Quittung
Surren, elendes Surren. Dieses Biest, diese verdammte Fliege. Sie lässt mich nicht in Frieden, krabbelt über meine Beine, schwirrt um mein Gesicht, brummt neben meinen Ohren hindurch. Zum x-ten Mal hole ich aus und fuchtle mit der zusammengerollten Zeitung um mich. Doch ich schlage ins Leere, verfehle das Tier. Tief durchatmen. Die Decke anstarren. Warten, bis sich der Puls beruhigt.
Ein Blick nach vorne, über die zwanzig Köpfe hinweg zur Kasse. Die Frau dort plaudert gelassen mit dem Verkäufer. Über Ferienpläne und so, die Kinder, das Wetter. Mir strömt Schweiss über die Stirn. Meine Finger zittern. Ich spüre es, tief in mir. Ich beiss mir auf die Lippe, wenn immer die Frau zu einem neuen Satz ansetzt und dämlich grinst.
Um mich abzulenken, nehme ich das Handy hervor, klappe es auf und wähle Alinas Nummer. „Alina?“, frage ich fiebrig, dabei hat sie noch gar nicht abgenommen. „Alina? Alina?“ Es ist so heiss hier im Laden, heiss und stickig. Es ist kaum auszuhalten. „Alina?“ Ich werde ungeduldig und auch die Fliege ist wieder da, saust vor meinen Augen hindurch und landet auf meiner Schulter. Ich will nach ihr schlagen, aber eine aus dem Hörer klingende Stimme hält mich davon ab. „Manuel, ist was?“
„Ja, ja, ich ...“ Ich muss Luft holen, die Fliege verjagen, Schweiss von der Stirn wischen und den Satz neu beginnen. „Ja“, sage ich endlich, „ja, ich wollte dir zum Geburtstag gratulieren und sagen“ – atmen! – „und sagen, dass ich zu spät zur Party komme. Ich stecke hier fest und ...“
„Ist gut. Also, bis dann.“
„Es tut mir ...“
Aufgelegt. Und wieder scheint die Schlange vor der Kasse eher länger als kürzer geworden zu sein. Wenigstens ist die Quasseltante nun endlich bei der Verabschiedung angelangt. Aber diese Scheissfliege, die quält mich noch immer. Ein altes Pärchen kehrt sich jedes Mal vorwurfsvoll um, wenn ich das Flugmonster mit der Zeitung zu erwischen versuche. Weiter vorne schimpft ein anderer Ungeduldiger vor sich hin. Seine Freundin zerrt ihn aus der Schlange, will hinüber zur Nebenkasse, aber dort warten die Leute noch länger.
Bald 19 Uhr, so zumindest behauptet es die Digitalanzeige über dem Ausgang. Die Zeit, um die ich bei Alina hätte sein sollen, ihr Küsschen auf die Wangen geben, mein Geschenk überreichen, sie lächeln sehen. Dieses bezaubernde Lächeln. Ein Strahlen eher, radioaktiv. Es lässt mich alle Sorgen und Schmerzen vergessen. Alleine die Erinnerung an ihre Augen genügt, um meinen Herzschlag zu beruhigen. Poch. Poch. Nicht mehr Pochpochpoch. Für einen kurzen Moment höre ich auf mein Herz und träume, nur um mich dann von Neuem durch das Surren der Fliege in die wahre Welt zurück zerren zu lassen. Diese stinkende, hässliche wahre Welt.
Der Kassier steht auf, will etwas sagen. Ich sehe es über die Köpfe der anderen Wartenden hinweg. Ich vergesse die Fliege und hoffe für einen Moment, dass nun eine dritte Kasse aufgehen würde.
„Entschuldigen Sie bitte“, beginnt der Kassier. „Entschuldigen Sie, aber diese Kasse schliesst jetzt. Sie müssen da drüben anstehen.“
„Scheisse!“, schreit ein Mädchen mit violett gefärbtem Haar. Auch andere Leute regen sich auf. Das alte Ehepaar verwirft die Hände, der Fettsack vor mir flucht laut. Ich bleibe nur stehen. Nicht mal den Schweiss wische ich von meiner Stirn und auch die Fliege lass ich friedlich über meine rechte Wange krabbeln. Keine Bewegung, kein Wimpernzucken. Warten. Geduld.
