Rückkehr
Diesmal war er sich endgültig im klaren. Er weiß, sie würde es nicht verstehen, aber das hier ist nicht sein Leben, er muss auch einmal an sich denken.
Widerwillig schließt er die Tür zum Appartement auf. Der Schlüssel hakt.
Sie hat ihn immer geliebt. Sie hängt auch immer noch an ihm, das macht ihm zu schaffen. Man kann auch zu sehr geliebt werden.
„So, da bin ich!“, sagt er. Geruch von heißem Kaffee strömt ihm entgegen.
Er kommt von einer dreiwöchigen Geschäftsreise. So lang war er noch nie von ihr getrennt, denkt er sich. Oder? Doch es waren die schönsten drei Wochen seines Lebens.
„Ich bin in einen Stau gekommen. Man soll freitags eben nicht reisen.“
„Wärest du noch einen Tag später gekommen, hätte ich es wahrscheinlich nicht überlebt.“ Sie kommt aus der Küche auf ihn zu und umarmt ihn. „Warum hast du denn die letzte Woche überhaupt nicht mehr angerufen?“ Sie hilft ihm aus dem regennassen Mantel und hängt ihn an die Garderobe neben der Tür.
31 Jahre lebt er jetzt schon hier in dieser Wohnung zusammen mit ihr. Er hat ihr sehr viel zu verdanken. Er ist ihr eine Menge schuldig, aber einmal muss man auch an sich denken sagt er sich. Er muss hier raus. Aber wie soll er es ihr erklären?
„Hat es dir denn gefallen, Walter? Setz dich erst einmal, Schatz! Ich habe Kaffee gemacht.“ Sie verschwindet wieder in der Küche.
Die Traumfrau seines Lebens... Nicht hier zu Hause! Auf der Reise, er hatte sie im Hotel kennengelernt. Er war sofort Feuer und Flamme. Die letzten drei Wochen hatten sie ihre gesamte Freizeit gemeinsam unternommen. Sie war noch sehr jung. Er liebt sie, dieses junge Ding. Aber empfindet sie auch etwas für ihn? Er ist sich sicher. Karola war plötzlich sein Ein und Alles im Leben.
Steif setzt er sich an den Holztisch in der engen Küche. Jetzt, oder nie! denkt er sich. Er muss es ihr sagen. Wenn er länger hier bei ihr bleibt, würde er eingehen.
„Du, ich muss mit dir reden...“, presste er heraus. Seine Stimme klingt unnatürlich.
„Hier ist der Zucker. Wir haben keine Dosenmilch mehr. Kannst du morgen etwas mitbringen? Ich bin heute überhaupt nicht in die Stadt gekommen, bei dem Mistwetter.“ Sie gießt ihm eine Tasse ein
Durch den Kaffeegeruch wird ihm übel. Er denkt an Karola. Sie war nicht schön, aber er fühlt sich magisch angezogen zu ihr. Die letzten Wochen hatten ihm ein Gefühl von Freiheit vermittelt, das er so noch nie vorher erfahren hat. Er schaut durch das kleine, fast blinde Fenster in den Oktoberregen. Es blitzt ab und zu. Der Wind fegt die Regentropfen gegen das Glas.
„Du hast mir so gefehlt, Walter. Du glaubst nicht wie einsam ich mich gefühlt habe... Ich sage es immer wieder, aber es ist so: Du bist mein ganzes Leben, Walter. Das einzige, was mir geblieben ist.“
Die Kaffeetasse zittert in seiner Hand. Er hatte es sich so einfach vorgestellt. Er lacht sich innerlich aus. An sich selbst denken... Das sagt sich so einfach! Er hat Mitleid mit ihr. Im letzten Jahr sind ihre beiden Schwestern gestorben. Bis heute hat sie sich nicht davon erholt. Und was würde passieren, wenn er sie jetzt verließe? Die alte Pendeluhr schlug neun. 31 Jahre, denkt er. Ein einziges Leben ist einfach zu kurz. Dieses hier war ein Leben für die Anderen. Aber wann kann er mal für sich leben?
Draußen donnert es.
„Hast du Hunger? Ich kann dir was heiß machen.“ Ihre Stimme klang alt.
„Ich habe an der Raststätte was gegessen“, erwidert er. Er ist müde und resigniert. Morgen würde er mit Karola telefonieren. War er glücklich darüber, Karola kennengelernt zu haben? Sollte er lachen oder weinen?
„Bleibst du noch auf?“ fragt sie. „Ich bin schrecklich müde. Ich muss schlafen gehen. Da bahnt sich glaube ich eine Erkältung an. Kein Wunder bei dem Wetter!“ Sie lacht. „Gute Nacht!“
Er sitzt jetzt allein in der Küche, und schaut aus dem Fenster in die Dunkelheit.
„Gute Nacht, Mutter!“ ruft er ihr hinterher.
Es hat aufgehört zu regnen.