Mitglied
- Beitritt
- 09.08.2006
- Beiträge
- 472
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Prospero und Kerberos
Zu keiner Zeit habe ich damit gerechnet, besonders alt zu werden und in letzter Zeit glaube ich noch weniger daran. Deshalb habe ich mich, nachdem ich von verschiedenen Personen immer wieder dazu gedrängt wurde, nun entschieden, diesen Bericht abzufassen. So wird sich jeder, den es interessiert, selbst ein Bild von den Ereignissen dieses unseligen Abends in diesem noch unseligeren Landhaus machen können.
Eins noch – sollte irgendwer, der dieses Schriftstück zu lesen bekommt mutmaßen, dass sein Inhalt auf einer überreizten, mit Drogen noch weiter angestachelten Phantasie und einem ungesunden Interesse für griechische Mythologie beruht, so kann er sich sicher sein, dass auch ich dies verzweifelt hoffe.
Die Zusammenkünfte bei Jean waren immer etwas Besonderes gewesen. Sicher, die meisten von uns kamen aus Paris, bewohnten dort die „besseren“, sprich reicheren Viertel, waren den Trubel und das bunte Treiben der Stadt gewohnt und die Anreise störte uns in unserer angestammten Bequemlichkeit, doch: Die Treffen bei Jean Aron waren es immer wert gewesen. Und so befanden wir uns alle stets schon Tage vor dem abgesprochenen Datum in heller Aufregung.
Wir, das war eine Gruppe von jungen, in reiche Elternhäuser hineingeborenen Pariser Künstlern – wobei „Künstler“ wohl etwas zu viel gesagt ist. Denn weder waren wir besonders erfolgreich noch talentiert. Vielmehr versuchten wir Künstler darzustellen, um unseren Snobismus zu rechtfertigen und jederzeit gescheit daher reden zu können.
Ich selbst stellte einen Schriftsteller dar.
Langeweile, ausbleibende Bewunderung von Seiten des unverständigen Publikums und Unmengen an Geld und freier Zeit führten letztlich dazu, dass wir uns dem Drogenkonsum hingaben. Natürlich taten wir dies nicht wie die gewöhnlichen Menschen, die wir ja zutiefst verachteten, sondern wie die Avantgarde, als die wir erscheinen wollten: Mit immer ausgefalleneren Suchtmitteln, in immer größeren Mengen. Über dies sahen wir uns dabei völlig im Recht, schließlich waren wir überein gekommen, dass wir uns die verschiedenen Halluzigene nur zuführten, um unsere Kreativität zu steigern. So trafen wir uns in unregelmäßigen Abständen mal bei dem einen, mal bei dem anderen Mitglied unseres erlauchten Kreises.
Eben genoss ich, auf einer Bank herumlümmelnd, den goldenen Abglanz des scheidenden Tages und beobachtete die rund fünfzehn Gestalten, die sich, gekleidet in den neusten Pariser Chic, mit mir zusammen in dem wildwuchernden Garten vor Jean Arons Anwesen – seinem „Château“, wie er zu sagen pflegte – aufhielten. Zwischen uns liefen ebenso emsige wie auch verschwiegene Bedienstete umher und brachten, wonach es die Künstlerseele gelüstete.
Neben mir und mich empfindlich in meiner Ruhe störend, saß Marie Péguy, eine überdrehte Möchtegern-Dichterin und versuchte mich in ein Gespräch über Poesie zu verwickeln. Ich begnügte mich damit, mit gelegentlichen Antworten wie „Das sehe ich genau so“ und „Sie haben ja so recht, meine Liebe“ ihren Redefluss über mich ergehen zu lassen.
Ab und zu schickte ich einen sehnsüchtigen Blick zu der mächtigen Tür des elfenbeinweißen, rot- golden angestrahlten Anwesens. Dabei sah ich, dass auch die anderen hier Wartenden, die sich beinah schon mühevoll in müßigen Unterhaltungen ergingen, es mir gleich taten.
