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Puzzle

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13.08.2009
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Puzzle

Lind, ein älterer Herr, hatte soeben die Arztpraxis verlassen. Völlig entgeistert und mit fahlem Gesicht schlenderte er, teilnahmslos dem Weltgeschehen gegenüber, durch die Straßen. Kein Wunder, hatte ihm der Arzt doch vor wenigen Minuten erst verkündet, was ihn jetzt blass und halb durchsichtig werden ließ.
Klar hatte er selbst diese Vermutung und das Gefühl gehabt, daß etwas Fremdes und Lebensbedrohliches in ihm wuchs. Er hätte sich aber doch gern getäuscht gewusst. Jetzt spielte das keine Rolle mehr.
Lind irrte durch die Strassen und mit ihm eine Handvoll Erinnerungen. Bis zum Morgengrauen bewegte er sich sinnlos inmitten tausender Menschen. Langsam nahm er die Umgebung wieder wahr. Er blieb stehen, und der erste klare Gedanke, der die Einöde vertrieb, war der Satz, daß andere Menschen nicht besser dran waren als er, ganz im Gegenteil: Schlechter ging es den meisten.
Er wühlte jetzt in seiner Jackentasche herum und zog seinen Autoschlüssel heraus. Auf der Heimfahrt betrachtete er die Leuchtreklamen, die langsam in der Dämmerung verblassten.
Als er in seiner kleinen Wohnung saß und auf seine große Uhr starrte, kramte er dabei in den Taschen des Mantels, den er angelassen hatte, und zog schließlich einen Zettel hervor.
Der Arzt hatte ihn Lind in die Tasche gesteckt, bevor dieser als jämmerliches Wesen die Praxis verlassen hatte. Eine Adresse stand darauf.
Der Arzt, so erinnerte sich Lind, wollte ihm sein kleines Strandhäuschen für die letzte Zeit seines Lebens, ein geschätztes Vierteljahr, überlassen.
Lind hatte keine Familie; die paar Angehörigen, die er noch hatte, waren in alle Welt zerstreut. Er blickte trostsuchend umher, aber alles, was ihm einmal Freude bereitet hatte, schien ihm dunkel und ohne Farbe.
Farben, genau! Er hatte Sehnsucht nach Farben, zum Beispiel die des Meeres, noch nie hatte er das
Meer gesehen. Zumal war es Herbst und das Meer aufgepeitscht, die Wellen wurden regelrecht vom Wind zerrissen. Lind stellte sich das Meer vor, diesen Kampf, die Kraft und die Schönheit der Elemente mit ihren satten Farben.
Noch am selben Tag, ohne einen Gedanken an Schlaf zu verlieren, packte er die Koffer und fuhr davon. Die Vergangenheit verschwand im Rückspiegel und mit ihr das vertraute Gefühl, Teil eines makellosen Systems zu sein.
Lind genoss die Vielfältigkeit der Landschaften und wartete ungeduldig auf das, was sich den Horizont nur mit dem Himmel teilte - das Meer. Nebel auf dunklem Blau, stumm und mächtig, so wirkte es auf Lind in der Ferne.