Nach und nach fügen sich die Leute und stehen an der letzten verbleibenden Schlange an. Sie schimpfen noch eine Weile und schütteln die Köpfe, während der Kassier seine Sachen zusammenpackt. Endlich ist es soweit. Ich trete vor, bis hin zum Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“ und stelle die Weinflaschen aufs Band. Der Kassier schaut mich verwirrt an und erklärt: „Tut mir Leid, hier ist geschlossen. Sie müssen da drüben anstehen.“
Ohne die Worte zu beachten, suche ich zwei Hunderter aus der Tasche und strecke sie ihm zu. „Das müsste reichen. Behalten sie das Rückgeld und die Quittung.“
Zögernd schüttelt der Kassier erneut den Kopf und meint: „Tut mir Leid, nein, das geht nicht. Sie müssen anstehen.“
„Ich hab’s eilig. Nehmen sie das Geld, es reicht bei weitem.“ Und nach kurzem Überlegen füge ich noch ein eindringliches „Bitte“ hinzu.
Der Kassier mustert mich, denkt nach. Schliesslich wendet er sich ohne Kommentar ab und schreitet davon. Zumindest will er das.
Denn ich bin schneller. Ich war schon immer schnell, schon im Sportunterricht in der Schule und auch heute noch, und ich bin stark. Ich packe ihn am Oberarm. Er ist ein Krüppel, das sieht man ihm an. Etwa dreissig, Kettenraucher, hat’s im Leben zu nichts gebracht, sitzt in seiner Freizeit ohne Unterbruch auf dem Sofa seiner Einzimmerwohnung, schaut langweilige TV-Serien und schläft zu wenig. Er kann sich nicht wehren. „Du nimmst jetzt die zwei Hunderter, klar?“
„Nein!“ Er versucht, sich loszureissen, aber ich packe erst recht zu und zerre ihn am Kragen in die Luft. Ein paar Leute aus der Nachbarschlange schrecken auf, einige applaudieren, aber ich höre sie kaum. „Mach jetzt deinen Job und ...“
„Lassen Sie den Mann los!“, ertönt eine Stimme hinter mir. „Polizei. Ich bin bewaffnet, also lassen Sie jetzt den Mann los und beruhigen Sie sich.“
Einen Moment lang herrscht Stille, dann flüstere ich: „Tut mir Leid, ich habe keine Zeit für das.“ Noch während dem Wort „das“ stosse ich den Kassier weg, drehe mich und reisse dem Polizisten die Pistole aus den Händen. Alles geschieht so schnell, dass der Kerl nur zusehen kann. Wehrlos steht er vor einem Chipsregal und starrt in den Lauf seiner eigenen Pistole.
Ein Schuss. Vorbei am Polizisten, dafür ist die Scheissfliege tot, glaube ich. Mit einem Lächeln auf meinen Lippen wende mich wieder dem erstarrten Kassier zu. Ohne weiteres Zögern legt er das „Geschlossen“-Schild beiseite und nimmt die beiden Hunderternoten entgegen. Er sucht sogar Rückgeld heraus.
„Hier“, sagt er unterwürfig und ich erwidere ein freundschaftliches „Danke“. Jetzt gehe ich. Zu Alina. Und nichts kann mich aufhalten.
Auf der Strasse ist es nicht mehr so verdammt heiss wie noch am Nachmittag. Die Sonnenstrahlen finden kaum mehr einen Weg an den Häuserdächern und Bäumen vorbei bis hinunter auf den Erdboden. Dennoch ist die Luft unangenehm schwül, durchsetzt mit dem Gestank von Autoabgasen, Hundekot, liegen gelassenem Abfall.
