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psychotisch
Lieber André!
Seit ich hier bin, habe ich nichts mehr von dir gehört. Im Fernsehen sagen sie, dass eine Grippewelle umgeht. Sie habe bereits Tote gefordert. Die Experten sind sich noch nicht sicher, aber es könnte diesmal eine gefährliche Form sein; wie die von 1918. Geht es dir gut?
Einen der Pfleger konnte ich überreden mir einen Busfahrplan zu besorgen. Wenn du den Bus um 11:48 Uhr nimmst, könntest du 14:32 Uhr hier sein. Nachts, wenn alles ruhig ist, höre ich das brummende Grollen aus dem Heizungskeller. Kaum wahrnehmbar. Ich vermisse den Klang deiner Stimme.
Die meisten hier meiden mich. Da ist nur Einer; ich weiche ihm aus. Er ist ein Skelett mit schlaffer Haut als Mantel, der an den Knochen herunterhängt. Hilflos und verängstigt. Er sitzt in der Ecke des Raumes. Ein Stuhl, ein Tisch neben ihm. Das Bild wirkt grau. Es gibt keine Bilder an den Wänden und die Fenster sind mit Gitterstangen versehen. Ein Gefangener dessen Geist gebrochen ist. Sein verzehrter Körper lässt seinen Kopf mit dem eingefallenen Kinn und den hervorstehenden Wangenknochen überproportioniert erscheinen. Wie eines der sterbenden Kinder in Äthiopien, nur ohne den melonenförmigen Wasserbauch.
Sein starrer Blick schmerzt. Ich kenne diesen Blick; von dir. Das Leid, die Einsamkeit. Der Wunsch nach etwas Nähe und Wärme. Ich ertrage diesen Blick nicht. Nichts von dem, was er sich wünscht, kann ich ihm geben. Und er wird es auch nicht bekommen. Ich schäme mich dafür, denn er stirbt. Allein - umringt von Menschen. Ich schäme mich für den Ekel und die Verachtung, die ich empfinde.
Ich bin wie Er. Eine häßliche Fratze. Unfähig die Realität zu begreifen. Außerstande den winzigen Funken an Liebe und Zuwendung zu geben, der das Feuer am Brennen hält. Er war ein Monster und ich bin wie Er.
17. Dezember
Es hat in den letzten Tagen heftig geschneit. Die Straßen sind sicher zugeweht, deshalb konntest du mich nicht besuchen. Ich hoffe, daß der Schnee bald wieder schmelzen wird. Ich mag Schnee nicht. Er verwirrt mich. Ich genieße die Stille, diese friedliche Ruhe, wenn ich morgens am Fenster stehe und den Blick über die Landschaft schweifen lasse. Die Sonne den Schnee glitzern und mich blinzeln läßt. Sich in dem Wassertropfen, der am Eiszapfen hängt, ein Regenbogen spiegelt. Ich kann in die Unendlichkeit sehen. Ein weites Feld, vereinzelt durch ein paar Bäume begrenzt. An manchen Stellen schauen einige gelbe, vertrocknete Grashalme hervor. Der Himmel ist blau, ohne eine Wolke. Kein Mensch, kein Tier, kein Vogel der singt. Du weißt, daß ich mich dann frei fühle. Aber der Wind ist kalt, der mir um die Nase weht und alles ist tot; wie der Tod. Er starb an einem solchen Tag.
Gestern haben wir berühmte Filmszenen nachgespielt. Alle haben gelacht und Späße gemacht. Ich habe mich fast wie zu Hause gefüllt. Das erste Mal, seit ich hier bin. Das erste Mal seit langem. Sie haben sich an mich gewöhnt. Keiner konnte die Bergmann überzeugender darstellen als ich. Und keiner war so überzeugend wie Robert. Er stand vor mir. Groß, seine Haut leicht gebräunt, mit behaarter, starker Brust in meiner Augenhöhe. Seine Hände sind rau, aber warm. Sanft war seine Berührung, um mich zu bitten ihn anzusehen. Ein markantes Gesicht. Ausgeprägte Kiefernknochen, von einem Dreitagebart bedeckt. Braune Augen, schmal, mit kleinen Tränensäcken, durchdringend, suchend und verloren. Die Sonne fällt in einem diffusen Licht über dein Gesicht.
Du bist gerade vom Sport zurück. Eine Sache, bei der du dich wohl fühlst, wo du Abstand gewinnen kannst. In all die Gewichte kannst du deine Wut stecken, dich befreien. Danach hast du dieses Lächeln auf den Lippen, das deinen rechten Mundwinkel komisch kräuseln läßt. Du stehst dann vor dem Spiegel und läßt deine Muskeln zucken. Ein kleiner Schweißtropfen rinnt über deine Schulter, den starken Arm herab. Der Tropfen aus Wasser hat es nicht leicht deinen Konturen zu folgen. Es fällt ihm sichtlich schwer aus einem Tal, erneut einen Berg zu erklimmen. Du weißt sehr genau, welche Wirkung das auf mich hat und du spürst die Blicke auf deiner Haut. Wie verschieden wir doch sind.
