der Gabel, griff nach dem beschriebenen Zettel und faltete ihn sorgsam zusammen, bevor sie ihn in ihre Hosentasche steckte. Begleitet von der Stille um sich herum und in ihrem Kopf, schritt sie apathisch durch den Flur und zurück in die Küche. Dort setzte sich ruhig vor das Fenster, und sah hinaus.
Dort ging eine Frau mit ihrem Kinderwagen spazieren. Hinter ihr ein verliebtes Pärchen mit einem kleinen, dicken Hund. Ein Mops, der tapsig nebenher lief.
Der Eiswagen fuhr vor und alle Kinder aus der Nachbarschaft versammelten sich um den läutenden Eisverkäufer, der sie mit einer schrillen Glocke heran lockte. Sie alle lachten mit der Sonne um die Wette.
Nur Magdalena begann zu weinen.