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Puffbesuch
Volles Haus, ausverkauft. Anspannung überall. Ich muss auf Matthias achten.
Er arbeitet über mir.
Leider gelingt es ihm nicht immer, sein Lampenfieber wegzutrinken, ohne dass es auffiele.
Matthias ist ein großartiger Schauspieler, nur etwas versoffen.
Einige Abende geraten so an den Rand der Katastrophe. Aber es gibt auch unvergessliche Vorstellungen mit tosendem Beifall und rasendem Publikum.
Die Beleuchtung ist heute nicht auf Draht, auch das Bühnenbild finde ich misslungen. Allerdings habe ich in meinem Souffleurkasten kein Mitspracherecht bei solch wichtigen Dingen.
Metallisch klappern Pantöffelchen die schmale Wendeltreppe herunter. Sigrid mit der gleichen Frisur wie Marge Simpson, nur eben silberweiß und perlenverziert, erreicht die letzte Stufe. Sie kann ihren Text, wirbelt über die Bühne; ich genieße ihr Parfüm.
Und jetzt Matthias! Er hat schon Luft geholt für die anspruchsvolle Rede.
Doch das erste Wort will und will nicht kommen. Er tritt von einem Fuß auf den anderen, um sein Schwanken zu kaschieren. Ich muss ihn retten!
Ich flüstere: „ Hier treffe ich dich? Unter rostigen Kronleuchtern in dieser erbärmlichen Absteige, die nie ein Grand Hotel war, auch wenn es über dem Eingang steht.“
Matthias? Nichts. Ich klatsche zweimal in die Hände (unser Geheimzeichen), leise, doch so laut, dass er es trotz seiner schlechten Verfassung hören kann, nein - hören muss. Ja, es funktioniert! Er gestikuliert und bewegt den Mund, als wäre sein Text für Taubstumme gemacht. Während er mit merkwürdigen kleinen Schritten seinen hohen Seegang zu überspielen versucht, schreie ich weiter an seiner Statt das, was ich ihm geflüstert habe.
„Ein Stundenhotel ist das, mit unzumutbaren Betten und verschimmelten Bädern. Hier also bedienst Du Geilheit und Gier!“ Ich tupfe mir Mund und Stirn, denn ich arbeite für zwei. Bevor ich fortfahren kann, höre ich verblüfft:
„Nun gut, dieses Unglück mit der ständigen Unruh’ im Inneren hat sich kein Mann gewünscht. Wenn er sich hätte etwas wünschen können, dann hätte er sich genau das strikt verbeten.“
Ich glaube es nicht – das ist Matthias’ Stimme! Und sie gewinnt an Kraft:
„Da wär’ er doch tausendmal lieber Frau - eine Frau, die Herrin ihrer Taten, meist auch ihrer Gefühle ist, unbeeindruckt vom Gebalze der Männer. Eine Frau, die bestimmen kann, wann und mit wem sie schläft. Die auch mal pausieren kann, um ihre Gedanken zu ordnen – oder fünf Männer zu Tode reitet, wenn ihr danach zumute ist.“
Nun legt Matthias richtig los. Mit vor Entrüstung zurückgeworfenem Kopf hält er seine Brandrede, jeder Satz eine Anklage an die Schöpfung:
„Männer sind ein von fremder Gottheit programmiertes Nichts, nur Silhouetten eines Menschen. Sie sind im göttlichen Auftrag ihr ganzes Leben unterwegs in Sachen Arterhaltung und Vermehrung, sich selbst verleugnend. Müssen eine unrühmliche Rolle übernehmen, die sie angreifbar und unsicher, berechenbar und oft auch lächerlich macht, die sie vom Leben ihres eigentlichen Lebens abhält, es ihnen schlichtweg verwehrt.“
Er hat diese oft zitierten Zeilen H. M. Tribaquod-Alliers mit einer solchen Inbrunst bis zu den höchsten Rängen geschmettert, dass wir alle, wirklich alle erschüttert sind.
Auch das ist Matthias! Wenn der Feuer gefangen hat, dann geht er hoch – auf den Kirchturm, auf den Fockmast, auf den Zehntausender ohne Proviant. Okay, vielleicht hat er etwas Trinkbares dabei.