Ich sehe mich im Spiegel. Eine dürre Person starrt mich an, häßlich und bleich. Eine feminine Erscheinung mit weichen Gesichtszügen, zarten, langen Fingern, die dünnes Haar aus der Stirn streichen. Ein langes scharlachrotes Kleid fällt von den schmalen Schultern über ihren zerbrechlichen Körper. Es reicht bis zu den Schuhen von der alten Frau Matschek. Diese Person im Spiegel, das bin nicht ich! Das ist nicht mein Körper! Aber ich kenne Sie. Ich weiß, daß ich sie schon einmal gesehen haben. Sie lachte. Sie schien das gerne zu tun. Es war ansteckend, ich mochte Sie. Du warst dabei. Wer ist Sie?
10. Januar
Die alte Frau Matschek, der wir die Pumps aus dem Schrank geklaut haben, ist heute gestorben. Sie hatte immer geglaubt, eines Tages mit ihrem Mann wieder tanzen zu können. Ich weiß nicht wo er ist. An guten Tagen erzählte sie kaum von etwas anderem. Aber diese Tage waren selten. An den anderen fiel ihr jede Bewegung schwer. Sie lag dann einfach da, als wäre sie tot. Einer der Pfleger mußte sie füttern. Der Brei lief ihr wieder aus dem Mund. Er war verärgert darüber, weil es bedeutete, daß das Bett neu bezogen werden mußte.
Ihr Gesicht war unergründlich. Kein Lächeln kam über ihre Lippen und keine Träne entsprang ihrem Auge. Etwas Speichel rann als dünner Faden über ihr Kinn, und ihre Leere starrt in die Leere. Sie erinnert mich an meiner Mutter. Sie litt meinetwegen. Er gab ihr die Schuld und ließ es sie spüren. Das krause schwarze Haar hing ihr ins Gesicht. Sie sprach nicht mit mir. Es waren nur noch wenige Worte, die wir miteinander wechselten. Ihr Ausdruck war genauso leer und unergründlich, wie der der alten Frau Matschek. Zu dieser Zeit war ich das erste Mal alleine. Ich hasse sie dafür; das sie mich alleine ließ, nicht die Stärke besaß dem Einhalt zu gebieten und mich als Ihr Kind zu akzeptieren. Die Spannungen nahmen zu. Also ging ich fort. Vielleicht das Beste, was ich für die Familie tun konnte. Ich weiß nicht, ob es danach aufhörte oder nicht. Sie war meine Mutter. Jede Bewegung von mir war eine Qual für sie, jedes Wort ein Dolchstoß. Weißt du wie es ist, dies als Kind zu spüren, zu wissen nicht in diese Welt, in diese Familie zu gehören. Ich hasse sie. Ich hasse sie.
Nein - ich liebe sie. Jeder liebt seine Mutter. Egal was sie dir auch antut. Du kannst nicht anders. Ich erinnere mich, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, wie sie mich in den Arm nahm und mich küßte. Sie legte mich in ihren Schoß, sah sich suchend um und rief: „Wo ist mein Junge, wo ist mein Junge!“ Ich saß dort, winkte ihr und rief: „Hier bin ich.“ Ihre Augen leuchteten und waren riesig, wenn sie mich sah, als wäre ich ein Jahr fortgewesen.
Ich habe Angst. Wo bist du?
31. Januar
Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Er saß in unserem alten Haus. Er war wütend, schlimmer als sonst und hatte seine Schrotflinte neben sich zu stehen. Ich sehe ihn von draußen durch das Wohnzimmerfenster, wo er zusammengesackt auf der Couch sitzt, mit den Zähnen knirschend. Sein Kiefer bebt. Er springt plötzlich wutentbrannt auf und kommt mit der Flinte aus dem Haus gelaufen. Wir Kinder rennen und schreien. Der kleine Tommy versteckt sich unter einem Karton nahe der Scheune. Nicole und ich laufen zu dem alten Auto. Es ist verrostet, ohne Scheiben, es kann kaum ein sicheres Versteck bieten. Er brüllt und schießt wild um sich. Ich höre das Schluchzen von Nicole. Tränen laufen über ihre Wangen. Er geht wieder ins Haus zurück. Vorsichtig schleicht sich Nicole aus dem Wagen und rennt zur Scheune, um Tommy zu holen. Auf dem Rückweg stoppt sie kurz. Wieder im Auto streicht sie mir über die Stirn und drückt Tommys Gesicht fest gegen ihre Brust. Ich begreife nicht was passiert. Am nächtlichen Himmel erstrahlt in allen möglichen Farben ein heller Blitz, als wenn jemand vom Weltall aus ein Foto von der Erde machen wollte. Es ist ein wundervolles Licht. Ich erwache und es ist kalt. Überall liegt Schnee. Niemand ist zu sehen. Ich gehe einen Feldweg entlang. Es ist absolut still. Alle Häuser sind leer. Ein Fenster steht offen, aus dem ein Küchenvorhang wild im Wind tanzt, auf dem bunte Blumen gedruckt sind. Die leise Melodie eines Klaviers kann ich hören. Es ist alles so friedlich.