Nur wenige Meter vor der Treppe des Hauses schluckte der Sand die letzte Kraft der Brandung. Lind war überwältigt vom Meeresrauschen. Das Haus war geräumig und hell, Holz verströmte einen behaglichen Geruch. Schnell hatte Lind seine Sachen verstaut, um sich schließlich noch ein wenig umzusehen.
Ein in Leder gebundenes, schwarzes Buch lag auf dem Esszimmertisch. Lind blätterte darin und verstand schnell, daß dies das Gästebuch sein musste. Viele Namen standen darin, manche waren
sogar mit anderen überschrieben worden. Das Buch jedenfalls war übervoll, aber Lind ließ sich davon nicht abhalten und fügte seinen Namen noch hinzu. Dann setzte er sich mit einer Tasse Kaffee auf die oberste Treppenstufe.
Die Stimmung, die in ihm wuchs, verglich er mit Wogen von Wasser, die sanft über seinen Bauch strichen. Dieses Gefühl entlockte ihm ein Lächeln. Die Sonne senkte sich langsam zum Untergang.
Lind schenkte sich den Rest Kaffee ein und wanderte im letzten Licht am Strand entlang.
Allerlei Strandgut hatte das Meer angespült. Da lagen Holzplanken, eingewickelt in zerrissene Fischernetze. Plastikflaschen tanzten zwischen Land und Wasser hin und her. Möwen segelten im Aufwind.
Lind beugte sich über eine schwarze Muschel und hob sie auf. Eine solche Muschel hatte er nie gesehen, aber schließlich kannte er auch nur die Muscheln, die in der Stadt die Schaufenster der Reisebüros zierten. Er schlenderte weiter und fand noch eins dieser imposanten Dinger, beachtlich größer als das andere. Als er zum Haus zurückschlenderte, war es bereits dunkel, und sowohl seine Taschen als auch die Tasse waren voller Muscheln.
Alle wurden nun auf dem Esszimmertisch verteilt, und Lind betrachtete die Vielfalt der Formen.
Jede Muschel hatte Haken und Löcher. Lind machte sich einen Spaß daraus, sie miteinander zu verbinden, und mit der Zeit entstand etwas, das aussah wie ein Ritterpanzer.
Lind betrachtete sein Kunstwerk und begann zu lachen. Es erinnerte ihn an ein Puzzle, und das gefiel ihm so gut, daß er beschloss, gleich am nächsten Tag nach weiteren Muscheln zu suchen. Zufrieden, ohne Gedanken an seine Krankheit, schlief er ein.
Am Morgen trank er hastig seinen Tee und stöberte im Keller nach Kisten. Bis zum Nachmittag hatte er fünf Kartons voller schwarzer Puzzleteile. Er fand keine weiteren mehr und machte sich ans Zusammensetzen. Dafür verlegte er sein Puzzle ins Wohnzimmer, doch auch dieses war nicht groß genug, und so trug er alles hinters Haus.
Am dritten Tag, als nur noch eine Kiste mit Muscheln übrig war, erstarrte Lind während seiner Arbeit. Das Gebilde gab sich nicht länger mit dem flachen Boden zufrieden. Es nahm eine
körperähnliche Form an. Zuerst war da ein Rumpf, dann eine Art Hals, der in einen Kopf mündete, aber dieser war noch nicht vollständig. Lind zitterte vor Aufregung, hatte er sich doch nie
träumen lassen, welch unbewusste künstlerische Schaffenskraft in ihm geschlummert hatte.
Aus dem Inhalt der letzten Kiste setzte er einen Drachenkopf zusammen. Die Muscheln ähnelten nicht länger Muscheln, sondern Schuppen. Lind war überwältigt. Er stolperte ein paar Schritte zurück und gönnte seinen Augen einige Momente der Regungslosigkeit. Dann stieg er behutsam auf den Rücken des Drachen.
Der schuppige Panzer gab nicht nach unter dem Gewicht des Mannes. Lind legte seine Arme um den Drachenhals, schloss die Augen und fühlte sich wie ein kleiner Junge.
Mit einem Mal verspürte er einen Ruck. Erschrocken hielt er sich an dem Hals fest. Der richtete sich auf, Lind spürte etwas an seinen Beinen entlangstreichen, öffnete erstaunt die Augen und sah Flügel sich aus dem Inneren des Geschöpfs hervorschieben.
Ehe sich Lind zum Absprung überreden konnte, befand er sich schon hoch in den Lüften. Der Drache schnaubte, der Mann hielt sich fest und blickte auf die Wolken, die Sonne erwärmte die kühlen Schuppen. Lind fühlte Vertrauen zu diesem Wesen und dachte an die Geschichten, in denen es auch gute Drachen gab. Er befand sich inmitten einer solchen Geschichte. Jegliches Gefühl von Zeit war ihm abhanden gekommen, ab und zu streichelte er dem Drachen den Hals.
Schließlich verloren sie an Höhe und durchflogen die Wolkendecke. Feuchtigkeit benetzte sie wie Tau am Morgen. Lind erblickte eine Insel, nicht groß, aber reich an Bewuchs; er sah nun auch Menschen am Strand stehen, andere kamen hinzu. Sicher landete der Drache im Sand.
Männer und Frauen mit freundlichen Gesichtern begrüßten Lind. Der Drache schien keine Verwunderung bei ihnen auszulösen, sie streichelten ihn.
Lind stieg ab und blickte auf die Menschen, blickte in ihre Gesichter und dachte an das Gästebuch. Sie nahmen ihn in ihre Mitte. Er blickte noch einmal auf den Drachen. Der schien zu schlafen. Die Brandung berührte ihn wie kleine Hände, und wie kleine Hände baute das Wasser den Drachen Stück für Stück auseinander. Ein Teil nach dem anderen verschwand in den Fluten, aber Lind war sicher, daß er wiederkommen würde, und freute sich darauf.

