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Rückkehr
Der Klang des Weckers bohrt sich in meine Träume. Einige übriggebliebene, wirre Gedankenfetzen schwirren noch etwas um das kühle Piepen herum, unwillig den Platz zu räumen.
Ich überschreite die Linie, liege wieder in meinem Bett. Alles ist wieder da, steht an seinem Platz, so wie es sich gehört.
Ich liege noch etwas unwillig herum, wühle mich dann aus dem Bett, das mich vor dem Alltag schützt und stehe mitten drin, in der Welt.
Ein erneuter Kampf rüstet sich eigenständig, vermischt Erinnerungen mit gespiegelten Eindrücken und ist bereit, es mit dem Tag aufzunehmen, gleichgültig schließe ich mich ihm an. Eine Wahl habe ich nicht.
Ich beobachte ihn. Jeden einzelne seiner Atemzüge fange ich ein. Ich schmiege mich um ihn. Er kommt wieder. Immer wieder.
Aber ebenso oft verlässt er mich auch. Noch hat er es nicht verstanden, aber wir haben genügend Zeit.
Er wird es begreifen und dann wird er mich nie mehr verlassen. Ich warte auf ihn und werde ihn nicht drängen. Am Ende werden wir zusammen sein, das wissen wir beide.
Jeder Tag hat für mich dieselbe logische Reihenfolge. Ich hasse diese monotone Regelmäßigkeit und bin doch selbst nicht in der Lage sie zu durchbrechen.
Früher habe ich noch gekämpft. Mein Herz hat gegen geschlossene Türen gepoltert, wie ein erfolgloses Mitglied der Zeugen Jehovas: An jeder neuen Tür wurde es abgewiesen.
Und nach und nach wurde es kälter.
In Namibia dachte ich noch, ich könnte etwas bewegen. Ich war wirklich der Meinung, dass das was ich tat Sinn hatte!
Später wurde mir klar, dass ein paar Kinder, die lesen und schreiben können den Gang der Welt nicht umkehren.
Als ich mich anziehe, sehe ich das Fenster. Halb hinter dem Schrank versteckt, hätte ich es fast nicht bemerkt. Eine kleine Scheibe aus milchigem Glas. Verschwommene Umrisse bewegen sich dahinter. Es hat keine Bedeutung für mich, es wird nur ein neuer Teil meines Seins. Vielleicht war es ja auch schon gestern dort oder seit zwei Jahren und ist nie bis in mein Bewußtsein gekrochen. Durch die milchige Scheibe dringt ein käglicher Schimmer. Kein wirkliches Licht, nur eine Ahnung davon.
Helligkeit gibt es hier nur elektrisch und künstlich, von Menschen erzeugt.
Menschen wie ich, die ihre Aufgabe erfüllen und keinen Sinn darin wiederfinden.
Etwas wächst in mir. Ich sträube mich dagegen und noch habe ich genug Kraft, es nicht zuzulassen. Aber es ist stark und er hat es schon bemerkt. Noch misst er ihm keine Bedeutung bei.
Ich habe ihn schon fast soweit, dagegen kann es nichts tun. Er bleibt jedesmal ein bischen länger und geht unter inneren Kämpfen. Er möchte bleiben, bei mir.
Seine eigene Vernunft lässt nach, weil sie nicht mehr weiß, woran sie festhalten soll. Bald wird er sich von ihr trennen. Ganz und gar. Für immer.
Das Licht hat sich der Welt schon entzogen, als ich den Raum wieder betrete. Es war heute anstrengend, Menschen, Bewegungen und Töne haben an mir gezerrt.
Sinnlose Fragen nach ausruckslosen Zahlen schwingen in meinem Kopf nach. Statistiken und Kennzahlen habe ich irgendwie zusammengefegt, so dass sie den anderen gefallen. Wichtige Entscheidungen wurden getroffen, die für mich ebenso bedeutungslos sind wie die Menschen, die sie betreffen.
Dem Fenster schenke ich nur kurz Beachtung und denke mir nichts dabei, dass sich scharfe Konturen abbilden. Vielleicht habe ich sie schon gestern gesehen. Es ist da, genau wie ich. Mehr zählt in diesem kurzen Augenblick nicht.
Es wird größer und größer. Ich muss meine ganze Energie dagegen aufwenden. Ein ständiges Dehnen und Bohren durchströmt mich. Manchmal macht es sich nur durch fast unhörbares Knistern bemerkbar und manchmal rasselt es giftig und aggressiv wie eine Klapperschlange.
Noch hat es nicht gewonnen.
Der Wecker, schon wieder. Zu kurz ist der Schritt hinüber und zu schnell holt der Wecker mich zurück. Irgendetwas ist anders heute morgen. Ich bin mir nicht sicher, woran es liegt, spüle den Gedanken im Waschbecken hinunter. Zufällig wandert mein Blick zum Spiegel, ich habe schon seit langer Zeit nicht mehr hineingesehen aus Angst, ich würde es nicht ertragen.
Ich starre in die unbekannten, braunen Augen. Ihr Blick ist aggressiv, ich kann ihnen nicht standhalten. Aber ich weiß, dass sich Zerbrechlichkeit in ihnen versteckt hält und eine Spur Sanftheit, die weit zurück gedrängt wurde.
Mein Blick wandert zum Fenster. Es nimmt einen Großteil der Wand neben dem Schrank ein und die Scheibe wirkt leicht beschlagen. Umrisse von Häusern und ein schwacher Sonnenschein zeichnen sich dahinter ab.
Es durchzieht mich wie ein Geschwür. Lange werde ich nicht mehr standhalten können. Es beherrscht mich mit einem ununterbrochenen Dröhnen.
Ich muss mich jetzt ganz auf ihn konzentrieren. Er ist mein letztes Ziel.
Als ich zurück bin von meinem Streifzug durch den Tag, sehe ich aus dem Fenster, so, als wäre es ein alte, sich ewig wiederholende Gewohnheit. Es gibt viele Fenster, hinter den meisten ist es dunkel, hinter einigen brennt elektrisches Licht. Lange Zeit blicke ich hinaus. Nach und nach werden die Fenster dunkel, nur hinter einem sehe ich einen flackernden Schein. Jemand hat eine Kerze entzündet.
Zu stark ist es! Es dröhnt, hämmert und bohrt. Ich weiß nicht, wo er ist und was er tut.
Zufriedenheit breitet sich in mir aus, drängt die Melancholie ein Stück beiseite.
Zufriedenheit?
Oder doch nur ein seichter Anflug von Selbstbetrug?
Der ferne Schimmer einer Kerze trügt nicht. Und langsam nehme ich die neue Regung an.
Es ist vorbei.
Am morgen öffne ich das Fenster weit – noch ehe der Wecker mich in den Tag zwingt. Ich kann mein Gesicht sehen, gespiegelt im durchsichtigen Glas eines geöffneten Fensters. Ich sehe Augen, die Schmerz ausdrücken. Und ich sehe ein leichtes Funkeln, dass mich anspornt, die Herausforderungen des Alltags anzunehmen.