Ich saß vor dem Spiegel im Schlafzimmer und malte mir die Lippen mit einem knallroten Lippenstift an. Ich hatte nie darüber nachgedacht, warum ich das tat. Es gefiel mir. Sein Gesicht tauchte wie ein Geist im Spiegel auf und verschwand wieder. Er war ein Mensch, der in seiner Realität gefangen war. Alles hatte eine Ordnung und einen angestammten Platz in der Gesellschaft. Ein Ausscheren gab es nicht. Unregelmäßigkeiten waren nicht existent. Ich weiß nicht, wie sie es aushielt. Ich konnte es nicht.
Die Gänge wirken noch weißer und steriler, wenn die Sonne in das Gebäude scheint. Heute ist ein schöner Tag. Es ist warm. Ich fühle mich trotzdem nicht gut. An solchen Tagen habe ich auf dem Sofa gesessen; eine alte Decke um die Beine geschlagen. Wie ein alter Mann. Du brachtest mir eine Schüssel mit Suppe. Ich habe dich wütend angefahren, weil du das Kreuzworträtsel in der Zeitung bereits gelöst hattest. In diesem Zustand hast du dich nie auf Diskussionen eingelassen. Im Spiegel, der auf dem Flur hängt, könnte ich sehen, wie du hinter der Tür standest und mit dem Rücken an den Schrank gelehnt, langsam zu Boden rutschtest. Dein Gesicht tief in deinen Händen vergraben. In diesem Moment habe ich dich ein Stück mehr verloren.
„Der Patient aus der 27 hat mir diesen Brief gegeben. Wir sollen ihn wie gehabt abschicken.“, ungläubig blickte der neue Pfleger auf den Umschlag, auf dem keine Adresse zu finden war.
„An wen soll der Brief geschickt werden?“
„Es steht nie eine Adresse drauf.“, antwortete der leitende Pfleger der Station. Gleichgültig, eine Routine.
„Ich weiß nicht einmal, ob der Typ, dem er schreibt,überhaupt existiert. Seit er hier ist, schreibt er jede Woche einen Brief. Besuch hatte er aber noch nie.“
Der neue Pfleger war ein wenig verwirrt, weil er nicht so recht wußte, was er nun mit dem Brief anstellen sollte. Einen Moment lang dachte er darüber nach, ob es nicht möglich wäre, den Brief den Eltern oder Geschwistern zukommen zu lassen, die dann vielleicht in der Lage sein würden, ihn in die richtigen Hände weiterzuleiten. Aber das ist mit Sicherheit ein schwieriges Unterfangen und bestimmt schon probiert worden. Und wer weiß, ob die Familie noch lebt. Schließlich hatte er noch keinen Besuch. Die Klingel von Zimmer 12 riß ihn von seinem Gedankengang fort.
„Was mache ich also mit dem Brief?“
„Er kommt zu den anderen in seine Patientenkartei. Leg’ ihn einfach auf den Tisch. Ich räume ihn dann weg.“, immer noch seltsam unbeteiligt, drang die Antwort von dem Mann hervor, der mit Bergen von Papierkram beschäftigt war. Das wiederholte Klingeln von Zimmer 12 ließ ihm keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er legte den Brief auf die Kante des Schreibtisches. Nicht zu dicht an den sich türmenden Papierstapel heran, damit er nicht darin versinken würde, wie ein U-Boot, daß in 10000 Meter Tiefe leckgeschlagen ist. Mit einer etwas ungeschickten Drehung verließ er das Büro und riß dabei den Brief vom Schreibtisch. Dieser landete direkt im Papierkorb, der neben dem Tisch stand und mit nur leicht zerknülltem Papier überzulaufen drohte. Wie ein kleines Fischerboot wurde der Brief von den riesigen Wellen der Papierflut umspült. Er versank, ohne einen Hinweis auf seine Existenz zu hinterlassen.