 

hallo Ingwer,
die geschichte gefällt mir sehr, eine der schönsten, die ich in letzter zeit las.
klar und zielstrebig geschrieben, mit impressionistisch verträumter sprache und einer erstaunlichen wendung. wohin die story führen würde, blieb mir bis fast zum schluss unklar. zwar gab das gästebuch den hinweis, das dort schon andere wie er waren, aber was mit ihnen geschah? okay, der drache hat sie rübergebracht, oder sollte ich sagen der (lind)wurm? vielleicht ist der drache nicht nur sprachliches gegenstück, sondern auch eine andere entsprechung des protagonisten.
das phantastische ende mit dem guten drachen ließ mich an jemanden denken, der sich am lebensende aus seinen erinnerungen ein bild zusammenbaut und sich selbst als erstmalig als ganze person wahrnimmt, durch die klarheit der letzten tage. dieses gefühl der ganzheitlichkeit lässt ihn dann mithilfe seines totemtiers sicher und froh sein leben beenden - auf die andere seite reisen.

beim zweiten satz befürchtete ich noch, der text könnte unnötig verschachtelt werden.

Völlig entgeistert und mit fahlem Gesicht schlenderte er, teilnahmslos dem Weltgeschehen gegenüber, durch die Straßen.

der nebensatz bringt den satz aus dem fluss

betrachtete er die Leuchtreklamen, die langsam in der Dämmerung verblassten.

vorsicht, korinthenattacke! die leuchtreklamen verblassen nicht, sie heben sich nur weniger ab.

was sich den Horizont nur mit dem Himmel teilte - das Meer.

das las ich bisher noch nirgendwo, so schlicht und gut!

so, dann will ich dir mal nicht noch mehr zeit stehlen!
freundliche grüße

 
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Guten Abend, Ingwer Erwinsson, willkommen!

Das ist eine zauberhafte Geschichte, richtig was fürs Herz. Besonders schön finde ich, wie der Held seine Krankheit beim Muschelsuchen und Spielen vergißt. Und dann hat er sich ein ... Fluchtfahrzeug zusammengebaut.
Ich hab das so verstanden, daß alle, die der Arzt da hinschickt, die Möglichkeit haben, dem Tod zu entkommen und auf dieser Insel weiterzuleben. So einen Arzt will ich auch mal haben.
Deine Sprache gefällt mir sehr. Der Satz mit dem Horizont, den Kubus schon erwähnt hat, hat mich auch besonders beeindruckt. Und die kleinen Hände!

Viel Freude hier beim Lesen und Schreiben,
Makita.

P.S. Hübscher Name!

 

Hallo Ingwer Erwinsson,

und auch von mir ein herzliches Willkommen.

Schöne Geschichte. Da kann ich mich nur anschließen. Und obwohl ich persönlich das Ende ja ein wenig kitschig fand, kann ich es Deiner Geschichte nicht zum Vorwurf machen. Es passt da einfach hin und es ist ein schönes Bild, wie das Meer sich die Muscheln zurück holt; wie man wieder geht, woher man kommt (oder so).

Sprachlich gefällt mir die Geschichte ausnahmslos gut.

Er hatte Sehnsucht nach Farben, zum Beispiel die des Meeres, noch nie hatte er das (Absatz?)
Meer gesehen.

... Viele Namen standen darin, manche waren (Absatz?)
sogar mit anderen überschrieben worden.

... Es nahm eine (und noch mal - Absatz?)
körperähnliche Form an. Zuerst war ...

Lind zitterte vor Aufregung, hatte er sich doch nie (Abs...;))
träumen lassen, ...