Schließlich hielt Robert Duras – der feiste Sohn eines Industriemagnaten – es nicht mehr aus. Seinem überbordenden Temperament unterworfen und in der Gewohnheit, dass man ihm gehorchte, fuhr er zu einem der Diener herum und fauchte ihn an: „Wie lange will Jean uns hier eigentlich noch warten lassen?“
Der Angesprochene blickte in Roberts funkelnde, an winzige dunkle Murmeln gemahnende Augen, zog eine Augenbraue hoch und zeigte ansonsten eine Miene völligen Gleichmuts, als er antwortete: „Monsieur Aron wird Ihnen Bescheid geben lassen, wenn alles so weit ist.“
Danach drehte er sich auf dem Absatz um und fragte Louis Colet, einen eher unterdurchschnittlichen Expressionisten, ob er ihm noch etwas bringen könne. Roberts Gesicht färbte sich in einer Weise, die mich mutmaßen ließ, er wolle die untergehende Sonne imitieren, doch letztlich schluckte er seine Wut herunter.
Die Worte Maries plätscherten immer noch wie klares Wasser vor sich hin. Ich seufzte und ließ meine Blicke schweifen. Betrachtete man den Himmel, an dem sich nur einzelne versprengte Wolken zeigten und die umliegenden Wälder, die noch immer von einem saftigen Grün waren, so hätte man meinen müssen, es sei noch Sommer.
Doch der Herbst hatte schon vor einigen Tagen seine Herrschaft angetreten und ein Hauch von Vergänglichkeit schwang bereits in der lauen Luft mit.
Mit einem langgezogenen Knarren wurde die Tür des Anwesens geöffnet.
Wie ein verwirrter Lindwurm schob und zog sich unsere Gruppe durch die oftmals engen und verwinkelten Gänge von Jean Arons Château. Einer der Diener führte uns, während wir über das kostspielige Meublement und die auch ansonsten eindrucksvolle Einrichtung staunten. Bald machte ein gedämpftes, aber dennoch aufgeregtes Gemurmel und Getuschel die Runde. Zwar waren wir schon einige Male hier gewesen, doch durch die Tatsache, dass Jean sein Refugium ständig umzuräumen und neu einzurichten pflegte, hatte wir nie Gelegenheit, uns daran zu gewöhnen.
Die gesamte Inneneinrichtung war praktisch das Ergebnis des ungehemmten Waltens von Jeans freiem Willen, denn weder musste er auf gesellschaftliche Normen Rücksicht nehmen, noch sich um Geld Gedanken machen – schließlich war es gut möglich, dass Jean der Reichste von uns war, da sein Vater, der gemeinsam mit seiner Gattin bei einem Unfall ums Leben gekommen war, eine bedeutende und ebenso zwielichtige Figur der französischen Rüstungsindustrie gewesen war.
Überall standen Kleinodien von Jeans zahlreichen Reisen herum, hier eine Öllampe, die aussah wie aus Tausend und einer Nacht, dort ein seltsam geschliffener Kristall. Manche dieser Mitbringsel standen auf eigenen Podesten oder Tischchen, andere auf dem Boden. In einige Räume hatte Jean nachträglich griechisch anmutende Säulen einbauen lassen, überall fanden sich Regale voller Bücher und hier und da auch eine Staffelei. Die Wände und Böden durchliefen die aberwitzigsten Farbwechsel, ohne dass die Kombinationen jedoch jemals völlig willkürlich oder gar geschmacklos wirkten.
Gleich bei meinem ersten Besuch hatte ich unwillkürlich an das Schloss des unglücklichen Prinz Prospero denken müssen.
Schließlich gelangten wir in einem weiten, annähernd quadratischen Raum, dessen hohe Wände, unten noch weiß, weiter oben in ein tiefes Orange übergingen und dort mit allerlei arabesken Verschnörkelungen verziert waren. Es gab nur den einen Eingang, durch den wir uns nun förmlich hereindrängten.
Als sich die Menschenballung schließlich so weit auflöste, dass ich wieder frei atmen konnte, entdeckte ich, dass die unterschiedlichsten Sitzgelegenheiten, ungefähr einen Kreis beschreibend, den Raum füllten: Hier ein dunkelblauer Diwan, dort zwei gepolsterte Stühle und sogar etwas, dass mich frappierend an eine römische Speiseliege erinnerte.