Ich bin schon tief ins Stadtzentrum vorgedrungen, als ich die Pistole in meiner Hand bemerke und mich frage, ob ich ein Wahnsinniger sei. Der Gedanke beginnt mir zu gefallen. Manuel, der Verrückte, der Spinner, der Wahnsinnige. Zufrieden überquere ich die Strasse. Die Autofahrer lass ich hupen. Ich muss zu Alina. Ich will zu ihr, ich will ihr Gesicht sehen, ihre Haare berühren, sie lachen hören.
Während ich eintauche ins Dunkel der nächsten Nebengasse, stecke ich die Pistole in die Hosentasche und klappe stattdessen das Handy auf.
„Alina?“, frage ich, kaum habe ich ihre Nummer angewählt. „Alina? Alina? Alina?“ Ich remple einen alten Mann an, so vertieft bin ich. Eine gemurmelte Entschuldigung, dann wieder: „Alina?“ Und sie antwortet: „Manu? Was ist jetzt schon wieder?“
„Ich – ich komme gleich. Ich bin schon auf dem Weg zu dir.“
„Wie schön.“ Aufgelegt.
Aufgelegt. Ich verharre, schaue das Handy ungläubig an. Einfach aufgelegt. Oder eine Fehlfunktion? Glaubt Alina jetzt, ich hätte aufgelegt? Ich sei so unfreundlich? Wütend werfe ich das Mobiltelefon auf den Pflasterstein, trete darauf, nehme schliesslich die Pistole und schiesse das Scheissteil kaputt. Die Leute um mich erschrecken, aber ganz ehrlich: Die Leute sind mir egal. Mir sind alle Leute egal, alle ausser Alina. Ich gehe einfach weiter, etwas schneller vielleicht. Alina kann nicht ewig warten. Nicht auf den Wein, den ich noch immer bei mir trage, nicht auf mein Geschenk für sie, aber vor allen Dingen kann sie nicht länger auf mich warten.
Der Weg ist kompliziert, die Stadt ein Labyrinth. Rostige Fahrräder sind an Laternen gekettet, Katzen lungern herum, Coladosen liegen auf dem Gehsteig. Mir rinnen Ströme aus salzigem Schweiss über den Nacken und den Rücken hinunter. Ich fühle mich verloren in den Häuserschluchten. Der Kontakt zu Alina – er ist abgebrochen. Ich bin alleine im Gewirr der Betonbauten.
Kinder spielen auf der Strasse, ich weiche ihnen aus. Kinder machen mich nervös. Alte Leute schlurfen durch die Gegend, schon halb vermodert. Auch sie machen mich nervös. Jugendgangs in den Innenhöfen am Kiffen. Ich schaue ihnen nicht in die Augen. Fallen, überall Fallen. Aber ich lasse mich nicht aufhalten. Meine Liebe zu Alina gibt mir die Kraft, jedes Hindernis zu überwinden. Ich bin mir sicher. So sicher!
Ich schliesse meine Augen und atme den ganzen Dreck der Stadt ein. Ich sehe tief in mich hinein, in die lodernden Feuer und das Chaos, das nur von Alina geordnet werden kann. Ich habe Angst, glaube ich, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Etwas Unheimliches geschieht. Ich sehe Würmer durch meine Blutadern kriechen und Spinnen, welche ihre Netze in meiner Lunge aufspannen. Ameisen klettern in mein Gehirn. Maikäfer krabbeln durch meinen Magen. Ich sehe, wie ich von Innen aufgefressen werde. Und ich glaube, das ist gut so.
Als ich die Augen wieder öffne, feure ich die Pistole ein paar Mal ab. Auf einige Fenster, dann auf einen Hund, der vor einem Supermarkt auf sein Herrchen wartet. Es tut mir gut. Es gibt mir das Gefühl, frei zu sein. Ich sehe klarer, ich erkenne den Plan, die Fallen der Stadt. Ich verstehe endlich, dass sie mein Feind ist. Sie ist es, die mich aufhalten will. Ich hätte es schon früher begreifen sollen. Ihre Augen sind überall, die Überwachungskameras, die Polizeiautos, die Kids mit ihren Mobiltelefonen. Und in der Zwischenzeit greift sie bereits wie ein Oktopus mit all ihren vielen Armen nach mir.