Immerhin haben wir drei Vorhänge, und das ist für unperfekte Leute, wie wir es sind, ein schöner Erfolg.
Es wird schnell leise im Großen Haus, die meisten Lichter sind schon ausgeschaltet, und die grünen Männchen spenden fast mehr Licht als die Notbeleuchtung. Immerhin finden wir nach draußen.
Einige von uns gehen auf direktem Weg nach Hause, andere drehen noch eine Runde mit ungewissem Ausgang. Matthias hat sich etwas erholt, wahrscheinlich hat ihm der reichliche Applaus gut getan. Weil wieder mal Freitag ist, gehen wir ins Bordell.
Bordell ist natürlich Quatsch, wir sind keine Franzosen. Schulter an Schulter schreiten wir in den Puff.
Viele Neuzugänge registrieren wir, die Szene wird international. Jedes Mal sind wir aufgekratzt. Wir möchten die Fähigkeiten des Chamäleons haben: Das eine Auge filmt alles links, das andere rechts.
Wir scheuen das Risiko neuer Begegnungen und bekennen uns zum Bewährten: Agnes, Roswitha oder Daniela. Nicht gerade originell, schließlich kennen wir die schon zwölf, dreizehn Jahre.
An der Bar des Etablissements treffen wir uns wieder.
„Eh, Ralph“, stößt mir Matthias in die Rippen „weißt du, dass wir uns eben strafbar gemacht haben?“
„Nee, kann ich mir nicht vorstellen.“
„Na ja, noch nicht. Aber wenn wir das schwedische Modell übernehmen, dann sind wir die Blöden. Weil wir Männer sind.“
Ich bestelle das letzte Bier des Abends. „Geht’s auch ein bisschen konkreter?“
„Gerne doch. Wenn sie dich auf dem Treppchen zu Agnes, Roswitha oder Daniela erwischen, dann braten sie dir ein’s drüber. Eine saftige Geldstrafe, wenn du liquide bist. Wenn nicht, musst du paar Tage absitzen, bis dir die Eier weh tun.“
„Aber essen und trinken darf ich noch?“
„Bis jetzt – ja.“
Ich sinniere, wieso man zehn Bier trinken kann, aber nur zwei Limo.
„Ich habe auch schon was von diesem bullshit mitbekommen“, sage ich. „Sie wollen nicht, dass Frauen sexuell ausgebeutet werden. Es wäre gesellschaftlich nicht in Ordnung, wenn sich Männer Frauen für Sex kaufen.“
„Aber wenn Frauen Sex für Geld verkaufen – das ist in Ordnung?“, erregt sich mein Kollege und Freund. Und haut noch mal in die Kerbe: „Ich glaub’, die sind alle verrückt geworden! Die wollen den Milliarden-Sexmarkt möglichst koscher machen, als ob in anderen Branchen alles schön transparent und gesetzestreu liefe. Phantasten sind das. Die schreien: ’Bestraft die Freier!’ Was ist mit den männlichen Singles? Sollen die sich das Ding abschneiden und auf Eis legen, bis wieder normale Zeiten kommen?“
Sein Ärger springt auf mich über: „ Das schärfste ist ja, dass dieselben Leute seit Jahren unbeeindruckt zuschauen, wenn Flatrate-Puffs werben ‚Sex mit allen Frauen, solange du willst, sooft du willst und wie du willst.’ Da hat sich noch niemand dran gestört, wie dort mit den Frauen umgegangen wird. Und die dort arbeiten, tun das garantiert nicht freiwillig. Das ist doch der mieseste Sklavenmarkt der Neuzeit! In Deutschland! Das muss man sich mal vorstellen: Jeder Schmeerlappen kann mit den Frauen machen, was er will! Im Jahre 2015!“
Wir könnten jetzt die Klappe halten, doch Matthias kann das offenbar nicht:
„Wir sind alte Männer.“
„Ach ja?“
„Ja. Vor zwanzig, dreißig Jahren hätt’ ich mir kein’ Kopp gemacht wegen Flatrate. Da wär’ ich hin.“