Endlich hatte sich das allgemeine Gemurmel gelegt, als Jeans wohlmodulierte und volltönende Stimme auch schon wieder die Stille brach: „Ah, werte Freunde, wie schön, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid und euch hier eingefunden habt!“
Bislang hatten wir ihn in dem nur von flackerndem Kerzenlicht illuminierten Raum gar nicht bemerkt, so dass nun einige sogar erschrocken zusammenfuhren. Er hatte die ganze Zeit über völlig still und unbewegt auf einem großen thronartigen Stuhl vor einem der schmalen Fenster gegenüber dem Eingang gesessen. Als er nun sprach richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und streckte den rechten Arm in einer grüßenden Geste von sich. Mit der anderen hielt er eine römische Theatermaske vor seinem Gesicht.
Im nächsten Augenblick jedoch warf er sie mit einer kraftvollen Bewegung bei Seite und grinste uns in seiner raubtierhaften Art an. Wahrscheinlich blickten wir alle recht fassungslos drein, denn im nächsten Moment warf er den Kopf zurück, wobei seine blonde Mähne ruckartig mitgerissen wurde und begann schallend zu lachen. Das Schattenspiel der Kerzen ließ seine Züge noch markanter, seine ganze Erscheinung noch knöcherner Wirken, als sie es ohnehin schon waren.
Ja, Jean hatte einen ausgeprägten Sinn für Dramatik, für das Romanhafte allgemein. Stets wirkte er wie der Protagonist in seiner eigenen Geschichte, deren ausgefeilte Pointen zu verstehen, nur ihm allein vorbehalten blieb. So legte er, wie auch an diesem Abend, Verhaltensweisen und ein Gebaren an den Tag, das wohl bei jedem Anderen, der dies nicht mit Jeans Vollkommenheit betrieben hätte, unweigerlich lächerlich hätte wirken müssen.
Darüber hinaus weiß ich über seine Persönlichkeit nicht viel zu berichten, denn selbst wenn er völlig berauscht und augenscheinlich ausgelassen war, legte er jene unsichtbare Theatermaske, die seine ureigenen Ansichten und Absichten vor der Außenwelt verbarg, niemals ab.
Ein starkes Interesse für griechische und klassische Mythologie im Allgemeinen war uns jedoch beiden zu eigen, er besaß ganze Bücherregale voll mit entsprechender Literatur und häufiger schon hatten wir über dieses Thema ausführlich philosophiert. Ich erinnere mich noch, wie er einmal sagte, er bedauere es, dass die vielschichtige, mystische und nebulös lebendige Welt der alten, oft ganz menschlichen Götter des Altertums zu Gunsten der flachen, linearen und profan moralisierenden christlichen Religion geopfert worden sei.
Kaum hatte Jean zu sprechen begonnen, war es ihm schon wieder gelungen, uns zu bloßen Zuhörern zu degradieren. Er hatte uns gebeten Platz zu nehmen und ohne weitere Umschweife seinen Vortrag begonnen. Ich selbst musste mit der sperrigen Speiseliege vorlieb nehmen und rutschte nun, in dem Versuch darauf gleichzeitig halbwegs aufrecht und bequem zu sitzen, unruhig hin und her.
„…und so stieß ich schlussendlich auf die geheimnisvolle Figur Hassan-i Sabbahs.“
Einen Moment lang ließ er den Namen im Raum stehen.
„Der Alte…“, kam es schließlich in nachdenklichem Tonfall von Julian Carras, einem melancholischen Schriftsteller, der ursprünglich aus Barcelona stammte. „Der Gründer der fanatischen Sekte der Assassinen.“
Dem zufriedenen Lächeln, das sofort Jeans Lippen umspielte, entnahm ich, dass wir anderen wieder einmal ratlos dreinblickten. Dann sprang er förmlich von seinem Thron auf und begann, diesmal heftig gestikulierend, erneut zu erzählen: „Ja, Hassan-i Sabbah, Gründer und Meister der Assassinen. Immer mehr zog es mich in den Dunstkreis aus Mysterien und Halbwahrheiten, die seinen Namen umgeben. Ich war erstaunt festzustellen, wie viele Legenden noch immer von den alten Männern und Frauen Persiens, jenes uralten und stolzen Landes zwischen gluthauchender Sonne und wachsfarbenem Sand, über ihn erzählt werden.“
Man konnte ohne Weiteres erkennen, wie Jean wieder einmal mitgerissen wurde, durch die faszinierte Begeisterung für seine eigene Erzählung. Während er erregt weitersprach, trat ein Glitzern in seine Augen, das mir um so heller zu werden schien, je dunkler es in der Welt dort draußen wurde.