Schweiss. Ich halte die Pistole fest umklammert. Der Stahl gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Ich schaffe es. Ich bahne mir einen Weg durchs Labyrinth. Alina, ich komme. Ich komme! Geliebte, verehrte, unvergleichliche Königin der Welt, ich komme!
Über eine Brücke schleppe ich mich weiter. Ja, ich bin auf dem richtigen Weg! Der Park ist auf der anderen Seite, beim Schloss, irgendwo. Es ist nicht mehr weit. Ich bin fast da! Fast da!
Rotsignal. Autos rasen vor mir hindurch und bremsen mich aus. Die Sonne geht bald unter. Nur noch ein rotes Glänzen am Abendhimmel. Grün! Werd schon grün. Sekunden dauern ewig. Ich bin müde, fühle mich schwach, krank. Meine Knie zittern. Grün! Ich reisse mich zusammen. Jetzt, grün, gehen, gehen!
Ein Schritt nach vorne, direkt in den Schmerz. Ich begreife erst nach einer Weile, was geschehen ist. Wein aus zerbrochenen Flaschen fliesst mir über die Beine und vermischt sich mit Blut. Ich liege, wird mir klar. Ich liege auf der Strasse. Ein paar Meter entfernt eine Frau. Ihr Haar ist verknoten in den Speichen eines Fahrrads, das nur noch ein Haufen Schrott ist. Sie hat mich gerammt.
„Du – du – du dumme Kuh!“, schreie ich und stehe auf. „Du ... Ich hasse dich!“ Meine Wut ist echt. Meine ganze Wut. Ich ziehe die Pistole. Dieser Mensch, dieser Mensch, er hat es nicht verdient zu leben. Ich schiesse, irgendwo in den Asphalt. Meine Augen sind geschlossen. Die Frau starrt mich an, glaube ich, aber ich weiss es nicht. Dann schreit sie kurz, weil ein zweiter Schuss sie im Hals erwischt und weil sie nun stirbt. Sie hat es verdient. Mein Bein schmerzt. Ich möchte weinen. Aber ich kann nicht. Ich habe keine Zeit. Alina wartet. Alina, Alina! Ich möchte ihren Namen schreien. Ich erinnere mich wieder an ihr Gesicht als ich sie zum ersten Mal sah. Ein Junge war ich, war noch in der Lehre. Friedhofsgärtner. Ich war gerade am Hecken schneiden, als ich sie vor diesem Grab stehen sah, eingepackt in einen schwarzen Mantel. Sie weinte. Ich weiss nicht, weshalb. Keine Ahnung. Aber ich liebte sie. Ich habe mich sofort verliebt. Ihre Tränen waren echt, so echt wie nichts sonst auf dem Planeten.
Sie kommen. Ich weiss es. Die Stadt schickt ihre Jäger aus. Sirenen in der Ferne. Sie umkreisen mich. Aber so leicht kriegen sie mich nicht, nein, heute ist Alinas Geburtstag und ich werde ihn feiern, mit ihr, zu zweit. Ich liebe sie. Und mein Marsch für die Liebe kann nicht gestoppt werden. Heute erreicht Manuel sein Ziel, heute ist Manuel verrückt, heute tut Manuel, was er will. Heute, heute küsst Manuel Alina und niemand kann das verhindern.
Ich seufze und lächle bei dem Gedanken. Sehnsucht treibt mich voran. Sehnsucht, das einzige reale Gefühl, ausser vielleicht Wut und Hass. Sehnsucht ist mein Wegweiser durchs Labyrinth. Sehnsucht ist der Pfeil, der in Richtung Alina zeigt.
Ein Kreischen weckt mich schliesslich aus meinen Gedanken. Ich schaue mich um. Die Leute schreien verängstigt und rennen. Sie fliehen vor mir, erkenne ich. Sie haben Angst vor dem Zorn in meinen Augen, der Waffe in meiner Hand, der Überzeugung in meinen Zügen. Sie verstecken sich in den Boutiquen, hinter Türen, Telefonzellen, Autos. Furcht, pure Furcht, ich rieche sie und geniesse das Gefühl. Sie haben Angst vor einem zweitklassigen Friedhofsgärtner. Jetzt ist die Stadt mein Friedhof.
