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Quebec
Quebec
Meine Schwester war außer sich. Sie wartete keinen weiteren Satz von mir ab, sprang auf und rannte laut schimpfend im Zimmer herum.
Ich wusste, dass es so kommen würde. In meiner Couchecke hockend, schlang ich die Arme um meine Knie und sah abwartend zu ihr hoch.
Meine Güte, wenn sie zufällig auf mich fiele, wäre ich platt! Ellen war ziemlich füllig.
„Nach Quebec, ja? Das habe ich wirklich richtig verstanden?“ Sie baute sich vor mir auf und legte eine Hand hinter das rechte Ohr. „Meine kleine Schwester Katrin will nach Quebec?“
„Genau. Nach Quebec.“ Ich blieb ruhig, sie drehte weiter auf.
„Du bist doch komplett verrückt! Was willst du denn in Quebec, in Kanada?“
Ellen wanderte wieder um die Möbel, sie stampfte und fuchtelte mit den Armen herum.
„Ich meine, du hast doch null Ahnung, was dich erwartet, kennst keinen Menschen da! Stell dir mal vor, dir geht es nicht gut, du wirst krank, schlimm krank vielleicht, dann….“
Jetzt musste ich eingreifen, sonst würde das hier ausufern. Ellen liebte hysterische Ausschmückungen ihrer Auftritte.
„Ich bin versichert, Ellen. Schon vergessen? Ich habe ein Visum und einen Job, und ich gehe in ein zivilisiertes Land!“ Ich streckte eine Hand nach ihr aus. „Jetzt komm doch mal her und setz dich zu mir.“
Ellen unterbrach ihre Wanderschaft und sah mich misstrauisch an.
„Ich lasse mich auf keinen Fall von dir einwickeln, Katrin.“ Meine große Schwester schlurfte mit hängenden Armen auf die Couch zu und setzte sich in andere Ecke.
Ihre Stimme klang nicht mehr ganz so angriffslustig, als sie sagte. „Los, erklär es mir!“
„Na ja, es gibt nicht viel zu erklären. Ich wollte einfach von Qualityjob weg. Ich will nicht mehr von einem Job zum anderen geschickt werden, das ist alles.“
Ein neuer Sturm zog auf.
Ellen hatte es lange genug auf dem Sofa ausgehalten.
„Okay, aber musst du deshalb nach Quebec, verdammt noch mal?“
Sie wanderte wieder herum, schlug mit der Hand auf den Tisch und schrie mich an.
„Das ist doch keine Erklärung! Das akzeptiere ich auch nicht! Deswegen gehst du nicht weg, darauf wette ich! Du kannst zu einer anderen Zeitarbeitsfirma wechseln, du kannst dir auf eigene Faust einen Job suchen, du kannst tausend Dinge tun. Mensch Katrin, du bist Bürokauffrau, und willst in einer fremden Familie im kalten Kanada fremden Kindern den Arsch abwischen? Ich glaub es nicht…,Quebec, so ein Mist!“
Ellen schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
Plötzlich begriff ich, wie groß ihre Angst war. Sie würde in unserer Wohnung zurückbleiben.
War es da nicht ihr gutes Recht, eine vernünftige Erklärung zu bekommen?
Ich hatte aber wirklich keine. Ich wollte einfach mal weg, wahrscheinlich auch von Ellen.
„Ich fand es lustig, in eine Stadt zu gehen, die mit Q anfängt, genau wie diese blöde Quality-Agentur. Irgendwie gibt es mir das Gefühl, denen damit ein Schnippchen zu schlagen.“
Ich wusste, wie bescheuert sich das anhörte, doch es stimmte.
Ellen starrte mich an. Sie kam zurück zur Couch, schweratmend und offensichtlich völlig ratlos, mit Tränen in den Augen. Scheiße. „Katrin“, sie flüsterte fast, „aber dann hättest du doch nach Quedlinburg oder Quakenbrück gehen können. Wieso denn Quebec?“
Ellen nahm meine Hände. Sie sah mir unverwandt ins Gesicht. Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten. Quebec ist weiter weg, dachte ich und Ellen kannte meine Gedanken.