„Man sagt, er habe Jünglinge mit Opium betäuben lassen, um sie in seine schier uneinnehmbare Feste zu verschleppen. Dort aber habe er dafür gesorgt, dass ihnen jede nur erdenkliche irdische Freude zuteil wurde. Nach einer Weile jedoch ließ Hassan-i Sabbah die jungen Männer erneut betäuben und zu sich führen. Er machte ihnen klar, dass sie im Paradies gewesen seien und dieses nur durch ihren Märtyrertod zurückerlangen könnten. So schuf er sich eine Armee professioneller und zu allem bereiter Attentäter.“
Der Gedanke an solche Machenschaften amüsierte Jean sichtlich, während ich mich, wohl nicht als einziger, fragte, worauf er eigentlich hinaus wollte.
„Doch euch ist sicherlich aufgefallen, wie unlogisch, man möchte fast sagen: kindisch diese Geschichte ist“, fuhr er fort, mit Mimik und Gestik sein Überlegenheitsgefühl zum Ausdruck bringend. „Ein wenig gutes Essen, Frauen und ein hübscher Garten und erwachsene Männer sollten nicht merken, dass sie noch auf unserer Erde wandelten, sich im Paradies wähnen? Nein, wohl kaum!
So trieb ich meine Nachforschungen weiter und letztlich sollte ich das Geheimnis der Assassinen entdecken. Dies kam natürlich viele hundert Reise-Kilometer, einige Bände entsprechender Fachliteratur und unzählige Gespräche später, doch“, hier legte er eine dramatische Pause ein, „für euch, liebe Freunde, und euer Amüsement nahm ich diese Strapazen selbstverständlich auf mich.“
Kaum hatte er geendet, da verbeugte er sich auch schon tief, als hätte irgendwer in dem im Zwielicht liegenden Saale geklatscht. Tatsächlich bestand das einzige Geräusch in konfusem Getuschel und Geflüster.
Als Jean sich wieder aufrichtete, hielt er plötzlich ein kleines, unscheinbares Säckchen in Händen und verkündete: „Und hier ist es! Für euch!“ Dabei reckte er die Hand, in der er seine neuste Errungenschaft hielt, empor.
„Augenscheinlich ist es nichts als ein grünes Pülverchen, doch es ist zugleich auch das Tor zum Paradies.“
Robert Duras, der ganz offensichtlich immer noch schlechter Laune war, meldete sich nun zu Wort. Fast schon spöttisch fragte er: „Jean, du willst uns doch jetzt hoffentlich nicht erzählen, dass dieses Zeug da einen quasi auf Zeit ins Jenseits befördert?“
Mit einer Mischung aus Belustigung und Missbilligung antwortete Jean: „Aber nein, ich bin zwar als Exzentriker verschrien, aber verrückt bin ich noch nicht, Robert. Vielmehr glaube ich, dass es sich um eine äußerst starke Droge mit halluzigener Wirkung handelt. Wenn dich das Pulver ins Jenseits bringt, dann nur in den Himmel oder die Hölle, die in deinem Kopf bereits existiert.“
Nur eine Messerspitze.
Nur eine Messerspitze, hatte Jean gesagt, und wir sollten uns hüten, mehr von dem rätselhaften grünen Pulver mit der sandartigen Konsistenz zu nehmen, das könne fatale Folgen haben. Natürlich hatten wir uns an seine Anweisung gehalten, wie wir es bislang stets in allem getan hatten, doch nun, als die orientalische Wunderdroge zu wirken begann, fragte ich mich, ob diese Messerspitze nicht bereits zu viel gewesen sei.