Manchmal richte ich die Waffe auf eine Frau oder so, sie kreischt dann. Oder auf Kinder, die kreischen nicht, starren nur in meine Richtung. Und dann ist da noch dieser fette Sack, der mir nicht aus dem Weg gehen will und dem ich direkt in den Bauch schiesse. Blut und Fett rinnen aus der Wunde. Er sackt zusammen und fällt. Ein Klatschen, wie wenn ein Wasserballon zerplatzt. Dann gehe ich weiter meinem Ziel entgegen. Der Park ist ganz nah.
Der Torbogen am Eingang des Parks ist mit Blumen verziert, wie zu einer Hochzeit. Ich schreite hindurch, stolz und mit der Gewissheit, meinem Ziel ganz nahe zu sein. Fast rieche ich die Grillwürste. Euphorie. Meine Mundwinkel beginnen unkontrolliert zu zucken, ich will rennen, rennen zu Alina.
„Hey, Manu!“, ruft da jemand und ich drehe mich um. Im Halbdunkel der anbrechenden Nacht erkenne ich zwei Gesichter: Roman, Alinas Bruder, und seine Freundin Melanie. Ich hasse beide.
„Hallo“, sage ich zögernd.
„Auf dem Weg zur Party?“
„Mhm.“
„Wir auch“, sagt Roman. Seine aufgesetzte Lockerheit, seine Überheblichkeit, die Art wie er Melanie an der Hüfte hält, alles verabscheue ich. „Was ist mit deinem Bein passiert?“
„Nichts.“ Ich will rennen, zu Alina, nicht mit diesen Vollidioten herum schlendern. Mein Finger am Abzug der Pistole zucken. Ich glaube, Melanie hat die Waffe unterdessen bemerkt. Sie versteckt sich etwas hinter ihrem Freund. Sie war schon immer feige. Immer weicht sie mir aus, will nicht mit mir reden. Sie hat sogar versucht, Alina gegen mich aufzuhetzen, hat ihr dumme Geschichten über mich erzählt und so, aber Alina würde ihr nie glauben, das weiss ich. Alina ist viel zu klug und gut und lieb.
Ich höre Sirenen. Die Greifärme der Stadt, ganz nah. Roman starrt mich an. Ich erwidere seinen Blick. Roman, Roman, Roman. Glaub bloss nicht, ich hätte die künstliche Freundlichkeit vergessen, mit der du mich von Alinas Party ausladen wolltest. „Hey, sorry Manu, die Party ist leider nur für Leute die mit Alina zur Schule gingen.“ Und was ist mit dir, du Arschloch? Du bist vier Jahre älter als Alina und bestimmt nie mit ihr zur Schule, ha! Und schon gar nicht diese Melanieschlampe. Ihr wollt nur unsere Liebe verhindern, ich weiss es! Ihr seid die Wand zwischen mir und Alina, die Wand, die ich mit einem Panzer zertrümmern muss.
Die Kugeln fliegen schon. Sie zerfetzen Haut und Muskeln, durchtrennen Arterien, zersplittern Knochen. Ein blutiges Fleischgeflecht geht zu Boden und ich schreie dem Sonnenuntergang entgegen. Mit meiner ganzen irren Seele. So gut! So befreiend! Melanie rennt. Ich rufe ihr nach: „Lauf, Schlampe, lauf!“ Und ich lache und ich schiesse, bis sie nach vorne fällt und sich den Kopf an einem Stein aufschlägt. Ihr Körper zuckt noch. Ich gehe zu ihr und stampfe auf ihr Gesicht. Für einen Moment vergesse ich sogar Alina, so gut ist das.
Erst die Rufe der Polizisten holen mich zurück in die wahre Welt. Blaulichter blinken, Autos rasen durchs Hochzeitstor. Sie sind da. Ich habe zu lange gewartet.