Mit besten Grüßen
Fliege

 

Hallo Ingwer Erwinsson,

eine schöne Geschichte über die Wiedergeburt in der Vergänglichkeit ist dir gelungen, verträumt und zart.
Wahrscheinlich habe ich so viele Details notiert, weil ich kleine Ungenauigkeitein einer so schönen Geschichte wirklich schade finde, also erschrick nicht über die lange Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Bis zum Morgengrauen bewegte er sich sinnlos inmitten tausender Menschen.
ob sinnlos, weiß ich nicht. Vielleicht eher ziellos?
Klar hatte er selbst diese Vermutung und das Gefühl gehabt, daß etwas Fremdes und Lebensbedrohliches in ihm wuchs.
Ist zwar bisher nur ein "dass", aber da es bisher ja nur eine Vermutung war, sollte die vielleicht in den Konjunktiv. Und dann könntest du auch die Formulierung ohne "dass" gestalten: Klar hatte er selbst die Vermutung (und das Gefühl) gehabt, etwas Fremdes und Lebensbedrohliches wüchse in ihm, er hätte sich aber (doch) gern getäuscht gewusst.
der die Einöde vertrieb, war der Satz, daß andere Menschen nicht besser dran waren als er
ungenau, denn wenn du es als "Satz" bezeichnest, der aber nur indirekt wiedergegeben wird, müsste es in den Konjunktiv (wäre natürlich bei dieser Nebensatzeinleitung immer so). Eventuell den Gedanken als Floskel bezeichnen.
Er wühlte jetzt in seiner Jackentasche herum
"jetzt" hilft weder dem Satz noch der Chronologie noch der Melodie oder dem Rhythmus weiter.
Als er in seiner kleinen Wohnung saß und auf seine große Uhr starrte, kramte er dabei in den Taschen des Mantels, den er angelassen hatte
auf der Straße trug er noch eine Jacke, angelassen hat er aber einen Mantel; das in seiner Wohnung seine Uhr hing, ist klar, müsste nur erwähnt werden, wenn sich seine Uhr in einer fremden Wohnung befände.
Er hatte Sehnsucht nach Farben, zum Beispiel die des Meeres
denen des Meeres
Lind genoss die Vielfältigkeit der Landschaften
Die Sehnsucht nach Farben in der Beschreibung der Wahrnehmung aufnehmen, nicht nur bei "Nebel auf dunklem Blau". Dabei brauchen die Farben nicht zwingend genannt werden, er kann sich sowohl am satten Grün der Weiden als auch einfach an den blühenden Rapsfeldern erfreuen.
Holz verströmte einen behaglichen Geruch.
Auch hier hast du durch die Art des Holzes eine Möglichkeit, Farbgebung und auch Geruch wahrnehmen zu lassen. Kiefer sieht anders aus und riecht anders als Eiche oder Buche.
Ein in Leder gebundenes, schwarzes Buch lag auf dem Esszimmertisch
Ein in schwarzes Leder gebundenes Buch - das ist deshalb wichtig, weil es zu "schwarzen Büchern" jenseits der Farbgebung festgelegte Vorstellungen gibt.
und verstand schnell, daß dies das Gästebuch sein musste.
ich bin sicher, die meisten Leser haben das schon beim schwarzen Leder verstanden, schon deshalb, aber vor allem durch deine folgenden Zeilen ist dieser Nebensatz überflüssig. Vielleicht eher verbinden: Lind blätterte durch die vielen Namen derer, die sich eingetragen hatten.
Die Sonne senkte sich langsam zum Untergang
wozu sonst?
Lind beugte sich über eine schwarze Muschel und hob sie auf. Eine solche Muschel hatte er nie gesehen, aber schließlich kannte er auch nur die Muscheln, die in der Stadt die Schaufenster der Reisebüros zierten.
Ich denke ja bei schwarzer Muschel zunächst an Miesmuscheln, die passen allerdings nicht zu "imposante Dinger". Beide Beschreibungen bringen mir die Muschel leider nicht näher.
Als er zum Haus zurückschlenderte, war es bereits dunkel
Sächlicher Bezug liegt noch auf "ein(e)s der imposanten Dinger", die allerdings sind schon schwarz, können also nicht noch dunkler werden.

Zum Abschluss noch einmal: Trotz der langen Liste - die Geschichte hat mir gefallen.

Liebe Grüße
sim

 

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