Nach der Einnahme des Pulvers setzte bei mir sofort ein seltsames Gefühl ein, als habe eine unsichtbare Hand meinen Verstand sacht aus meinem Körper heraus genommen und sich nun daran gemacht, mich dieser Welt immer weiter zu entrücken. Ich betrachtete mich selbst, als sei ich nur eine Person unter vielen, ja, mein ganzes Ich-Gefühl geriet seltsam aus den Fugen. Mehr und mehr wuchs in mir ein Gefühl der Geringschätzung für alle irdischen Dinge, da sie mir nunmehr abstrakt und unwirklich erschienen, während mein Geist in immer entlegenere Sphären fortdriftete. Den Raum, in dem ich mich körperlich noch immer befand, nahm ich nur noch wie durch einen verklärenden, entfremdenden Nebel war.
So war ich zwar erstaunt, jedoch keinesfalls betroffen, als ich sah, wie meine leere fleischliche Hülle völlig desorientiert und geistlos durch das Zimmer wankte, dann gegen einen Stuhl stieß und unbeholfen zu Boden fiel, um unter konvulsivischen Zuckungen liegen zu bleiben. Ebenso verhielt es sich mit den Körpern der Anderen.
Gelegentlich glaubte ich diese unartikulierte Laute murmeln zu hören, doch verstand ich sie nicht. Und selbst wenn ich sie verstanden hätte: Was auch immer in dieser profanen Welt des Materiellen ausgesprochen werden konnte, schien meine Aufmerksamkeit nicht mehr wert zu sein.
So wandte ich mich ab und überließ mich dem Davontreiben. Angst hatte ich nun keine mehr, zu natürlich erschien mir mittlerweile, was mit mir geschah. Ich glaube, Sterbende fühlen so, kurz bevor es endgültig vorbei ist.
Bald glaubte ich eine Anzahl hell scheinender, unheimlich komplex wabernder Flammen vor einem Hintergrund ätherischen Nichts dahingleiten zu… nun ja, „zu sehen“ wäre nicht korrekt, schließlich sah ich sie nicht wirklich, dennoch möchte ich auch nicht sagen, dass ich sie lediglich fühlte. Wie dem auch sei, jedenfalls nahm ich sie wahr.
Schnell begriff ich, dass es sich hierbei um meine Gefährten handeln musste. Wir alle glitten auf etwas zu, dass uns mit unwiderstehlicher Kraft anzog, beinah wie ein Magnet. Dieses etwas war gewaltig in einer Weise, die jeder Beschreibung trotzt und weder hatten wir die Kraft, noch den Willen, uns ihm zu widersetzen.
Einige von uns waren schneller als der Rest und – ob durch Erfahrung oder eine Art Instinkt kann ich nicht sagen – ich wusste, dass der Schnellste von allen Jean war.
Ob kurz darauf oder Äonen später konnte ich nicht bestimmen, da die Zeit mehr und mehr an Bedeutung verlor, doch letztlich erreichte der wunderschöne irisierende Avatar Jeans den gewaltigen Pol.
Beinah sofort jedoch hörte ich Jean als spräche er direkt in meinen Gedanken und seine Stimme war verzerrt von einem unfasslichen Schrecken, als er panisch schrie: „Nein, nicht du! Das kann nicht…“
Es folgte ein Schrei, als habe jemand Jean ein Messer zwischen die Rippen getrieben. Dann: „Flieht von hier! Es darf euch nicht kriegen!“
Eine eiskalte Furcht umklammerte mein Herz und Jeans Wort verfehlten ihre Wirkung nicht: Zuerst fühlte ich mich bedächtig zurückgezogen, dann wie rückwärts gerissen und letztlich stürzte ich. Ich stürzte und stürzte zurück in die vergessen geglaubte Fleischlichkeit.
Benommen, mit rasendem Herzen und einem Gefühl nie gekannter Verwirrung kam ich langsam in jenem Zimmer wieder zu mir, von dem aus unsere außerkörperliche Odyssee ihren Anfang genommen hatte und das sich jetzt boshaft um mich zu drehen schien.