Mein Fehler. Aber nicht mein Ende, nein, denn heute lass ich mich nicht besiegen, heute gibt es keine Kapitulation, heute gibt es nur Blut, immer mehr Blut, Flüsse aus Blut, rote Seen und Meere auf den Strassen, Berge aus Leichen, Knochenwälder, Fleischtürme, Sehnenweiden. Ich will töten und zerstören, alles was sich mir entgegen stellt.
Die Polizisten sehen mich. Sie gehen in Stellung. Sie rufen: „Waffen fallen lassen und Hände hoch!“
Ich atme tief durch. Ich beginne diese Momente zu geniessen, diese Stille vor dem Morden. Ich muss nicht überlegen, wohin ich schiesse soll oder wen ich als erstes töte. Es geschieht einfach.
Ein Polizist schafft es noch, selber abzudrücken, aber die Kugel zischt an meiner rechten Schulter vorbei. Ich ziele präziser und er stirbt. Ich schiesse, schiesse, schiesse. Wie Arnold Schwarzenegger stehe ich mitten im Kugelgewitter und schiesse. Ich bin eine Maschine, unverwundbar. Die Polizisten gehen in Deckung vor Angst, aber das hilft nichts, ich kann sie trotzdem töten. Ich kann alles. Ich bin mächtiger als die Stadt. Ich bin unbesiegbar. Ich könnte hier bleiben und ewig weiter schiessen.
Aber Alina wartet. Ich muss endlich los, rennen, zu ihr, zum Weiher. Rennen. Rennen bis ans Ende der Welt. Rennen. Zu Alina.
Die Leute springen hinter Bäume und Büsche, weinen vor Angst oder halten ihre Liebsten. Manuel der Verrückte mordet heute. Er schlachtet seine Feinde ab. Manuel der Verrückte. Nein, nicht Manuel der Verrückte, nein, ich bin der einzige bei Verstand in dieser irren Stadt. Ich sehe klar, ich kämpfe für die Liebes, ja, Liebe! Manuel der Weise, Manuel der Rächer, Manuel der Held, der Heilige, Manuel, Manuel!
Ich bin verrückt. Ich meine, ich weiss es. Mein Gehirn weiss das ganz genau. Aber es ist mir egal. Ich schreie so laut ich kann. Mein Kopf schmerzt. Pochende Schmerzen, kaum zu ertragen. Und da ist eine Stimme, die sagt „Töten! Töten!“. Immer wieder. Ich will zu Alina, sie küssen, sie lieben, mit ihr um die Welt reisen, auf Berge klettern, durch Flüsse schwimmen, im Zelt schlafen, frische Luft atmen. Ihre Haut berühren.
Der Park ist genauso ein Irrgarten wie die Stadt. Die Erkenntnis reisst mich abrupt aus dem Wahn. Ich bin einfach nur gerannt, über die Hügel hinweg, durch Täler, Wälder, an Wiesen vorbei. Wo ist der Weiher? Wo ist Alina. Ich muss sie finden. „Alina!“, schreie ich, Tränen in den Augen. Habe ich versagt? „Alina?“ Ein verzweifeltes, erbärmliches Wimmern. Sie soll mich in die Arme nehmen und trösten.
Auf die Lippen beissen, bis sie bluten. Und nicht aufgeben. Nie aufgeben. Nie, nie, nie. Umkehren, sich beruhigen. Aber kaum bin ich um die nächste Kurve gestrauchelt, da sehe ich schon eine ganze Horde von Polizisten auf mich zu rennen. „Da ist er!“, schreit einer. Ich schiesse. Überhastet, ungenau. Verfehle. Ich klettere die Böschung am Wegrand hoch. Kugeln peitschen vorbei an mir, schlagen Löcher in Baumstämme, aber halten mich nicht auf. Ich will die Anhöhe erreichen, den Park überblicken, Alina finden. Alina finden. Alina finden!