Ich bemerkte, dass auch die Anderen ihr Bewusstsein zurückerlangten, versuchten sich aufzusetzen und sich die schmerzenden Köpfe hielten.
Da schnitt ein neuerlicher gellender Schrei Jeans durch das leise Fluchen und Murmeln der Wiedererwachenden. Mit einer Miene in die alles Grauen dieser und anderer Welten eingebrannt schien, flog Jean förmlich durch das Zimmer und durch die Tür hinaus.
Anfangs wollte mir meine Muskulatur nicht recht gehorchen, doch mit aller Willenskraft, die mir zu Gebote stand, kam ich schließlich taumelnd auf die Beine.
Seinen erschütternden Schreien folgend hetzte ich Jean nach, entschlossen, dem Gepeinigten beizustehen. Der Großteil der Anderen schloss sich mir an. Schnellen Schrittes ging es durch die verwinkelten Korridore, vorbei an all den bizarren Souvenirs und ausgefallenen Gegenständen.
Wir gelangten ins Obergeschoss und das Geräusch von Jeans hastenden Schritten verriet mir, dass er letztlich in die große Bibliothek hier oben gerannt war. Schon drangen von dort aus wiederum Schreie zu uns, die entsetzlicher waren als alles zuvor. Hätte man Jean mit glühenden Eisen behandelt und ihm die Fingernägel heraus gerissen, niemals hätte er so geschrieen. Plötzlich verstummte er.
Nur widerwillig stieß ich die Tür der Bibliothek auf. Wir stürzten hinein und sahen uns von dem Anblick überwältigt. Links von mir sank Marie mit einem Seufzer zusammen. Robert wusste seiner Gefühle nicht anders Herr zu werden, als in einen nichtendenden Schwall von Flüchen zu verfallen, während Tränen seine Wangen hinab rollten.
Jeans heißes Blut starrte uns an. Es starrte uns an, wie es von der Decke troff, wie es an den Wänden klebte, wie es begierig in den Teppich kroch. Zerfleischt wie von den mächtigen Fängen eines scheußlichen Ungetüms lag Jean Arons lebloser Körper da, der Ausdruck des nackten Horrors auf ewig in seine Züge gemeißelt. Seine leblosen Augen blickten stumpf auf die eigenen Gedärme, die um ihn verstreut lagen.
Das ganze Zimmer wirkte wie das Bild eines diabolischen Künstlers und für einen wahnwitzigen Augenblick fragte ich mich, ob Jean daran gefallen gefunden hätte. Ob er sich das Bild an die Wand gehängt hätte, um Besucher zu schockieren.
Woher ich noch die Kraft dazu nahm weiß ich nicht, doch ich trat auf Jeans Leiche zu, beugte mich hinab, nahm das Buch, dass seine toten Finger umklammert hielten und blickte auf die aufgeschlagene Seite.
Ich las die Worte Homers:
Auch den Kerberos sah ich, mit bissigen Zähnen bewaffnet
Böse rollte er die Augen, den Schlund des Hades bewachend
Was tut also ein Mensch, der solches gesehen und erlebt hat?
Die Antwort ist diese: Er wartet bis die Eindrücke jener drogenbedingten Entkörperung durch ihre Fremdartigkeit undenkbar und unglaubwürdig werden. Er legt sich für alles, was an seinen Erlebnissen unnatürlich scheint eine, wenn auch unwahrscheinliche, rationale Erklärung zu recht. Er verdrängt die Bilder des Schreckens und des Todes.
So hätte auch ich es getan. So hätte ich es getan, wenn ich nicht fürchten müsste, dass der Horror noch nicht vorüber ist, dass jene bösartige Entität, die Jean Arons Verhängnis wurde, noch nicht genug Blut gekostet hat.
Wenn nicht die zerrissenen Überreste Roberts vor neun Tagen in seinem von innen verschlossenen Appartement gefunden worden wären.
Wenn ich nicht in jeder Nacht von irgendwo aus der Düsternis dort draußen dieses nervenaufreibende Bellen hören müsste, dass jedes Mal ein wenig näher gekommen zu sein scheint.