Dornen reissen meine Haut auf und das Blut vermischt sich mit Schweiss und Tränen. Einmal kehr ich mich um, schiesse und treffe. Wenig später bin ich oben angelangt. Mein Blick fällt auf den kleinen Teich, ganz in der Nähe. Ich bin fast da! Ein Grillfeuer brennt vor der Hütte am anderen Ufer, rundum Leute. Alinas Freunde und Kollegen. Und Alina selbst. Ich lächle. Ein Knall.
Ich lächle. Die Kugel hat meinen linken Unterarm getroffen und den Knochen zertrümmert. Ein loses Etwas hängt mir von der Schulter, aber wenigstens spüre ich keine Schmerzen. Ich kann weiterrennen, den Abhang hinunterstraucheln und über eine Wiese zum Weiher laufen. Die Leute dort blicken bestürzt in meine Richtung, einige gehen in Deckung. Es ist nicht mehr weit. Ich bin fast da.
Der nächste Schuss zerfetzt meine Schulter, ein anderer fegt am linken Ohr vorbei und ein dritter bleibt irgendwo in meinem Bauch stecken. Aber ich gebe nicht auf. Ich renne weiter und rufe Alinas Namen. Blut läuft mir aus dem Mund, ich wische es mit dem Ärmel ab, doch der ist selber blutüberströmt. Ich grinse: Ströme und Seen voller Blut. Vor allem aber habe ich nun mein Ziel beinahe erreicht. Ich glaube, ich kann sie schon sehen. Dieses perfekte Gesicht, die dunklen Augen, das Strahlen, ihr Lachen.
Mein linkes Knie gibt plötzlich nach. Ich weiss nicht wieso, kann keinen Schmerz fühlen, aber es will nicht mehr. Zwanzig oder dreissig Meter vor dem Weiher gehe ich zu Boden, robbe aber weiter aufs Wasser zu. Von den Leuten am Feuer sind unterdessen praktisch alle geflohen, aber sie steht noch da. Sie, in ihrem leichten Blumenkleid, sie, so unendlich schön, dass kein Bilderrahmen je ein Foto von ihr begrenzen könnte. Ich strahle, während die Kugeln auf mich einprasseln, versuche zu winken, aber meine Arme versagen. Und sie lächelt nicht. Sie ist blass und schockiert. Keine Freude. Jede Lebendigkeit hat sie verlassen. Mir wird kalt. Sie soll lachen! Ich will nicht, dass sie traurig ist oder Angst hat! Ich will, dass sie lacht, dass sie strahlt, so schön wie kein anderes Mädchen es kann! Ich will, dass sie glücklich ist! Heute, an ihrem Geburtstag! Ich will weinen, kann aber nicht.
Mir versagt der Atem. Zwei Meter vor dem Wasser. Wenigstens ist das Wetter gut, denke ich mir. Hinter mir nahen die Polizisten. Ich kann sie nicht sehen, nur ihre Rufe hören. Sie haben Angst, glaube ich. Sie fürchten, dass ich noch mehr von ihnen tot schiesse, aber ich kann nicht mehr. Alle Kraft hat mich verlassen. Ich sterbe, bin fast schon tot, das weiss ich. Ein Weiterleben gibt es nicht. Mein Plan ist gescheitert, meine Marsch für die Liebe missglückt, mein Ende gekommen. Ich habe es fast geschafft, nur ein paar Meter, ein paar Atemzüge, ein paar Herzschläge. Aber es hat nicht gereicht.
Ich frage mich, ob Alina an meiner Beerdigung weinen wird. Ob es echte Tränen sein werden. Ich weiss es nicht. Ich werde es nie wissen.
Nur so eine elende Fliege sieht mir beim verrecken zu. Meine verletzten Arme können sie nicht verscheuchen. Ich bin wehrlos und das weiss sie. Respektlos krabbelt sie über meine blutige Nase und lacht mich dabei aus. Können Fliegen überhaupt lachen? Wahrscheinlich nicht, antwortet mein Gehirn. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich nicht. Nur ein dumpfes Echo aus der Ferne. Wahrscheinlich nicht. Aber ich höre sie trotzdem lachen.